Im Computerspiel bin ich der Held'. Wie virtuelle Welten die Identitätsentwicklung von Jugendlichen beeinflussen

von: Melanie Raschke

Diplomica Verlag GmbH, 2007

ISBN: 9783836603652 , 110 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 33,00 EUR

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Im Computerspiel bin ich der Held'. Wie virtuelle Welten die Identitätsentwicklung von Jugendlichen beeinflussen


 

Kapitel 4.5, Das Individuum als Rollenspieler:

Verschiedene Theorien erläutern die Darstellung der Identität des Individuums als aktive Aufgabe eines Rollenspiels. Die Grundlage entwickelte George Herbert Mead (1863–1931) mit seinen beiden Rollenaufgaben: „role-taking“ und „role-making“. Das „role-taking“ setzt sich aus der Übernahme antizipierter Sichtweisen und Erwartungen des Handelnden zusammen. Ein Beispiel: Die Jugendliche kennt die Reaktion der Mutter, wenn sie nach dem abendlichen Discobesuch verspätet zu Hause erscheint. Sie kann direkt die erwartete Rolle der unzuverlässigen Tochter übernehmen. Sie übernimmt also die Erwartungen, „role-taking“. Ferner kann sie ihre eigenen Identitätsentwürfe mit einbringen, die nicht deckungsgleich mit den Erwartungen der Mutter sein müssen. So gestaltet sie ihre eigene Rolle, „role-making“. Zum Beispiel erklärt das Mädchen seine Verspätung, die durch das Trösten der besten Freundin beim Liebeskummer entstanden ist. Es zeigt hierdurch zusätzlich sein soziales Verantwortungsbewusstsein.

Aus den Interaktionsmöglichkeiten des „role-making“ und „role-taking“ entsteht Meads Identitätsmodell. Dies besteht aus Self, me und I. Das Self, die sogenannte Identität, entsteht aus den beiden Größen me und I. Das me besteht aus den von anderen verinnerlichten Einstellungen, also aus „role-taking“. Während das I individuelle Antworten auf die Erwartungen besitzt, „role-making“. Krappmann führt diese Rollentheorie weiter aus. Er spricht von einer Identität, die wir aktiv in Interaktionen erhalten. Durch verschiedene internalisierte Verfahren pendeln wir zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen anderer hin und her. Auf der Grundlage unserer eigenen Biographie, die immer Unterschiede zur Lebensgeschichte von anderen aufweist, erhalten wir individuelle Identitäten. Die Interaktion bildet bei Krappmann die Basis der Theorie der „balancierende Identität“.

Das Individuum ist bemüht, in einer Interaktion seine eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Allerdings ist die Voraussetzung für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Interaktion die Miterfüllung der Erwartungen des Gegenübers. Dennoch führt eine vollständige Aufgabe der eigenen Erwartungen nicht zur Identität: Menschen, die vollständig die an sie gestellten Erfordernisse erfüllen, heben sich nicht mehr von dem entworfenen Bild der anderen ab. Sie besitzen keine einmaligen, individuellen Merkmale mehr, die sie als Individuum auszeichnen. Macht und Herrschaftsstrukturen, wie sie in totalitären Institutionen und in restriktiven Gesellschaften zu finden sind, verhindern ebenfalls die Bildung von Identitäten. Auch für den Machtinhaber selbst, da „[…] die Anerkennung seiner Erwartungen, die […] [ihn] einhol[(t)en], leer [sind]“.

Bei der ersten Kontaktaufnahme beschnuppern wir uns vorsichtig, wir schauen und hören, was unser Gegenüber erwartet. Die Individuen spielen Rollen aus den Vorausschauungen. Oft erfolgt die Erfüllung der Rollenerwartung durch die im Sozialisationsprozess erworbene Internalisierung der Erwartungen. Unsere Gesellschaft bietet ferner verschiedene Orientierungshilfen in Form von Symbolen wie Uniformen, Kleidung, Berufsbezeichnungen und Normen. Diese Einteilung der Menschen nach Vor-Urteilen, die aus dem ersten Eindruck entstehen, haben oftmals große Nachteile für den Einzelnen. Ein Jugendlicher im „Grufti“-Outfit wird von den Autoritätspersonen schneller als faul, eventuell depressiv oder aufsässig eingestuft, anders als das normal gekleidete Mädchen. „Der nächste Schritt besteht dann darin, dass das Individuum die Erwartungen, die es aus der möglichst adäquat erkannten Identität des Interaktionspartners ableitet, als der eigenen Identität nicht voll entsprechend darstellt“.

