Todeswatt - Kriminalroman

von: Sandra Dünschede

Gmeiner-Verlag, 2010

ISBN: 9783839234846 , 313 Seiten

9. Auflage

Format: ePUB, PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Todeswatt - Kriminalroman


 

3. Kapitel


Dirk Thamsen kehrte von seiner Mittagspause ins Büro zurück. Er war in der Stadt mit einem Freund zum Essen verabredet gewesen, den er seit Wochen nicht gesehen hatte. Dementsprechend hatte das Treffen länger als geplant gedauert, da es jede Menge zu erzählen gab.

Mike, sein Bekannter, war eine Zeit lang im Ausland gewesen und hatte von seinen Erlebnissen in Australien berichtet.

»Sydney ist eine traumhaft schöne Stadt«, schwärmte er, »da musst du unbedingt mal hin.« Thamsen wusste, in den nächsten Jahren würde er sich solch eine Reise nicht leisten können. Er verdiente als Polizeihauptkommissar zwar nicht schlecht und erhielt zudem die Orts- und Kinderzuschläge, aber damit musste er zwei kleine Mäuler stopfen, die Miete zahlen und außerdem waren da noch Altschulden aus seiner Ehe mit Iris, die er monatlich abstotterte. Viel zurücklegen konnte er nicht, und bei dem, was er monatlich sparte, würde es noch lange dauern, bis er sich so einen Urlaub gönnen konnte.

»Vielleicht, wenn ich in Rente bin«, hatte er gescherzt und gespannt dem Reisebericht des Freundes gelauscht.

Thamsen setzte sich mit einer Tasse Kaffee an seinen Arbeitsplatz und schlug einen der grauen Aktenordner auf, die sich vor ihm stapelten, um die letzten aktuellen Berichte abschließend Korrektur zu lesen, als plötzlich die Tür zu seinem Büro geöffnet wurde und sein Vorgesetzter den Raum betrat. Stöhnend ließ dieser sich auf den alten Holzstuhl vor dem Schreibtisch fallen.

»Dirk, könntest du vielleicht nach Pellworm fahren?«

Thamsen zog seine rechte Augenbraue hoch und blickte seinen Chef fragend an.

»Ich weiß, ich weiß«, wehrte dieser verteidigend ab, »du musst schauen, wer sich um deine Kinder kümmern kann. Aber glaub mir, ich habe sonst niemanden. Manfred hat Urlaub, Bernd ist zur Fortbildung und Gunther krank. Außerdem dürfte die Angelegenheit schnell erledigt sein. Ist wahrscheinlich nur ’ne Pro-forma-Sache.«

»Wieso soll ich dann überhaupt dahin fahren? Können das nicht die Kollegen vor Ort erledigen?«

Rudolf Lange schlug mit seiner rechten Hand leicht durch die Luft. Er verstand diese bürokratische Vorgehensweise manchmal selbst nicht. Nur weil vor der Insel ein toter Mann angeschwemmt worden war, der zufällig aus ihrem Zuständigkeitsbereich stammte, sollte er einen seiner Mitarbeiter dorthin schicken. Es war ja nicht einmal klar, ob tatsächlich ein Tötungsdelikt vorlag oder ob es sich nicht eventuell doch nur um einen Selbstmord handelte. Aber die Kollegen von der Kripo hatten um ihre Unterstützung gebeten und die konnte er schwerlich verweigern.

»Anordnung von oben«, erklärte er deshalb lediglich kurz und sah Thamsen bedauernd an. Der organisierte in Gedanken bereits die Betreuung von Anne und Timo. Die Kinder lebten seit der Trennung bei ihm. Vormittags waren die beiden selbstverständlich in der Schule und anschließend hatte er für Anne, die noch zu klein war, um den Nachmittag ganz allein zu verbringen, einen Hortplatz. In den Ferien beschäftigte er eine Tagesmutter und im Notfall sprangen seine Exfrau oder seine Mutter ein. Doch deren Hilfe nahm er meist nur ungern in Anspruch. Erstere hatte sich damals gegen die Familie entschieden, die Kinder vernachlässigt und ihn aus dem gemeinsamen Haus geworfen. Daher missfiel es ihm, wenn Timo und Anne zu viel Zeit mit ihrer Mutter verbrachten.

Und seine Mutter kümmerte sich zwar liebend gern um die Enkel, aber sein Vater sah es nicht gern, wenn Dirk die Kinder zu oft bei ihrer Oma ablud. Nicht selten kam es deshalb zwischen seinen Eltern zu Meinungsverschiedenheiten. Hans Thamsen war der Ansicht, Dirk hätte schließlich gewusst, worauf er sich einließ, als er Timo und Anne zu sich genommen hatte. Nun müsse er eben sehen, wie er damit klarkam. Und genau das wollte er seinem Vater beweisen. Aus diesem Grund vermied er es in der Regel, seine Mutter um Hilfe zu bitten. Aber in diesem Fall würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben.

Pellworm lag nun einmal nicht eben um die Ecke. Gut 50 Kilometer bis nach Nordstrand und dann noch mit der Fähre auf die Insel. Eventuell würde er sogar übernachten müssen.

Er griff zum Telefonhörer.

»Ich kläre nur schnell ab, wie ich die Lütten untergebracht bekomme.«

Sein Vorgesetzter nickte und stand auf.

»Wenn ich mich gleich auf den Weg mache, schaffe ich es vielleicht heute wieder zurück«, murmelte Thamsen vor sich hin und überlegte, was er alles für den Notfall mitnehmen musste. Zahnbürste, Rasierzeug, Socken, Unterhose, Pullover.

Schlagartig fiel ihm dabei ein, dass er den eigentlichen Grund seiner Dienstreise gar nicht kannte.

