Wege aus dem Dunkelfeld - Aufdeckung und Hilfesuche bei sexuellem Missbrauch an Jungen

von: Peter Mosser

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2009

ISBN: 9783531913643 , 323 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 35,96 EUR

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Wege aus dem Dunkelfeld - Aufdeckung und Hilfesuche bei sexuellem Missbrauch an Jungen


 

6. ERGEBNISTEIL B « PROZESSKATEGORIEN UND VERLAUFSTYPEN (S. 236-237)

6.1. Geschwindigkeit

Die Schilderungen der Interviewpartner enthalten eine Reihe von Hinweisen darauf, dass die Geschwindigkeit, in der die Aufdeckungs- und Hilfesuchprozesse vonstatten gehen, einen erheblichen Einfluss auf das subjektive Erleben sowohl der Betroffenen als auch ihrer Eltern hat. Zunächst unterscheiden sich die beschriebenen Fälle in der Latenzzeit, die zwischen den ersten Missbrauchshandlungen und der Aufdeckung vergeht.

Diese erstreckt sich in einem Bereich zwischen wenigen Minuten (Rainer) und fünf bis sieben Jahren (Erich, Ralf ). Die Jungen unterscheiden sich also darin, wie lange sie einen erlebten sexuellen Missbrauch geheim halten oder abspalten mussten. Anders formuliert heißt dies, dass die beschriebenen Missbrauchssysteme unterschiedliche Zeiträume zu ihrer Entfaltung zur Verfügung hatten. Es wird deutlich, dass die Fälle von Rainer und Lothar in vielerlei Hinsicht anders verlaufen als die übrigen: Die beiden Jugendlichen reagieren schnell und unterbinden auf diese Weise die Entwicklung der für die Verstrickung innerhalb eines Missbrauchssystems typischen Dynamiken (Ängste, mangelnde Bewusstheit durch Abspaltung, Schuld, Probleme der Zugehörigkeit).

Ein wesentliches Charakteristikum der Aufdeckung besteht darin, dass sich in kurzer Zeit Entscheidendes verändert. Wenn ein über Jahre verborgenes Geheimnis plötzlich gelüftet wird, tre.en auch völlig verschiedene Formen des Zeitemp.ndens aufeinander: Ein zum Teil sehr umfassender Abschnitt der Biographie der Jungen wird in der zeitlich komprimierten Situation der Aufdeckung zur Disposition gestellt. Mit der Aufdeckung endet für die Jungen etwas, nämlich die Verstrickung im Missbrauchssystem sowie die Geheimhaltung. Für die, die informiert wurden [zumeist die Eltern(teile)] beginnt etwas: Der Versuch der Rekonstruktion eines wesentlichen biographischen Abschnitts ihrer Söhne.

Betroffene Söhne und ihre Eltern bewegen sich gleichsam in zwei entgegengesetzten Richtungen um die Vergangenheit des sexuellen Missbrauchs: Die einen bewohnten gewissermaßen diesen geheimen Ort und verlassen ihn nun durch das Zeitfenster der Aufdeckung. Die anderen nutzen dieses Fenster, um diesen erschreckenden Raum zu erkunden. Im Kommunikationsstil der dosierten Aufdeckung findet das Aufeinandertreffen verschiedener Geschwindigkeiten seinen Ausdruck (Erich, Markus, David, Ralf, Christian, Klaus): Die Eltern beschleunigen. Sie werden angetrieben von ihrem Bedürfnis nach Aufklärung. Sie wollen so schnell wie möglich „Licht in die Sache" bringen, Unklarheiten beseitigen. Die Jungen bremsen. Sie loten das Mindestmaß an Information aus, das notwendig ist, um den sexuellen Missbrauch zu bestätigen, ohne das Ausmaß und die Form ihrer Betro.enheit o.en legen zu müssen.

Fast alle Aufdeckungsszenen beinhalten dieses Muster aus Beschleunigung und Verlangsamung. Dieses findet sich sowohl in der sozusagen mikroskopischen Szene des ersten Aufdeckungsdialogs (Erich, Klaus) als auch in der daran anschließenden innerfamiliären Kommunikation (Markus, David, Klaus, Ralf ). In dieser Situation geht es um elementare Entscheidungen: Sind die Eltern in der Lage Rücksicht zu nehmen auf die Geschwindigkeit ihres Sohnes (siehe z. B. Frau H., die ihren Sohn zum Fußballspielen schickt)? Kann durch diese zentrale Form der Rücksichtnahme Zugehörigkeit angeboten werden?