Das Depressions-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe - Menschen mit Depressionen gekonnt pflegen und behandeln

von: Thomas Schoppenhorst, Stefan Jünger

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456956084 , 356 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 26,99 EUR

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Das Depressions-Buch für Pflege- und Gesundheitsberufe - Menschen mit Depressionen gekonnt pflegen und behandeln


 

1 Dimensionen eines allgegenwärtigen Begriffs (S. 21-22)

1.1 Psychosoziale und neurobiologische Dimensionen der Depression
Heinz Böker

1.1.1 Einleitung

Aufgrund der Heterogenität der depressiven Symptomatik, der unterschiedlichen Verläufe und der psychiatrischen und somatischen Komorbidität werden depressiv Erkrankte in den unterschiedlichsten therapeutischen Settings behandelt. Gerade auch im Hinblick auf die Differenzialindikation und die in jedem Einzelfall anzupassende therapeutische Intervention ist ein Modell der Depression erforderlich, das es ermöglicht, die unterschiedlichen biologischen, neurobiologischen, psychologischen und sozialen Dimensionen der Depression aufeinander zu beziehen und zu gewichten. In diesem Zusammenhang wurde das Modell der Depression als Psychosomatose der Emotionsregulation entwickelt. Dessen Weiterentwicklung unter Berücksichtigung aktueller neurowissenschaftlicher Befunde, unter anderem der hohen Ruhezustandsaktivität bei Depressionen, wird als neuropsychodynamische Perspektive in der Depressionsforschung und -behandlung aufgezeigt.

Eine räumlich-zeitliche Psychopathologie depressiver Symptome wird entwickelt. Auf die Bedeutung der Störungen des Selbst und deren therapeutische Implikationen wird am Ende dieses Beitrags näher eingegangen.

1.1.2 Depressionen als Psychosomatosen der Emotionsregulation

Die Vielgestaltigkeit depressiver Syndrome erfordert die Entwicklung eines Depressionsmodells, das es ermöglicht, die in jedem Einzelfall unterschiedlich akzentuierten biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zu berücksichtigen, die Wechselwirkungszusammenhänge zu erfassen und klinisch relevante Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen.

So hat beispielsweise Edith Jacobson (1971) bereits vor Jahrzehnten für einen «multifaktoriellen psychosomatischen Ansatz» plädiert, insbesondere auch im Hinblick auf die von ihr so genannte «einfache Depression», die abgelöst sei von den Inhalten.

Die Faktoren eines solchen somatopsychischpsychosomatischen Depressionsmodells sollen im Folgenden kursorisch dargestellt werden. Als biologische Zugangswege zur Depression sind dabei die Forschungsergebnisse der Genetik, der Neurochemie, der Neurorezeptorenforschung, der Neurophysiologie, Erkenntnisse um die Bedeutung der Nervenwachstumsfaktoren, der Dysfunktion der Stressachse und der Schilddrüsenfunktion, ferner der Chronobiologie und der Erkenntnisse der Schlafforschung (Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus) zu berücksichtigen. Wesentliche Marksteine der Depressionsforschung werden in Tabelle 1.1-1, S. 22 zusammengefasst.

Für eine vertiefende Darstellung der Detailbefunde sei auf Übersichtsarbeiten und Lehrbücher der Psychiatrie verwiesen. Trotz der deutlichen Zunahme bemerkenswerter biologischer und neurobiologischer Befunde ist auch heute noch davon auszugehen, dass es bisher kein geschlossenes Modell der somatischen Ätiopathogenese der Depression gibt. Als wesentliche Faktoren sind die Neurotransmitterdysbalance, die Endokrinologie (insbesondere Dysregulation der Stressachse), die Störung der Neuroneogenese, chronobiologische Faktoren und hirnfunktionelle, teilweise auch hirnstrukturelle Störungen anzusehen. Vor diesem Hintergrund erhält das Modell der somatopsychischen-psychosomatischen Zirkularität seine Aktualität. Ferner wird die Bedeutung weiterer für die Abklärung der Varianz notwendiger Faktoren unterstrichen. Dazu zählen insbesondere psychosoziale Faktoren, deren Erforschung in den vergangenen Jahren tendenziell in den Hintergrund gerückt ist. Es lohnt sich, auf die Ergebnisse früherer epidemiologischer Studien, die Life-Event-Forschung, die Social-Support-Forschung und die Persönlichkeitsforschung bei depressiv Erkrankten zurückzublicken. Kendler et al. (1993) konnten an einer großen Stichprobe (680 Zwillinge!) eine Reihenfolge der Prädiktoren depressiver Episoden aufzeigen:

1. belastende Lebensereignisse
2. genetische Faktoren
3. frühere depressive Episoden
4. Neurotizismus (Persönlichkeitsfaktor: «ängstliche Abhängigkeit»).

Die Ergebnisse der früheren Life-Event-Forschung bei Depressionen (Paykel/Dowlatshahi, 1988) unterstrichen, dass vor Ausbruch der Depression wesentlich mehr Life-Events auftreten als bei anderen psychischen Störungen. Bei etwa drei Viertel handelt es sich um Trennungsund Verlustereignisse. Es zeigte sich ferner, dass die Anzahl belastender Lebensereignisse in den Wochen vor Beginn der Depression deutlich zunimmt. Bemerkenswert war aber auch, dass sich in einer Untergruppe (ca. 20 %) keinerlei Hinweise auf Life-Events im Vorfeld der Depression fanden!

Die Social-Support-Forschung untersuchte die Stützfunktion sozialer Beziehungen und die psychosozialen Ressourcen depressiv Erkrankter: Es zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, geringer ist, wenn sich die Patientinnen und Patienten sozial eingebunden fühlen (Röhrle, 1989). Eine wesentliche Dimension im Depressionsgeschehen stellt die der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsstörungen bei depressiv Erkrankten dar: Im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen findet sich eine hohe Komorbiditätsrate (35–65 %, Sass/Jünemann, 2003; Corruble et al., 1996). Komorbide Persönlichkeitsstörungen bei Depressionen erhöhen das Suizidrisiko und tragen zu einer ungünstigeren Prognose (Chronifizierung, Rezidivrisiko) bei (Alnaes/ Torgersen, 1997). Prognostisch bedeutsam ist insbesondere die Kombination von Neurotizismus, lang anhaltenden, schwierigen Lebensumständen und belastenden Lebensereignissen (Ormel et al., 2001). Parker (2000) beschrieb das Vorherrschen eines ängstlichen Persönlichkeitsstils bei depressiv Erkrankten.