Nimue Alban: Der Verrat - Bd. 10

von: David Weber

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838719399 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Nimue Alban: Der Verrat - Bd. 10


 

.I.


Hospiz der Heiligen Bédard
und der Tempel, Stadt Zion,
die Tempel-Lande


»Langhorne segne Euch, Euer Exzellenz! Langhorne segne Euch!«

»Danke, Pater«, erwiderte Rhobair Duchairn. »Auch wenn ich Ihr Lob gern höre, haben Sie in all das mehr harte Arbeit gesteckt als ich. Und das«, das Lächeln des Vikars war ein wenig bitter, »auch noch viel länger als ich.«

Er legte Pater Zytan Kwill eine Hand auf die gebrechliche Schulter. Der Oberpriester des Bédard-Ordens war schon hoch in den Achtzigern und wurde Jahr um Jahr gebrechlicher. Dennoch brannte in ihm eine Leidenschaft, um die ihn Duchairn beneidete.

»Das mag wohl sein, Euer Exzellenz«, erwiderte Kwill, »aber in diesem Winter …« Er schüttelte den Kopf. »Ist Euch bewusst, dass wir in diesem Winter nur dreißig Tote zu beklagen hatten – ganz egal, woran sie nun eigentlich gestorben sind? Nur dreißig!«

»Ich weiß.« Duchairn nickte. Dabei wusste er genau, dass insgesamt deutlich mehr als dreißig Einwohner von Zion den vergangenen Winter nicht überstanden hatten. Und doch hatte Kwill nicht ganz unrecht. Es lag in der Verantwortung des Bédard- und des Pasquale-Ordens, für die Armen und Bedürftigen zu sorgen. Gewiss, eigentlich war dies eine Aufgabe von Mutter Kirche an sich. Doch schon seit Jahrhunderten kümmerten sich vor allem die Bédardisten und die Pasqualaten darum. Gemeinsam sorgten sie für Suppenküchen und Notunterkünfte. Aus den Reihen der Pasqualaten kamen darüber hinaus die Heiler. Deren Aufgabe war es, auch den schwächsten Kindern Gottes genug medizinische Versorgung zukommen zu lassen, um die eisige Kälte in Zion zu überstehen.

Nur hatten Bédardisten und Pasqualaten genau das über einen langen Zeitraum hinweg eben nicht getan.

Duchairn blickte aus dem Fenster von Kwills auffallend bescheiden eingerichtetem Arbeitszimmer. Das Hospiz der Heiligen Bédard befand sich in einem von Zions älteren Gebäuden. Vom Arbeitszimmer des Paters aus hatte man einen herrlichen Blick über die blauen Wellen des Pei-Sees. Doch das Zimmer selbst war so karg und spärlich eingerichtet wie die Zellen der Asketen in den Klöstern, deren Brüder und Schwestern sich vor allem in Meditation übten. Zweifellos ließ die Einrichtung des Zimmers Rückschlüsse auf Pater Zytans Persönlichkeit zu. Aber es war auch Zeichen dafür, dass der Pater in den letzten siebenundvierzig Jahren mit jeder Mark, die er in die Finger bekommen hatte, die Bedürftigkeit seiner Schäfchen zu lindern gesucht hatte. Niemals wäre ein Mann wie er auf die Idee gekommen, auch nur einen winzigen Teil dieses Geldes für sich selbst zu verwenden.

Und in all der Zeit hat Mutter Kirche ihm nie in dem Maße geholfen, wie es bitter nötig gewesen wäre, dachte der Schatzmeister bitter. Nicht ein einziges Mal! Nicht ein einziges Mal haben wir ihn und all die anderen in dem Maße finanziell unterstützt, wie es unsere Pflicht gewesen wäre!

Der Vikar trat an das Fenster und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er betrachtete das Meer aus Blüten und Grün, das über die Hügel zwischen Zion und dem See wogte. Eine kühle Brise wehte durch das Fenster herein, strich Duchairn sanft über die Wangen. Die warmen Sonnenstrahlen ließen auf den funkelnden Wellen des Sees die Segel von kleinen Booten aufblitzen, von Leichtern und von größeren Handelsschiffen. Weiter vom Ufer entfernt erkannte Duchairn Fischerboote, und über den Himmel zogen wunderschöne Wolkenberge hinweg. An einem solchen Tag konnte selbst der Schatzmeister, der die letzten dreißig Jahre seines Lebens in Zion verbracht hatte, die harten, rauen Winter hier im Norden von Haven vergessen. Er konnte vergessen, wie sich dann über den See eine blaugraue Eisfläche legte, dick genug, um Eissegler von der Größe einer Galeone zu tragen. Duchairn konnte vergessen, dass die Schneeverwehungen in den Straßen der Stadt übermannshoch werden konnten, manche in den Außenbezirken der Stadt zwei oder sogar drei Stockwerke hoch.

Und für uns, die wir den Winter im Tempel verbringen, ist es leicht, all diese Unannehmlichkeiten zu vergessen, gestand er sich selbst ein. Wir brauchen uns darum ja nicht zu scheren, nicht wahr? Wir haben unsere eigene kleine Enklave, von Gott selbst gesegnet. Aus dieser Enklave wagen wir uns nicht heraus … außer vielleicht an den milderen Tagen ohne heulende Schneestürme, die uns um unsere ach so heiligen Ohren pfeifen.

Duchairn wollte gern glauben, dies sei der wahre Grund für seine jahrzehntelange Untätigkeit. Er wollte so gern glauben dürfen, seine zahllosen Pflichten hätten ihn viel zu beschäftigt gehalten. Er wollte glauben dürfen, Pflichteifer habe ihn vergessen lassen, aus dem Fenster zu blicken und zu sehen, was in Wahrheit all jenen widerfuhr, die sich außerhalb des Tempels aufhielten, außerhalb dieses Ortes mit seinen auf geheimnisvolle Weise wohl temperierten Räumlichkeiten. Oh, wie sehr Duchairn sich wünschte, das glauben zu dürfen!

