Die unbekannte Mitte der Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht

von: Tamim Ansary

Campus Verlag, 2010

ISBN: 9783593408163 , 367 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 29,99 EUR

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Die unbekannte Mitte der Welt - Globalgeschichte aus islamischer Sicht


 

Wenn wir in der islamischen Geschichte zurückblicken, entdecken wir dort ebenfalls ein idealisiertes Weltreich, das die Vision eines universellen Staates verkörpert. Doch das ist nicht Rom, sondern das Kalifat aus den Ursprungsjahren des Islam. In beiden Geschichten bricht dieses frühe Weltreich irgendwann unter der Last seiner eigenen Größe zusammen. In der Phase des Niedergangs wird es von barbarischen Nomadenvölkern aus dem Norden erobert - nur dass in der islamischen Welt mit 'Norden' die zentralasiatischen Steppen gemeint sind und die barbarischen Nomaden nicht die Germanen, sondern die Türken waren. Hier wie da zerschlagen die Eindringlinge den großen Staat in eine Ansammlung kleiner Königreiche, die jedoch eine einheitliche religiöse Orthodoxie gemeinsam haben: das katholische Christentum im Westen und den sunnitischen Islam im Osten. Eine Geschichte der Welt ist immer eine Erzählung, die uns erklärt, wie 'wir' zum 'Hier und Jetzt' gekommen sind. Die Form dieser Erzählung hängt also entscheidend davon ab, wen wir mit 'wir' meinen und was wir unter 'Hier und Jetzt' verstehen. Die westliche Version der Weltgeschichte geht üblicherweise davon aus, dass mit 'Hier und Jetzt' eine demokratische und industrialisierte (oder postindustrielle) Gesellschaft gemeint ist. In den Vereinigten Staaten geht man zudem davon aus, dass die Geschichte zielstrebig auf die in ihrer Verfassung festgeschriebenen Ideale von Freiheit und Gleichheit hinausläuft, und diese wiederum den Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Supermacht ermöglichen, die den Planeten in die Zukunft führt. Diese Annahme gibt der Geschichte eine bestimmte Richtung und projiziert deren Schlusspunkt an das Ende des Weges, auf dem wir uns gerade befinden. Das wiederum verführt zu der Annahme, dass alle Menschen in die gleiche Richtung unterwegs sind, wenn auch einige noch nicht so weit vorangekommen sind wie wir selbst, vielleicht weil sie sich später auf den Weg gemacht haben, oder weil sie langsamer vorwärtskommen - deshalb bezeichnet man deren Nationen auch als 'Entwicklungsländer'. Wenn wir das Ideal einer postindustriellen westlichen Demokratie als den Endpunkt der menschlichen Geschichte postulieren, dann sieht die Erzählung, die uns zum Hier und Jetzt gebracht hat, ungefähr so aus: 1.Geburt der Zivilisation (Ägypten und Mesopotamien) 2.Das klassische Zeitalter (Griechenland und Rom) 3.Das Mittelalter (der Aufstieg des Christentums) 4.Wiedergeburt: Renaissance und Reformation 5.Die Aufklärung (Forschung und Wissenschaft) 6.Die Revolutionen (demokratisch, industriell, technologisch) 7.Der Aufstieg der Nationalstaaten: Der Kampf ums Weltreich 8.Die beiden Weltkriege 9.Der Kalte Krieg 10.Der Triumph des demokratischen Kapitalismus Aber was passiert, wenn wir die Weltgeschichte aus islamischer Sicht betrachten? Sollten wir unsere Geschichte dann etwa als eine zurückgebliebene Version des Westens betrachten, die sich grundsätzlich in dieselbe Richtung bewegt, wenn auch weniger geradlinig? Wohl kaum. Zum einen würden wir beim Blick durch die islamische Brille einen ganz anderen Wendepunkt sehen, der die Geschichte in ein 'Vorher' und ein 'Nachher' einteilt: Das Jahr Null wäre für uns nun das Jahr der Flucht des Propheten Mohammed aus Mekka nach Medina, die Hidschra, die den Anfang der muslimischen Gemeinschaft markiert. Diese Gemeinschaft wäre unser Inbegriff von 'Zivilisation', und der Versuch, dieses Ideal zu erreichen, gäbe unserer Geschichte Form und