Als weitere wichtige Fähigkeit des Individuums in der Interaktion beschreibt Krappmann, angelehnt an Goffman, die Offenheit. Wer sich auf eine Identitätspräsentation, also auf eine eingenommene Rolle verlässt, kann schnell enttäuscht werden. Auch wenn die Rolle zuvor noch zum erfolgreichen Austausch verholfen hat, kann sie nun scheitern, da verpasst wird, die neuen Erwartungen aufzunehmen. Identität kann keine festgefahrene, lang bestehende Säule sein, sie ist biegsam und veränderbar. „Der Mensch muss somit in der Lage sein, diese ständig und immer wieder aufs Neue labile Situation in Interaktionsprozessen zu ertragen und zu gestalten“. Auch die zugeschriebenen Rollen oder Positionen einer Gesellschaft sind wandelbar. Jeder Nutzer einer Rolle gibt seine eigenen Potenziale, Meinungen und Bedürfnisse mit ein. Der Jugendliche, der neu in die Basketball-AG kommt, kennt neue Spieltaktiken, die er der Gruppe beibringt. Die Basketballgruppe entwickelt sich somit weiter und gewinnt von nun an bei Wettkämpfen. Die Jugendlichen, die zuvor nach verlorenen Spielen frustriert waren und oft in Aggressionsausbrüchen ihren Ärger herausgelassen haben, helfen nun beim Aufräumen der Turnhalle und feiern später gemeinsam den Sieg. Der Rollenträger des neuen Basketballspielers hat die Rollen der lautstarken, unzuverlässigen Basketballer positiv verändert.

Krappmann spricht vom Zwang der Spaltung der Persönlichkeit: Das Individuum muss in verschiedenen Rollen agieren beziehungsweise Teilidentitäten aufbauen, um an den unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Interaktionen teilnehmen zu können. Geraten also die von verschiedenen Bezugsgruppen gestellten Anforderungen an ein und dasselbe Individuum in einen Konflikt, wird von einem Intra-Rollenkonflikt gesprochen. Um mit den möglichen Verlusten seiner angestrebten Bedürfnisse umzugehen, nutzt das Individuum verschiedene Muster: Es kann die eigenen Bedürfnisse oder die der anderen ignorieren.

Virginia Satir, die sich als Humanistin und Familientherapeutin mit dem Sichtbarmachen der verschiedenen Rollen der Familienmitglieder und mit selbstverbergenden Kommunikationsformen befasst hat, beschreibt vier Verdrängungsmuster:

1. Wir können beschwichtigend auftreten und in Konflikten uns die Schuld geben, demnach werden unsere eigenen Erwartungen zurückgestellt.

2. Wir können die anderen beschuldigen, an einem Missverständnis schuld zu sein.

3. Wir rationalisieren die Aussagen des Gegenübers dahingehend, dass seine Erwartungen an uns nicht mehr bedrohlich sind.

4. Wir lenken von dem eigentlichen Thema ab und gehen damit nicht auf die Erwartungsangebote des Gegenübers ein.

Als Lösung nennt Satir die kongruente Kommunikation, in der die eigenen Gefühle und Gedanken beschrieben werden und somit ein Kompromiss der beiden Erwartungsträger angestrebt wird. Krappmann beschreibt in diesem Zusammenhang die Fähigkeit des Individuums, in seiner Identitätspräsentation eine Als-ob-Haltung anzunehmen. Es beugt sich so zunächst den Erwartungen seiner Interaktionspartner. Dabei bleibt das Individuum in seiner Haltung offen und kann seine Darstellung verändern."