Spiel der Wölfe - Alpha & Omega 2 - Roman

von: Patricia Briggs

Heyne, 2010

ISBN: 9783641039134 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Spiel der Wölfe - Alpha & Omega 2 - Roman


 

1


Sie beobachtete ihn aus ihrem Versteck, wie sie es schon zweimal zuvor getan hatte. Die ersten beiden Male hatte er Holz gehackt, aber heute, nach den für Mitte Dezember typischen schweren Schneefällen, räumte er den Bürgersteig frei. Heute war der Tag, an dem sie ihn sich schnappen würde.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie beobachtete, wie er mit sorgfältig kontrollierter Aggression den Schnee schaufelte. Jede Bewegung der Schaufel verlief exakt parallel zur vorherigen Bahn. Und in seiner grimmigen Beherrschung sah sie seine schwelende Wut, die ausschließlich von seinem Willen zurückgehalten wurde – er ähnelte einer Rohrbombe.

Während sie sich auf den Boden legte und flach atmete, damit er sie nicht entdeckte, überlegte sie, wie sie es angehen sollte. Von hinten, dachte sie, so schnell wie möglich, um ihm keine Zeit zum Reagieren zu lassen. Eine schnelle Bewegung und alles wäre vorbei – wenn sie nicht den Mut verlor, wie bei den ersten beiden Malen.

Sie wusste instinktiv, dass es heute passieren musste, dass sie keine vierte Gelegenheit bekommen würde. Er war wachsam und diszipliniert – und wenn er nicht so wütend gewesen wäre, hätten seine geschärften Sinne sie in ihrem Versteck im Schnee unter den Tannenbäumen am Rand des Vorgartens längst entdeckt.

Ihr Plan ließ sie vor Anspannung zittern. Ein Überfall von hinten. Feig und hinterhältig, aber es war der einzige Weg, ihn zu überwältigen. Und es musste passieren, weil es nur noch eine Frage der Zeit war, bevor er die Kontrolle verlor, die ihn momentan so sorgfältig den Bürgersteig schaufeln ließ, während der Wolf in ihm wütete. Und wenn er die Kontrolle verlor, würden Leute sterben.

Gefährlich. Er konnte so schnell sein. Wenn sie das verbockte, könnte er sie töten. Sie musste darauf vertrauen, dass ihre eigenen Werwolfreflexe dem gewachsen waren. Es musste sein.

Diese Erkenntnis gab ihr Kraft. Es würde heute passieren.

Charles hörte den SUV, sah aber nicht auf.

Er hatte sein Handy ausgeschaltet und die kühle Stimme seines Vaters in seinem Kopf so lange ignoriert, bis sie verschwand. Er hatte keine Nachbarn an der schneebedeckten Bergstraße – also war der SUV das nächste Zeichen für die Entschlossenheit seines Vaters, ihn zur Ordnung zu rufen.

»Hey, Chief.«

Es war der neue Wolf, Robert, der wegen seiner mangelnden Selbstdisziplin von seinem eigenen Alpha hierher ins Aspen-Creek-Rudel geschickt worden war. Manchmal konnte der Marrok helfen; in anderen Fällen konnte er nur hinterher aufwischen. Wenn Robert keine Beherrschung lernte, wäre es wahrscheinlich Charles’ Aufgabe, ihn aus dem Weg zu räumen. Wenn Robert nicht bald Manieren lernte, würde diese Aufgabe Charles bei weitem nicht so viele Gewissensbisse bereiten, wie sie eigentlich sollte.

Dass Bran ausgerechnet Robert schickte, um seine Nachricht zu überbringen, verriet Charles genau, wie wütend sein Dad war.

»Chief!« Der Mann machte sich nicht mal die Mühe, aus dem Auto auszusteigen. Es gab nicht viele Leute, denen Charles erlaubte, ihn anders zu nennen als bei seinem richtigen Namen, und dieser Welpe gehörte sicherlich nicht dazu.

Charles hörte auf zu schaufeln und schaute den anderen Wolf an, um ihm zu zeigen, mit wem er sich gerade anlegte. Das Grinsen verschwand vom Gesicht des Mannes und er senkte sofort den Blick. Die große Vene an seinem Hals pulsierte in plötzlicher Furcht.

Charles fühlte sich kleinlich. Und es störte ihn; er störte sich sowohl an seiner Kleinlichkeit als auch an der kochenden Wut, die sie auslöste. In ihm roch Bruder Wolf Roberts Schwäche und sie gefiel ihm. Der Stress, sich gegen den Marrok, seinen Alpha, aufzulehnen, hatte Bruder Wolf mit dem Wunsch nach Blut zurückgelassen. Roberts wäre genug.

»Ich … äh.«

Charles sagte nichts. Der Narr sollte sich ruhig anstrengen. Er senkte seine Lider und beobachtete, wie der Mann sich noch ein wenig wand. Der Geruch seiner Angst gefiel Bruder Wolf – und verursachte Charles gleichzeitig leichte Übelkeit. Normalerweise waren er und Bruder Wolf mehr im Einklang – oder vielleicht war das eigentliche Problem, dass auch er jemanden töten wollte.

»Der Marrok möchte Sie sehen.«

Charles wartete eine volle Minute und wusste genau, wie lang diese Zeit dem Botenjungen seines Vaters erscheinen würde. »Ist das alles?«

»Ja, Sir.«

Dieses Sir‹ war etwas völlig anderes als Hey Chief‹.

»Sag ihm, dass ich komme, sobald mein Bürgersteig geräumt ist.« Und damit machte er sich wieder an die Arbeit.