Richtung. Gleichzeitig hätten wir das Gefühl, dass in den letzten Jahrhunderten irgendetwas schiefgelaufen ist. Wir würden erkennen, dass diese Gemeinschaft irgendwann nicht mehr gewachsen ist, dass sie ihre Richtung verloren hat, dass sie von einer gegenläufigen Strömung erfasst und von einer konkurrierenden Erzählung gestört wurde. Als Erben der muslimischen Tradition müssten wir versuchen, die Geschichte nicht von einem Triumph, sondern von einer Niederlage her zu verstehen. Wir würden uns zwischen zwei Möglichkeiten hin- und hergerissen fühlen: Wir könnten unseren Zivilisationsbegriff ändern, um ihn mit dem Verlauf der Geschichte in Einklang zu bringen, oder wir könnten uns gegen den Verlauf der Geschichte stemmen, um sie mit unserem Zivilisationsbegriff in Einklang zu bringen. Wenn das Hier und Jetzt, zu dem die Weltgeschichte führt, also die verkümmerte Gegenwart ist, wie sie die muslimischen Gesellschaften der Gegenwart erleben, dann durchläuft unsere Erzählung etwa die folgenden Stationen: 1.Vorzeit: Mesopotamien und Persien 2.Die Geburt des Islam 3.Das Kalifat: Die Suche nach der Einheit 4.Zerfall: Das Zeitalter der Sultanate 5.Katastrophe: Kreuzfahrer und Mongolen 6.Wiedergeburt: Das Zeitalter der drei Reiche 7.Durchdringung des Ostens durch den Westen 8.Die Reformbewegungen 9.Der Triumph der weltlichen Modernisierer 10.Die islamistische Reaktion Mit dem Islam und dem Westen stehen zwei gewaltige Welten nebeneinander, doch es ist bemerkenswert, wie wenig sie einander zur Kenntnis genommen haben. Wenn der Islam und der Westen zwei Menschen wären, dann würden wir vermutlich Symptome der Verdrängung diagnostizieren und uns fragen, ob zwischen beiden etwas vorgefallen sein könnte, ob sie vielleicht früher einmal ein Liebespaar waren. Ich kann mir eine weit weniger reißerische Erklärung vorstellen: Über lange Zeiträume hinweg verhielten sich der Westen und das islamische Kernland wie zwei unterschiedliche Universen. Jedes war mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, jedes hielt sich selbst für den Mittelpunkt der Weltgeschichte, jedes lebte nach seiner eigenen Erzählung. Erst im 17. Jahrhundert begannen diese beiden Erzählungen, einander zu überschneiden. An diesem Punkt musste eine der beiden Erzählungen Platz machen, denn sie standen in Konkurrenz zueinander. Und da der Westen mächtiger war, siegte seine Erzählung und unterdrückte die andere. Doch damit endete die verdrängte Geschichte keineswegs. Denn diese andere Erzählung blieb unter der Oberfläche bis heute erhalten, wie eine Art gegenläufige Unterströmung. Wenn wir uns die Konfliktgebiete der Welt ansehen - Kaschmir, den Iran, Tschetschenien, den Balkan, Israel und Palästina oder den Irak -, dann sehen wir die Grenzen eines Gebildes, das zwar von den Landkarten verschwunden ist, das sich aber heftig gegen seine endgültige Auslöschung aufbäumt. Das ist die Geschichte, die ich auf den folgenden Seiten erzählen möchte. Geschichte im Sinne von Erzählung, denn dieses Buch ist kein Schulbuch und keine wissenschaftliche Abhandlung. Es ist eher das, was ich Ihnen in einem Café erzählen würde, wenn Sie mich fragen würden, was es denn mit dieser parallelen Weltgeschichte auf sich hat. Die zugrundeliegende These können Sie in zahlreichen Büchern finden, die in den Regalen der Universitätsibibliotheken verstauben. Wenn Sie der akademische Jargon und die Fußnoten nicht abschrecken, können Sie diese Erzählung auch dort nachlesen. Aber wenn es Ihnen um den Gesamtzusammenhang geht, dann können Sie ihn hier lesen. Ich selbst bin kein Historiker, aber ich beziehe mich auf Historiker, die das Rohmaterial der Geschichte auswerten, um daraus ihre Schlüsse zu ziehen, und auf Geschichtsphilosophen, die wiederum das Material der Historiker auswerten, um zu übergreifenden Schlussfolgerungen zu gelangen.