Die Kunst der Gestalttherapie - Eine schöpferische Wechselbeziehung

von: Margherita Spagnuolo Lobb, Nancy Amendt-Lyon

Springer-Verlag, 2006

ISBN: 9783211357200 , 355 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 109,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die Kunst der Gestalttherapie - Eine schöpferische Wechselbeziehung


 

Eine Therapiesitzung: Dialog und Kokreation in der Kindertherapie (S. 230-231)

Sandra Cardoso-Zinker

Stellen Sie sich einen zerbrechlichen, kleinen Jungen vor, der in der Ecke eines Wartezimmers auf dem Fußboden sitzt und Zeitschriften anguckt. Er ist allein. Drei Jahre alt. Ich werde Ihnen seine Geschichte erzählen. Zunächst gedenke ich, ein paar grundsätzliche theoretische Gedanken mit Ihnen zu erörtern. Ich werde im Text zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht alternieren, weil ich weder dem einen noch dem anderen den Vorzug geben will.

I. Gestalttherapie und menschliches Wachstum

1951 haben Perls, Hefferline und Goodman das menschliche Wachstum in folgendem Kontext erwähnt:

Das Feld als Ganzes strebt nach Vervollständigung, Erreichen des einfachsten Gleichgewichts, das auf der jeweiligen Stufe des Feldes möglich ist. Da aber die Bedingungen stets wechseln, ist das erreichte Partialgleichgewicht immer wieder ein neues, in das man hineinwachsen muss. Der Organismus erhält sich nur, indem er wächst. Selbsterhaltung und Wachstum sind Pole auf einem Kontinuum, denn nur, was sich erhält, kann durch Assimilation wachsen, und nur, was immer wieder Neues assimiliert, kann sich erhalten, ohne zu degenerieren. Dies also sind die Stoffe und Energien des Wachstums: das konservative Bestreben des Organismus zu bleiben, wie er ist, die neue Umwelt, die Zerstörung früherer Partialgleichgewichte und die Assimilation neuer Stoffe (Perls et al., 1997, S. 166 f ) .

Ein Kind ist zum Wachstum geboren. Diese optimistische Auffassung vom Menschen hat meine Arbeit grundlegend geprägt. Eine Klientin unter der Aussicht aufzunehmen, dass sie auf dem Weg zu einem neuen Platz im Leben ist, egal, wie das geschehen wird, macht mich frei, mit ihr in Kontakt zu treten. Es gibt kein bestimmtes Ziel zu erreichen. Meine Aufgabe besteht darin, das Erleben meiner Klientin in einen lebendigen Dialog zwischen ihr und allem, was zu ihrer Beziehungswelt gehört, überzuführen.

Wir sind in ständigem Wandel begriffen. Perls, Hefferline und Goodman schreiben:

Der Kontakt, das heißt die Arbeit, die in Assimilation und Wachstum ihr Ergebnis hat, erschafft sich eine anregende Figur auf dem Hintergrund des Organismus/Umwelt-Feldes. Diese Figur (oder: Gestalt) der bewussten Wahrnehmung ist klar und lebendig, ob als Vorstellung, Bild oder als Einsicht, … Die Erschaffung von Figur und Hintergrund bedeutet einen dynamischen Prozess, in dem die Notwendigkeiten und die Hilfsquellen des Feldes der Spannung, Leuchtstärke und Macht der beherrschenden Figur ihre Kräfte verleihen (ibid., S. 13 f).


Wir stehen mit der Umwelt kontinuierlich in Beziehung. Jedes Kind verfügt über seine einzigartige Weise, Erfahrung zu assimilieren, was zugleich eine einzigartige Weise, auf die Außenwelt zu reagieren, hervorbringt. Wie Gary Yontef es beschreibt: „Die schöpferische Anpassung ist eine Beziehung zwischen einer Person und der Umwelt, in welcher die Person [1] ihren Lebensraum verantwortungsvoll kontaktiert, anerkennt und bewältigt und [2] Verantwortung für die Schaffung von Bedingungen übernimmt, welche ihrem Wohlbefinden förderlich sind" (1993, S. 195)1.

Diese Grundideen der Gestalttherapie stehen mit dem dynamischen Fluss des Kontakts und des Kontaktherstellens in Beziehung. Unser elementares In-Kontakt- Sein geht über die Erfahrung des Lebens vonstatten. In unserer Arbeit achten wir darauf, wie die Energie unseres Klienten in Bezug auf den Erfahrungsaustausch mit anderen und der Welt fließt. Ist die Energie kraftvoll und farbenfroh, gibt es Wachstum. Manchmal wird diese Energie jedoch von Erlebnissen beeinflusst, die negativ assimiliert werden und die Energieinvestition in neue Erfahrungen lähmen oder schwächen. So einem Moment mangelt es an spontaner Kreativität, und das Gewahrsein ist eingeschränkt. Das Kind wird gegenüber seinen eigenen Empfindungen und Gefühlen desensibilisiert. Die verschiedenen Möglichkeiten, die das Feld bereithält, um die Bedürfnisse eines Kindes zu erfüllen, werden nicht bemerkt oder vorzeitig fahren gelassen. Sogar die Erfahrung von Schmerz und Mühe, welche die Vitalität unseres Antriebs mobilisiert, wird vertan. Das Gefühl, ganz da zu sein, kommt zum Erliegen. Ein Kind braucht Hilfe und Unterstützung, um den Energiefluss, welcher es konstant in Bewegung und am Wachsen hält, wiederherzustellen. Bei dieser Gelegenheit braucht das Kind die Erfahrung eines findigen Therapeuten, der seine Klientin so weit zu stimulieren vermag, dass sie ihre Umwelt in Lebendigkeit und mit vermehrter Neugierde erlebt:

Der kreative Therapeut sieht den Klienten in seiner Ganzheit: seine Plastizität und Rigidität, seinen Scharfsinn und seine Dummheit, er sieht Fließen und Stocken, kognitive Exaktheit und Leidenschaft. Der kreative Therapeut ist ein Choreograph, Historiker, Phänomenologe, jemand, der den Körper studiert, ein Dramatiker, ein Denker, ein Theologe, ein Visionär (Zinker, 1990, S. 27).