Fächertraum - Oskar Lindts fünfter Fall

von: Bernd Leix

Gmeiner-Verlag, 2009

ISBN: 9783839233887 , 256 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Fächertraum - Oskar Lindts fünfter Fall


 

1


»Wieso immer im Herbst?« Oskar Lindt hielt seinem Kollegen die Tageszeitung hin: »Heute schon wieder zwei Seiten.«

»Brauchst doch nur rauszuschauen«, antwortete Paul Wellmann. »Vielleicht stirbt es sich bei diesem trüben Nebelwetter einfach leichter.«

»Oder besser?«

»Oder schneller oder lieber, was weiß ich, Oskar.«

Ein intensiver Blick auf die Anzeigen mit dem schwarzen Rand gehörte neben der ersten Pfeife und dem ersten großen Milchkaffee des Tages zum festen Ritual des Leiters der Karlsruher Mordkommission.

»Hier, einer unserer Kunden. ›Plötzlich und unerwartet‹ … Ein Glück, dass ihn die Sanitäter schon abgeschnitten hatten. Je älter ich werde, umso schwerer fällt mir der Anblick.«

Auch Paul Wellmann wurde nachdenklich: »Noch vor zehn Jahren hat es mir nicht viel ausgemacht. Ein Routinefall halt. Suizid, was solls. Keine Fremdeinwirkung festzustellen, also Aktendeckel zu, Leiche freigegeben, erledigt.«

»Und heute?«, fragte Jan Sternberg, der Jüngste im Kommissariat, und angelte sich den Sportteil der Zeitung.

»Hmm«, Wellmann schwieg und schaute zu Lindt.

Der verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und blies eine mächtige Rauchwolke aus dem Mundwinkel. »Also, wenn ich ehrlich sein soll …«

Die Augen seiner Kollegen richteten sich auf den Chefermittler.

»… vor vier Wochen ungefähr, ja, in der Nacht, als die Uhr wieder auf Winterzeit gestellt wurde …«

»Hast du davon geträumt?«


Lindt nickte und bekam einen merkwürdig glasigen Blick. »Erinnerst du dich, Paul? Ziemlich lang schon her. Ein eiskalter Wintertag. Der alte Kopp war hier noch der Chef, da hat er uns beide an die Alb geschickt, dort, wo sie durch den Rüppurrer Friedhof fließt.«

Paul zuckte zusammen: »Die Ertrunkene im Pelz?«

»Siehst du sie vor dir? Wie sie im Wasser trieb?«

Wellmann rieb sich die Augen: »Auf dem Rücken, ein Arm in einer Wurzel verfangen. Vornehmes schwarzes Kleid, die Schuhe schon vom Wasser mitgenommen.«

»Und der Mantel? Weißt du noch?«

»Persianer, ja, natürlich genauso schwarz, offen, ausgebreitet.«

»Und die Strömung bewegte ihn hin und her.«

Wellmann schluckte. »Davon hast du geträumt?«

Lindt schüttelte den Kopf. »Nicht, wie sie im Wasser lag, sondern wie sie über den Friedhof ging. Nein, sie schwebte eher. Ihr schwerer Pelz flatterte weit offen im Wind. So leicht, als wäre er ein dünner Sommermantel.«

»Die Frau war schon ziemlich alt. Einer unserer Kollegen von der Streife hat sie doch gekannt und nur gemeint: ›Mit 85 geht man nicht mehr ins Wasser! Die hätt auch vollends warten können.‹«

Jan Sternberg begann zu grinsen, doch Wellmanns Gesichtsausdruck war erstarrt.

»Damals haben wir über diesen blöden Spruch auch gelacht.«


»Das lange weiße Haar hatte sie gelöst. Könnt ihr euch das Bild vorstellen?«

Keiner sagte etwas.

»Sogar Carla ist aufgewacht, so abrupt bin ich hochgeschreckt. Eigentlich wollte ich es niemandem erzählen …«

 

Das dünne Schulheft, das seither auf seinem Nachttisch lag, erwähnte Oskar Lindt nicht. Dass er schon siebenmal hineingeschrieben hatte, behielt er ebenfalls für sich. Morgens packte er es weg. Manches erzählte er Carla, aber sie sollte es nicht lesen.

»Was sagt denn die Statistik?«, unterbrach Jan die Stille. »Sterben im Herbst wirklich mehr Leute? Ich könnt ja mal bei der Zeitung anrufen, ob sie im Mai auch täglich zwei Seiten mit den schwarzen Anzeigen füllen.«

Lindt seufzte. »Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, aber unser Jahrgang, Paul, wird jetzt immer häufiger aufgerufen.«

»Du meinst, die Einschläge kommen näher?«


»Wie hoch war noch mal die durchschnittliche Lebenserwartung im Polizeiberuf?«

Empört fuhr Sternberg auf: »Was soll die Angstmache? Ihr beide habts ja bald geschafft, aber wo bleibt die Perspektive für mich?«

Das Telefon ersparte Oskar Lindt die Antwort. Er notierte eine Adresse und schob sie Paul Wellmann hin: »Fahrt bitte rüber in die Augartenstraße. Der Notarzt hat Zweifel an einer natürlichen Todesursache. Weiblich, 86.«

Als Paul und Jan gegangen waren, stopfte sich der Leiter der Mordkommission eine neue Pfeife, zog ein kleinformatiges Schulheft aus seiner Gesäßtasche und begann, darin zu blättern.

Schon nach wenigen Minuten steckte er es zurück. Eine seltsame Unruhe hatte ihn ergriffen. Fast bereute er, nicht selbst in die Südstadt gefahren zu sein, doch kurz entschlossen wählte er die Nummer der Zentrale, meldete sich ab – ›bin unterwegs‹ – holte sein altes Damenrad aus dem Keller und trat kräftig in die Pedale.

