Justine - oder Vom Missgeschick der Tugend

von: Marquis de Sade

Null Papier Verlag, 2019

ISBN: 9783943466782 , 619 Seiten

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Justine - oder Vom Missgeschick der Tugend


 

I. Kapitel


Ein­lei­tung. – Jus­ti­nes ers­tes Aben­teu­er.

Es wäre die Haupt­auf­ga­be der Phi­lo­so­phie, die Mit­tel auf­zu­de­cken, de­ren sich das Schick­sal zur Er­rei­chung sei­ner Zwe­cke be­dient. Dann müss­te sie die­sem un­glück­se­li­gen zwei­fü­ßi­gen We­sen Ver­hal­tungs­maß­re­geln für sei­nen dor­nen­vol­len Le­bens­weg auf­zeich­nen, da­mit es nicht von den bi­zar­ren Lau­nen die­ses Schick­sals – das man bald Be­stim­mung, bald Gott oder Vor­se­hung, dann wie­der Zu­fall oder Vor­aus­be­stim­mung ge­nannt hat – ab­hän­gig sei.

So sehr wir auch durch­tränkt sind von ei­ner un­nüt­zen, lä­cher­li­chen und aber­gläu­bi­schen Ehr­furcht für un­se­re un­sin­ni­gen ge­sell­schaft­li­chen Ge­bräu­che, wird es doch vor­kom­men, dass Leu­te, die ent­we­der grund­sätz­lich oder aus Nei­gung oder aus Tem­pe­ra­ment las­ter­haft sind, glau­ben, dass es bes­ser ist, sich dem Las­ter hin­zu­ge­ben, als sich ihm zu wi­der­set­zen: Denn wie oft se­hen sie nicht, dass Bö­se­wich­te für ihre Mis­se­ta­ten nur sü­ßen Lohn ern­ten?

Wer­den sie nicht mit ei­ni­ger Be­rech­ti­gung sa­gen, dass die Tu­gend, so schön sie sein mag, der schlech­tes­te Teil ist, denn man er­grei­fen kann, wenn sie zu schwach ist, um ge­gen das Las­ter an­zu­kämp­fen und dass in ei­nem so ver­derb­tem Zeit­al­ter, wie das un­se­re ist, das Bes­te dar­in be­steht, so wie die an­de­ren zu han­deln? Bei mehr phi­lo­so­phi­scher Be­trach­tung könn­ten sie auch mit dem En­gel Zes­rad de Za­dig sa­gen, dass es nichts Bö­ses gibt, aus dem nicht Gu­tes ent­stün­de und dass sie sich dem­nach dem Bö­sen so viel hin­ge­ben könn­ten, wie sie woll­ten, da das in Wirk­lich­keit nur eine Form ist, Gu­tes zu tun? Wer­den sie nicht hin­zu­fü­gen, dass, wenn die Tu­gend vom Un­glück ver­folgt wird, das Las­ter ge­deiht und bei­des in den Ab­sich­ten der Na­tur liegt, es un­end­lich bes­ser ist, mit den Bö­se­wich­tern zu ge­hen, die be­güns­tigt sind, als mit den Tu­gend­haf­ten, die zu­grun­de ge­hen.

Um die­se An­schau­ung zu un­ter­stüt­zen – ein län­ge­res Ver­schlei­ern ist un­nütz – wol­len wir der Öf­fent­lich­keit die Ge­schich­te der tu­gend­haf­ten Jus­ti­ne be­rich­ten. Es han­delt sich dar­um, dass die Dumm­köp­fe end­lich auf­hö­ren, je­nes lä­cher­li­che Göt­zen­bild der Tu­gend an­zu­be­ten, das sie nur mit Un­dank­bar­keit be­lohnt und dass Leu­te mit Ver­stand sich umso si­che­rer füh­len, wenn sie die ver­blüf­fen­den Bei­spie­le von Glück und Wohl­fahrt se­hen, die das Las­ter und die Aus­schwei­fung fast mit un­um­stöß­li­cher Ge­wiss­heit be­glei­ten. Es ist zwei­fel­los pein­lich, ei­ner­seits die schreck­li­chen Un­glücks­fäl­le schil­dern zu müs­sen, von de­nen die sanf­te und emp­find­sa­me Frau über­häuft wird, die aufs Bes­te der Tu­gend ge­horcht und an­de­rer­seits zei­gen zu müs­sen, wie die Leu­te glück­lich sind, die die­se sel­be Frau quä­len und zu Tode het­zen. Aber der Schrift­stel­ler, der ge­nug Phi­lo­soph ist, um die Wahr­heit sa­gen zu kön­nen, steht über die­sen Unan­nehm­lich­kei­ten und durch die Not­wen­dig­keit zur Grau­sam­keit ge­zwun­gen, reißt er mit un­barm­her­zi­ger Hand die aber­gläu­bi­schen Hül­len her­ab, mit de­nen die Dumm­heit die Tu­gend ver­schö­nern will, und zeigt dem un­wis­sen­den Mann, den man be­trog, das Las­ter in­mit­ten der Rei­ze und Genüs­se, die ihm un­un­ter­bro­chen fol­gen.