Oh ja, beschäftigt warst du, Rhobair!, dachte er. Er sog die kühle Luft ein, genoss den Duft der Blüten unter Pater Zytans Fenster. Du warst beschäftigt mit gutem Wein, der Feinschmeckerküche des Tempels, bezaubernder weiblicher Gesellschaft und all der Mühe, die es macht, Münzen zu zählen und deine Bündnisse innerhalb des Vikariats zu pflegen. Zu schade, dass du nicht über die wahren Lehren der Erzengel nachgedacht hast, darüber, was die wahren Aufgaben und Pflichten eines jeden Priesters sind! Hättest du das getan, dann hätte Pater Zytan das notwendige Geld und die erforderliche Unterstützung erhalten, um genau diese Aufgaben und Pflichten auch zu erfüllen!

»Ich bin überglücklich, dass wir nur so wenige verloren haben … in diesem Winter, Pater«, sagte Duchairn, ohne sich vom Fenster abzuwenden. »Ich bedauere nur zutiefst, dass wir im letzten Winter so viele Verluste zu beklagen hatten, und ebenso im Winter davor.«

Kwill blickte auf den Rücken des Vikars. Der Pater fragte sich, ob Duchairn wusste, wie viel Schmerz in seiner Stimme mitschwang. Wie ein schwerer Anker schien dieser Schmerz jedes einzelne seiner Worte in die Tiefe zu ziehen. Wie die meisten Diener von Mutter Kirche, die Verwaltungsaufgaben wahrnahmen, gehörte der Vikar dem Chihiro-Orden an. Somit fehlte ihm die Ausbildung, Gefühle und andere emotionale Prozesse zu begreifen. Bei Kwill war das anders. Denn sein Orden lehrte genau diese Dinge. Es war durchaus möglich, dass der Vikar sich seiner eigenen Gefühle nicht bewusst war – und auch, dass sein Tonfall sie so deutlich verriet.

Er schien nicht zu bemerken, wie gefährlich ihm diese Gefühle unter den gegebenen Umständen werden konnten.

»Euer Exzellenz«, sagte der Oberpriester, »ich habe deutlich mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht, jeden Frühling aufs Neue genau diese Dinge zu bedauern.« Duchairn wandte sich zu ihm um, und Kwill lächelte ihn traurig an. »Eigentlich müsste ich mich also an dieses Gefühl des Versagens gewöhnt haben. Aber jede Leiche, die wir im Schnee finden, jedes Kind, das zur Waise wird, jede einzelne Seele, die wir nicht irgendwo im Hospiz oder in einer der anderen Notunterkünfte unterbringen können, wenn die Temperatur fällt und der Wind über den See heult … jeder einzelne dieser Todesfälle reißt ein winziges Stück meiner Seele mit sich. Ich habe nie gelernt, das einfach hinzunehmen. Aber ich habe lernen müssen, damit zurechtzukommen. Mir selbst zu sagen, dass ich wahrhaftig alles in meiner Macht Stehende getan habe, um die Anzahl von Todesfällen im Winter zu verringern. Mich selbst von der Schuld an eben diesen Todesfällen freizusprechen. Es ist nicht leicht, das zu tun. Wie viel ich auch getan haben mag, ich war und bin stets davon überzeugt, dass ich noch mehr hätte tun können – dass ich noch mehr hätte tun müssen. Hier …«, er tippte sich gegen die Schläfe, »weiß ich ganz genau, dass ich wirklich alles getan habe, was ich konnte. Aber es fällt mir schwer, das auch hier zu akzeptieren.«

Er legte eine Hand an die Brust, und sein trauriges Lächeln verlor den bitteren Beigeschmack.

»Ich habe darin deutlich mehr Übung als Ihr, Euer Exzellenz. Das liegt sicherlich daran, dass ich beinahe fünfunddreißig Jahre älter bin als Ihr. Die meisten hier in Zion, sogar in meinem eigenen Orden, sind fest davon überzeugt, ich hätte diese Aufgabe schon seit dem Tag der Schöpfung erfüllt. Aber in Wirklichkeit war ich schon weit über vierzig, bevor mir überhaupt der Gedanke gekommen ist, genau das solle mein Lebenswerk sein. Gott habe das für mich vorgesehen.« Kwill schüttelte den Kopf. »Bitte glaubt nicht, all die Jahre, die ich verschwendet habe, bevor ich Seine Stimme hörte, würden mich nicht in jedem Winter aufs Neue heimsuchen und plagen! Immer und immer wieder werde ich daran erinnert, wie viele Winter ich untätig habe verstreichen lassen. Mir ist bewusst, dass viele mich für einen Ausbund an Heiligkeit halten – zumindest diejenigen, die in mir nicht nur einen alten, störrischen Spinner sehen! Aber ich war ein deutlich weniger gelehriger Schüler, als jene Menschen denken. Eines Tages aber vernehmen wir Seine Stimme. Und es obliegt alleine Ihm, über uns zu urteilen. Anderen Menschen steht dies nicht zu. Schließlich ist unser eigenes Urteilsvermögen höchst unzuverlässig. Vor allem, wenn es um unser eigenes Handeln geht.«

Lange Zeit schwieg Duchairn. »Damit haben Sie wahrscheinlich recht, Pater«, sagte er schließlich. »Aber wenn nicht einmal wir selbst uns Rechenschaft ablegen, dann missachten wir nicht nur unsere Pflichten, sondern auch uns selbst. Ich habe festgestellt, dass Schuld äußerst bitter...