Nach ein paar kratzenden Bewegungen seiner Schaufel hörte er, wie der SUV auf der engen Straße umdrehte. Das Hinterteil scherte aus, dann fanden die Räder Griff und der Wagen fuhr zurück zum Marrok. Zu schnell, weil Robert es so eilig hatte, wegzukommen. Bruder Wolf war mehr als zufrieden; Charles bemühte sich, es nicht zu sein. Charles wusste, dass er seinen Vater nicht auch noch herausfordern sollte, indem er sich seinen Befehlen widersetzte – besonders nicht vor einem Wolf, der Führung brauchte, wie es bei Robert der Fall war. Aber Charles brauchte die Zeit.

Er musste sich selbst besser unter Kontrolle haben, bevor er dem Marrok wieder gegenübertrat. Er brauchte absolute Kontrolle, die es ihm erlauben würde, seine Argumente logisch vorzubringen und somit zu erklären, warum der Marrok falsch lag – statt einfach mit ihm zu streiten, wie es bei den ersten vier Malen passiert war, als Charles mit ihm gesprochen hatte. Er wünschte sich, nicht zum ersten Mal, eine gewandtere Zunge. Seinem Bruder gelang es manchmal, die Meinung des Marrok zu ändern – ihm dagegen nie. Dieses Mal aber wusste Charles einfach, dass sein Vater Unrecht hatte.

Noch dazu hatte er sich jetzt in eine noch üblere Stimmung hineingesteigert.

Er konzentrierte sich auf den Schnee, holte einmal tief Luft – und etwas landete schwer auf seinen Schultern und warf ihn mit dem Gesicht nach unten in den Schnee. Scharfe Zähne und ein warmes Maul berührten seinen Nacken und verschwanden genauso schnell wieder wie das Gewicht, das ihn umgeworfen hatte.

Ohne sich zu bewegen, öffnete er die Augen ein wenig und warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf den schwarzen Wolf mit den himmelblauen Augen, der ihn wachsam beäugte … mit einem Schwanz, der vorsichtig wedelte und Pfoten, die im Schnee tanzten. Die Krallen wurden in nervöser Aufregung ausgefahren und wieder eingezogen wie bei einer Katze.

Und als ob ein Schalter in Bruder Wolf umgelegt würde, verschwand plötzlich die kochende Wut, die seit einigen Wochen in Charles’ Bauch brodelte. Erleichtert ließ er seinen Kopf wieder in den Schnee fallen. Nur bei ihr, bei niemand anderem als ihr, kam Bruder Wolf so vollkommen zur Ruhe. Ein paar Wochen hatten nicht ausgereicht, dass er sich an dieses Wunder gewöhnen konnte – und auch nicht, um ihn in seiner Dummheit von dem Fehler abzubringen, sie nicht um Hilfe zu bitten.

Was natürlich der Grund dafür war, dass sie diesen Hinterhalt geplant hatte.

Wenn er wieder dazu in der Lage war, würde er ihr erklären, wie gefährlich es war, ihn ohne Vorwarnung anzugreifen. Obwohl Bruder Wolf anscheinend genau gewusst hatte, wer ihn da gerade ansprang: Schließlich hatte er zugelassen, dass sie zu Boden geworfen wurden.

Die Kälte in seinem Gesicht fühlte sich gut an.

Das gefrorene Wasser quietschte unter ihren Pfoten und sie gab ein besorgtes Geräusch von sich, was für ihn der Beweis war, dass sie nicht bemerkt hatte, dass er sie angeschaut hatte. Ihre Nase war kalt, als sie sein Ohr berührte und er zwang sich dazu, nicht zu reagieren. Er stellte sich tot, und da sein Gesicht im Schnee verborgen war, konnte sie sein Lächeln nicht sehen.

Die kalte Nase zog sich zurück, und er wartete darauf, dass sie wieder in Reichweite kam. Seinen Körper hielt er entspannt und bewegungslos. Sie stupste ihn mit der Pfote an, und er ließ zu, dass sein Körper verschoben wurde – aber als sie ihn in den Hintern zwickte, konnte er nicht mehr anders, als mit einem scharfen Ausruf zusammenzuzucken.

Danach war es nutzlos, sich tot zu stellen, also rollte er sich herum und ging in die Hocke.

Sie floh schnell aus seiner Reichweite, drehte sich dann um und sah ihn an. Er wusste, dass sie aus seiner Miene nichts ablesen konnte. Er wusste es. Er hatte zu viel Übung darin, sein Gesicht ausdruckslos zu halten.

Aber sie sah etwas, das sie dazu brachte, ihre Vorderbeine zu strecken, den Vorderkörper halb nach unten zu senken und ihren Unterkiefer in einem wölfischen Grinsen hängen zu lassen – eine allgemeingültige Aufforderung zum Spielen. Er rollte sich nach vorne ab, und sie rannte mit einem aufgeregten Jaulen davon.

Sie tobten durch den gesamten Vorgarten, wobei sie seine sorgfältig gepflegte Einfahrt verwüsteten und den unberührten Schnee in ein Schlachtfeld aus Fuß- und Pfotenabdrücken verwandelten. Er blieb in menschlicher Gestalt, um die Chancen auszugleichen, weil Bruder Wolf dreißig bis vierzig Kilo schwerer war als sie, während er in menschlicher Gestalt fast dasselbe wog. Sie setzte dafür weder ihre Klauen noch ihre Zähne gegen ihn ein.

Er lachte über ihr gespielt grimmiges Knurren,...