Am Stadtgarten entlang nahm er die Beiertheimer Allee und dann die Bahnhofstraße, kaufte im Hauptbahnhof ein neues Döschen Presstabak und eine Butterbrezel, unterquerte die Schienen und erreichte nach einer Viertelstunde im Bummeltempo den Friedhof des Stadtteils Rüppurr.

Der Kommissar kettete sein Rad an eine Straßenlaterne, zündete die Pfeife wieder an, kaute rauchend ab und zu ein Stück Butterbrezel und begann, zwischen den Gräberreihen umherzugehen.

Unschlüssig, ziellos – was wollte er eigentlich hier? Was suchte er? Wie von selbst hatte ihn sein altes Rad hergetragen. Der Traum? Die Erinnerung? Er fühlte sich irgendwie fremdgesteuert.

Immer wieder machte er halt und schaute sich um. Die großen alten Bäume standen seit den ersten Nachtfrösten nackt und kahl. Eine Stimmung fast wie damals, nur nicht so kalt.

Kurz nach halb neun, und immer noch schien es nicht ganz hell zu sein. Der seit Tagen gleich düstere bleigraue Hochnebel drückte. Er drückte auch auf Lindt, der seine Hände tiefer in die Jackentaschen schob, den Kragen hochschlug und mit gesenktem Blick weiterwanderte.

Vor einer dunklen Grabplatte blieb er stehen. ›Unvergessen‹, der Name einer jungen Frau. Er musste nicht nachdenken. Ehemann im Vollrausch, die abgesplitterte Bierflasche hatte ihre Halsschlagader aufgerissen. Verurteilt wegen Totschlags. Zwei Jahre sitzt er noch. Die Kinder? Lindt ging weiter.

Außer ihm war kein Mensch zu sehen. Zwei Gräber nebeneinander. Zweimal Suizid, beide Männer damals um die 60. Der eine ging mit dem Strick auf den Dachboden, der andere folgte seinem Beispiel zwei Straßen weiter und 14 Tage später. Er nahm den Firstbalken des Holzschuppens. Krank? Der Kommissar zog seinen Kopf noch ein Stück weiter ein und spürte, dass es nun genug war.

Entschlossen machte er kehrt, hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Einmal sah er doch nach oben. Der Ort aus seinem Traum? Vorne eine schmale Gestalt im schwarzen Mantel. Lindt konnte sich nicht rühren. Weiße Haare, wehende Haare! Er riss die Augen auf. Nein, nur ein langes helles Kopftuch. Wo war bloß der Ausgang?

Verfolgt mich die Vergangenheit jetzt auch schon am Tage?

Die Gräber trugen noch die Kränze, Schalen und Gestecke von Allerheiligen. Hier und da ein ewiges Licht.

›Wenn auf den Gräbern aller Ermordeten ein Lichtlein stünde‹, hatte er neulich gelesen, ›dann wären die Friedhöfe hell erleuchtet!‹

Der Leitende Oberstaatsanwalt war bei der letzten großen Besprechung anderer Meinung gewesen: ›Immer dieses populistische Gerede von der hohen Dunkelziffer‹, hatte er gemäkelt. ›Fangen Sie bloß nicht damit an, jede alte Oma wegen ein paar blauer Flecken gleich in die Rechtsmedizin zu schicken. Dafür haben wir nun wirklich kein Geld.‹

Die internationale Statistik sprach dagegen, und Lindt wusste es: In Ländern mit mehr Obduktionen werden nachweislich mehr Verbrechen aufgedeckt. Hätte er es dem hoch dotierten Juristen entgegenhalten sollen? Konfrontation? Gegen das System? Wenig sinnvoll – er kannte bessere Wege zum Ziel. Außerdem träumte er ja von Fällen, die er bearbeitet hatte, und nicht von unentdeckten Verbrechensopfern.

»Tag, Herr Lindt.« Der Kommissar schreckte aus seinen Gedanken hoch und erkannte eine frühere Nachbarin – ein paar Jahre in der Oststadt im selben Haus. »Der Anton liegt gleich dort hinten.«

»Ist das schon zwei Jahre her?« Damals, kurz vor Weihnachten, hatte er bei der morgendlichen Zeitungslektüre den Namen seines ehemaligen Nachbarn entdeckt. Das Schreiben von Trauerkarten war Carlas Sache. »Kommen Sie zurecht?«

»Ich muss, Herr Lindt, ich muss. Wir waren ja kaum umgezogen, als es passierte. Beim Nachtessen, das Herz, einfach so.«

Der Kommissar drückte der Frau die Hand. Eiskalt, erschrak er. Der leichte Anflug eines feinen fiesen Grinsens in ihrem Mundwinkel? Einbildung! Oder?

Früher war es bei denen in der Wohnung oft laut geworden, und die Frau kam manchmal tagelang nicht raus. Lindt traute sich nicht, noch mal in ihr Gesicht zu sehen.

Schnell ging er weiter. Jetzt war er wirklich bedient mit Begegnungen auf dem Friedhof. Ein Frösteln durchzog ihn. Komisch, vorhin war ihm noch nicht kalt gewesen. Nicht mal an den Händen am Lenker hatte es ihn gefroren, aber jetzt …

Er kettete sein Rad los und schwang sich auf den Sattel. Ein Blick zurück zur Alb. Langsam strömte das Flüsschen dahin. Eigentlich nicht tief, aber wenn man untertauchte und lange genug im kalten Wasser blieb – für die Frau im Persianer hatte es damals jedenfalls gereicht.

Das alte Damenrad ächzte, so schnell und energisch trat Lindt in die Pedale. Langsam wurde ihm wieder warm.

...