Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlung

von: Sven Barnow (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456944067 , 432 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 35,99 EUR

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Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlung


 

3 Grundlagen der Messung von Persönlichkeitseigenschaften und Persönlichkeitsstörungen (S. 97-99)

(Manfred Schmitt &, Mario Gollwitzer)

3.1 Persönlichkeitsstörungen als hypothetische Konstrukte

Persönlichkeitsstörungen sind ebenso wie Merkmale der normalen Persönlichkeit hypothetische Konstrukte, die nicht unmittelbar erkennbar sind, sondern aus beobachtbaren Anzeichen erschlossen werden müssen. In der Psychopathologie bezeichnet man solche Anzeichen oder Indikatoren in Anlehnung an den medizinischen Sprachgebrauch als Symptome. Der erkenntnistheoretische Stellenwert von Symptomen einer Persönlichkeitsstörung ist identisch mit dem von Indikatoren einer normalen Persönlichkeitseigenschaft. In beiden Fällen handelt es sich um manifeste Sachverhalte, die der Beobachtung unmittelbar oder mit Hilfe eines Instruments zugänglich sind. Da Häufigkeit und Intensität dieser Sachverhalte zwischen und innerhalb von Personen variieren, spricht man von manifesten Variablen. Persönlichkeitseigenschaften und Persönlichkeitsstörungen hingegen sind latente Variablen, die aus den manifesten Variablen erschlossen werden. Sofern diese Schlussfolgerungen bestimmten Regeln folgen und Kriterien genügen, spricht man von Messen. Manifeste Variablen heißen in Mess- und Testtheorien auch Messvariablen, latente Variablen werden häufig auch als Dispositionen oder Faktoren bezeichnet.

Mit dem Begriff der Disposition wird zum Ausdruck gebracht, dass der Träger einer Disposition dazu neigt, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Während der Dispositionsbegriff meistens in einer deskriptiven Bedeutung verwendet wird, wird mit dem Begriff des Faktors in Anlehnung an die Experimentalpsychologie häufig eine kausale Bedeutung verbunden. Das heißt, es wird vermutet, dass das manifeste Verhalten durch eine biopsychosoziale Funktionseinheit verursacht wird, auch wenn diese (noch) nicht bekannt ist. Je nach theoretischer Auffassung wird eine Persönlichkeitsstörung somit als Tendenz beschrieben, das für sie als symptomatisch geltende Verhalten zu zeigen, oder als (noch) nicht bekannte Komponenten des Organismus interpretiert, die das symptomatische Verhalten erzeugen. Als symptomatisch für die paranoide Persönlichkeitsstörung gelten, beispielsweise Zweifel an der Echtheit der Zuneigung von Freunden (vgl. Kap. 1, Tab. 1.6), als symptomatisch für die zwanghafte Persönlichkeitsstörung übermäßige Planungs-, Ordnungs- und Kontrolltätigkeiten (vgl. Kap. 1, Tab. 1.15).

3.2 Multimodale und multimethodale Messung von Persönlichkeitsstörungen

Unabhängig davon, ob Persönlichkeitsstörungen als Dispositionen oder als Faktoren interpretiert werden, erfordert ihre Messung die Zuordnung von Symptomen zu Störungen nach bestimmten Regeln. Dass der Symptombegriff in dieser Feststellung im Plural verwendet wird, hat drei Gründe.

Erstens wird keine Persönlichkeitsstörung nur aus einer einzelnen symptomatischen Verhaltensweise erschlossen. Vielmehr gründet sich die Annahme einer Persönlichkeitsstörung immer auf mehrere, gleichzeitig vorkommende und psychologisch verwandte Verhaltensweisen. Das gleichzeitige Vorkommen mehrerer Verhaltensweisen muss empirisch ermittelt werden, die Feststellung ihrer psychologischen Verwandtschaft bedarf einer theoretischen Analyse. Als psychologisch verwandt gelten beispielsweise Verhaltensweisen, die die gleiche Funktion erfüllen, also äquifinal oder funktional äquivalent sind. So wird von einigen Autoren vermutet, dass die Verhaltensweisen von Personen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung den Zweck erfüllen, Angst vor Fehlern zu vermeiden. Während das gleichzeitige Vorkommen von Verhaltensweisen mit Hilfe statistischer Analyseverfahren (Kontingenzanalysen, Korrelationsanalysen, Faktorenanalysen) relativ leicht und objektiv bestimmt werden kann, ist die psychologische Funktion kovariierender Verhaltensweisen grundsätzlich mehrdeutig und deshalb immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen.

Zweitens gelten Verhaltensweisen zwar als besonders aussagekräftige Anzeichen für Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensweisen sind aber nicht die einzigen Symptome. Ebenso wie normale Persönlichkeitseigenschaften gehen Persönlichkeitsstörungen mit bestimmten Denk- und Gefühlsmustern einher und lassen sich auch an diesen erkennen. Verhalten, Gedanken (Kognitionen) und Gefühle (Emotionen) bezeichnet man als Modalitäten von Persönlichkeitseigenschaften und Persönlichkeitsstörungen. Neben diesen drei klassischen psychologischen Modalitäten kommen prinzipiell noch andere in Betracht, etwa physiologische oder genotypische Indikatoren. Allerdings erreicht der diagnostische Wert dieser biologischen Modalitäten gegenwärtig noch nicht jenen der drei klassischen psychologischen Modalitäten (Brocke, Hennig &, Netter, 2004, Brocke, Spinath &, Strobel, 2004, Steinmeyer &, Pukrop, 2003).