Sol­che Emp­fin­dun­gen wer­den die­se Schrift lei­ten. Und aus die­sen Grün­den wer­den wir mit der zy­ni­sche­s­ten Spra­che, den un­sitt­lichs­ten und gott­lo­ses­ten Ide­en das Ver­bre­chen be­schrei­ben, wie es ist, das heißt, stets tri­um­phie­rend, im­mer zu­frie­den und be­glückt und die Tu­gend wird man glei­cher­wei­se im­mer un­glück­lich, be­küm­mert und ge­pei­nigt se­hen.

*

Ju­li­et­te und Jus­ti­ne, bei­de Töch­ter ei­nes sehr rei­chen Pa­ri­ser Ban­quiers, wur­den bis zu ih­rem vier­zehn­ten, be­zie­hungs­wei­se fünf­zehn­ten Le­bens­jahr in ei­nem der be­rühm­tes­ten Stif­te von Pa­ris er­zo­gen. Dort wur­de ih­nen kein Rat­schlag, kein Buch, kei­ne Un­ter­wei­sung vor­be­hal­ten, und so­wohl die Sitt­lich­keit, wie die Re­li­gi­on und die frei­en Be­ga­bun­gen schie­nen je­des der jun­gen Mäd­chen für sich aus­ge­bil­det zu ha­ben.

Zu die­ser für die Tu­gend der bei­den jun­gen Mäd­chen sehr be­droh­li­chen Zeit kam es, dass ih­nen ei­nes Ta­ges plötz­lich al­les fehl­te. Ein voll­stän­di­ger Ban­ke­rott brach­te ih­ren Va­ter in eine so pein­vol­le Lage, dass er an dem Kum­mer starb. Sei­ne Frau folg­te ihm ei­ni­ge Mo­na­te nach­her nach.

Zwei gleich­gül­ti­ge ent­fern­te Ver­wand­te be­rie­ten, was mit den jun­gen Wai­sen ge­sche­hen soll­te. Ihre Erb­schaft be­trug, da al­les von den Gläu­bi­gern ver­schlun­gen wor­den war, 100 Ta­ler für jede. Da sich nie­mand um sie wei­ter küm­mern woll­te, öff­ne­te man ih­nen die Pfor­ten des Klos­ters und ließ ih­nen die Wahl, zu wer­den, was sie woll­ten.

Die leb­haf­te, sehr hüb­sche, eit­le und ver­dor­be­ne äl­te­re Ju­li­et­te schi­en nur er­freut zu sein, nicht mehr in ei­nem Klos­ter ve­ge­tie­ren zu müs­sen, ohne an die Ur­sa­chen zu den­ken, wäh­rend die harm­lo­se­re, in­ter­essan­te­re, vier­zehn­jäh­ri­ge Jus­ti­ne, die von der Na­tur einen düs­te­ren und ro­man­ti­schen Cha­rak­ter er­hal­ten hat­te, mehr das Furcht­ba­re ih­res Ge­schickes emp­fand.

Die­ses jun­ge, so viel­sei­tig be­gab­te Mäd­chen be­saß die Schön­heit je­ner wun­der­vol­len Jung­frau­en Ra­phaels. Gro­ße brau­ne, see­len­vol­le Au­gen, eine wei­che, schmelzar­ti­ge Hand, eine zar­te und bieg­sa­me Tail­le, run­de und von der Lie­bes­göt­tin selbst ge­zeich­ne­te For­men, eine be­zau­bern­de Stim­me und ne­ben ei­nem ent­zücken­den Mun­de wa­ren die schöns­ten Haa­re der Welt ihr ei­gen, de­ren Rei­ze weit über dem stan­den, was die Fe­der leb­los be­schrei­ben kann.

Der Le­ser möge sich al­les vor­stel­len, was sei­ne Fan­ta­sie an Ver­füh­re­ri­schem sich an­deu­ten kann, und es wird hin­ter der Wirk­lich­keit zu­rück­blei­ben.

Man hat­te bei­den vier­und­zwan­zig Stun­den Frist zum Ver­las­sen des Stif­tes ge­ge­ben. Ju­li­et­te war be­müht, die Trä­nen Jus­ti­nens zu stil­len. Als sie ah, dass ihr das nicht ge­lang, be­gann sie, sie aus­zu­zan­ken, statt sie zu trös­ten. Sie warf ihr ihre Emp­find­lich­keit vor. Sie sag­te mit weit über ih­ren Jah­ren ste­hen­den Ge­dan­ken, dass man über nichts in die­ser Welt be­stürzt sein sol­le und dass man in sich ge­nug star­ke phy­si­sche Er­re­gun­gen fin­den könn­te, um sol­che An­grif­fe ab­zu­schla­gen. Dass die wah­re Klug­heit dar­in be­stän­de, die Zahl sei­ner Freu­den und nicht die sei­ner Lei­den zu ver­meh­ren. Mit ei­nem Wort, dass man nichts un­ter­las­sen dür­fe, um in sich jene nie­der­träch­ti­ge Emp­find­sam­keit zu er­tö­ten, aus der bloß die an­de­ren Nut­zen zö­gen, wäh­rend...