»Warte mal«, rief er seinem Chef hinterher, der gerade das Büro verlassen hatte. Er sprang auf und holte ihn im Flur ein. »Was ist überhaupt los auf Pellworm?«

Rudolf Lange blieb stehen und räusperte sich. »Die haben im Watt eine Leiche gefunden. Anscheinend jemand von hier.«

Thamsen blickte seinen Vorgesetzten erstaunt an. Ein Toter auf Pellworm? Aus Niebüll?

»Wer soll das sein?«

*

Tom Meissner stellte den Motor seines Wagens ab und beobachtete durch die Windschutzscheibe die rot-weißen Schranken vor ihm.

Na, das hast du ja wieder gut abgepasst, ärgerte er sich und starrte ungeduldig auf seine Uhr.

Es war kurz vor vier. In wenigen Minuten würde die Filiale seiner Hausbank, die direkt auf der anderen Seite des Bahnübergangs lag, schließen.

Nach dem Mittagessen hatte er sich daran gemacht, seine Depotunterlagen zu sortieren. Dabei waren ihm fehlende Auszüge aufgefallen, ohne die es unmöglich war, die Entwicklung seiner Wertpapiere nachzuvollziehen. Tom war in solchen Dingen äußerst penibel. Immerhin gehörte es zu seinem Job, gewisse Vorgänge zu rekonstruieren und zu analysieren. Er wollte als Unternehmensberater nicht wie ein Laie vor seinem Bankberater stehen und daher möglichst viele Informationen schon einmal selbst herausarbeiten, bevor er die Dienste eines professionellen Kundenberaters in Anspruch nahm. In dieser Hinsicht war er sehr eigen. Es war ihm wichtig, zumindest einigermaßen kompetent aufzutreten, wenngleich Wertpapierbewertungen nicht gerade sein Spezialgebiet waren.

Er hatte die Nummer des Kreditinstitutes gewählt und gebeten, die fehlenden Unterlagen für ihn bereitzuhalten. »Ich hole sie heute Nachmittag ab«, hatte er angekündigt. Bei der Gelegenheit konnte er auch gleich einen persönlichen Termin vereinbaren.

Nun hatte er irgendwie die Zeit vergessen. Ein Telefonat mit einem ehemaligen Kollegen hatte länger gedauert als geplant, und da dieser ihn um eine kurze Einschätzung zu dem Fall einer Softwarefirma bat und Tom jemand war, der nichts gern auf die lange Bank schob, hatte er sich gleich daran gesetzt, die per Mail übermittelten Unterlagen durchzusehen. Erschrocken war er aufgesprungen, als er feststellte, dass es bereits 15.40 Uhr war.

»Ich fahre eben zur Bank«, hatte er Marlene von der Haustür aus zugerufen und sich eilig auf den Weg gemacht.

Die kleine Filiale lag nicht weit entfernt, nur wenige Minuten die Dorfstraße entlang, aber die geschlossene Bahnschranke brachte ihn richtig in Zeitdruck. Er verstand diese übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen ohnehin nicht. Musste denn in Risum-Lindholm schon der Bahnübergang verrammelt werden, nur weil in Westerland ein Zug losfuhr?

Natürlich entsprach sein Empfinden nicht der Realität. Trotzdem erweckten die gesenkten Schranken oftmals den Eindruck in ihm, ein Zug müsse in dieser ihm endlos erscheinenden Wartezeit mindestens die Strecke zwischen Westerland und Risum zurückgelegt haben.

Endlich zuckelte die Bahn vorbei. Er startete den Motor und trat leicht auf das Gaspedal. Doch die Straßenbarrikade rührte sich nicht. Er stöhnte laut auf. »Nun kommt auch noch einer aus der Gegenrichtung«, schnaubte er gereizt und schlug mit den Händen aufs Lenkrad. Jetzt erschien allerdings relativ schnell eine Diesellok, die zügig den Übergang passierte und gleich darauf hoben sich die Schlagbäume. Kaum war jedoch das Hindernis endlich überwunden, tat sich das nächste auf. Durch die heruntergelassenen Schranken hatte sich auf der Dorfstraße eine lange Schlange wartender Autos gebildet, die er als Linksabbieger alle im Gegenverkehr passieren lassen musste.

»Mensch!«, fluchte er, »da kann doch mal einer anhalten und mich schnell durchlassen.« Aber die Fahrer der entgegenkommenden Wagen hatten es anscheinend alle selbst eilig und fuhren einer nach dem anderen an ihm vorbei. Unverhofft tat sich jedoch plötzlich eine kleine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen auf. Tom gab Gas, riss das Lenkrad herum und raste mit quietschenden Reifen auf den Vorplatz der Bankfiliale.

Ein anderer Kunde, der die Geschäftsstelle gerade verließ, schüttelte verständnislos seinen Kopf. Doch Tom schenkte ihm keine Beachtung. Mit seinen Unterlagen unterm Arm eilte er in die Bank.

Vor dem Schalter stand ein älterer Mann und fuchtelte wild mit den Armen. Er trug eine blaue Arbeitshose und dazu eine dunkelbraune Cordweste, die mit Schaffell gefüttert war, welches am Kragen und an den Ärmelausschnitten hervorlugte.

»Ich lasse mich nicht verarschen! Ich will sofort den Chef sprechen!«

»Herr Jepsen, bitte beruhigen Sie sich«, versuchte die blonde Dame hinter dem Tresen, den aufgebrachten Klienten mit leiser Stimme zu besänftigen. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Wangen glühten förmlich und kleine rote Flecken übersäten ihren Hals bis hinab zu einem dezenten Dekolleté. Anscheinend hatte der Kunde seinen Ärger bereits eine ganze Weile...