Odessa-Komplott - Tom Sydows zweiter Fall

von: Uwe Klausner

Gmeiner-Verlag, 2010

ISBN: 9783839234761 , 278 Seiten

5. Auflage

Format: ePUB, PDF

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Odessa-Komplott - Tom Sydows zweiter Fall


 

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Lehrter Bahnhof, britischer Sektor | 09.45 h

Man musste eine Menge Fantasie aufbieten, um in der ausgebrannten Ruine am Spreebogen den einstigen Berliner Vorzeigebahnhof zu erkennen. Anstelle der Glasfassade gähnte ein leerer Schlund, und von der Halle, dem einstigen Prunkstück, war nur noch das Stahlgerippe übrig. Ein Eindruck, wie er trostloser nicht hätte sein können.

Eins stand jedoch fest: Von Ruinen, Trümmerbergen und Bombenkratern durfte er sich nicht unterkriegen lassen. Und vom Kohldampfschieben auch nicht. Sonst hätte er sich ja gleich eine Kugel verpassen können. Sydow steckte sich seine letzte Lucky Strike an und sog das Aroma genüsslich ein. Obwohl der Krieg der Vergangenheit angehörte, war er immer noch allgegenwärtig. Damit musste er leben. Wie die übrigen, gut drei Millionen Berliner auch. Kaum etwas zu beißen, abgelegte Klamotten, stundenweise Strom und Gas – noch lange kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.

Ruinen hin oder her.

Begleitet vom Lärm einer MiG-9, die im Tiefflug über den zerstörten Reichstag donnerte, zwängte sich der knapp 1,90 Meter große Kriminalhauptkommissar durch den Pulk der Pendler, Schwarzhändler und Stadtstreicher, die sich vor dem Hauptportal herumdrückten, und betrat die weitläufige Bahnhofshalle. »Na, Sydow – auch schon da?«, rief ihm Bechtel, Fotograf bei der Spurensicherung, schon von Weitem zu. »Wohl von der schnellen Truppe, was?«

»Klar doch«, antwortete Sydow, vergrub die Hände in den Taschen und rang sich ein Lächeln ab. Es gab Tage, da konnte einem der agile, stets gut aufgelegte Kugelblitz mit seinem Gewusel auf den Wecker gehen. Angesichts der Stimmung, in der er sich befand, kam ihm seine flapsige Art jedoch wie gerufen. »Und du, rasender Reporter – auf dem Weg ins Präsidium?«

»Haarscharf kombiniert«, erwiderte Bechtel mit todernster Miene. »Und weißt du auch, warum? Reiner Selbsterhaltungstrieb. Oder Schiss vor einem gewissen Tom Sydow. Komischer Patron.« Bechtel, exakt so groß wie sein berühmtes Vorbild, setzte sein Heinz-Rühmann-Grinsen auf. »Der hätte die Fotos nämlich am liebsten bereits vor dem Mord.«

»Sehr witzig, Kurt.« Sydow zog an seiner Lucky Strike. »Im Ernst: schon irgendwelche Erkenntnisse?«

Ein Schatten legte sich über Bechtels Gesicht. »Dein Job«, antwortete er gedämpft. »Unter uns: Eine derart übel zugerichtete Leiche habe ich seit Langem nicht mehr gesehen.«

»So schlimm?«

»Schlimmer, als es sich Mylord vorstellen können.« Bechtel pausierte und sah Sydow fragend an. »Haste vielleicht eine Fluppe für …«

»Meine letzte, Kurt. Bedauerlicherweise. Sonst noch was?«

Bechtel zuckte die Achseln. »Weiblich, blond, rotes Kleid, Stöckelschuhe, knapp 30 – am besten, du schaust sie dir mal an, Tom.«

»Kann’s kaum erwarten. Und die Fotos?«

»Siehst du!«, rief Bechtel mit gespielter Entrüstung aus. »Wenn dieser Sydow kein Sklaventreiber ist, will ich doch glatt Josef Stalin …«

»Bitte nicht der, Kurt.«

»Einverstanden, Mylord. Spaß beiseite: um zehn im Präsidium – okay?«

»Nichts wie ran, Held der Arbeit. Oder ab nach Sibirien.«

»Dann doch lieber in die Dunkelkammer«, gab Bechtel schlagfertig zurück, tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe und trollte sich. »Mach’s gut, Tom. Und Kopf hoch!«

»Du auch, Kurt. Bis nachher«, rief ihm Sydow hinterher, drehte sich um und wandte sich den Gleisen zu. Außer einer Handvoll Reisender, die einem Vorortzug entstiegen, herrschte nicht übermäßig viel Betrieb, weshalb es Sydow nicht schwerfiel, seinen Kollegen Krokowski von der Spurensicherung unter dem Schild mit der Aufschrift ›Gleis II‹ zu entdecken.

»Guten Morgen, Herr Kriminalhauptkommissar von Sydow«, lautete die Begrüßung des gerade einmal 20-jährigen Strebertyps aus Heiligensee.

»Den Kriminalhauptkommissar können Sie sich sparen, Krokowski, und das von sowieso!«, entgegnete Sydow, dem das Oberprimanergetue des Kriminalassistenten in spe gewaltig auf den Wecker ging. So was von übereifrig, devot und effizient hatte die Welt noch nicht gesehen. Im Stillen fragte er sich, wie lange es noch dauern würde, bis diese Witzfigur in Knickerbockern Polizeipräsident werden würde. Bis zu einer mäßig gelungenen Kopie von Sherlock Holmes hatte es Krokowski ja immerhin geschafft. »Kann es sein, dass ich Ihnen das schon hundertmal gesagt habe?«

Krokowski fummelte an seiner Fliege Marke Theo Lingen herum und näselte: »Wie der Herr Kriminal… äh … wie Sie wünschen, Herr Sydow«, stammelte er, machte einen Bückling und fügte rasch hinzu: »Wenn Sie mir dann wohl bitte folgen würden, Herr Krimi…«

»Mit Vergnügen, Herr Kriminalassistent zur Anstellung

Als Krokowski den Zinnsarg öffnete, in dem der Leichnam lag, kam es Sydow fast hoch. Die Tote sah schlimmer aus als befürchtet. Schwer vorstellbar, dass dieser Torso einmal ein Mensch gewesen war. Und doch war dem so. Dank Theo Lingen dem Zweiten, der zwei Schupos angefordert hatte, um Gaffer auf Distanz zu halten, war er wenigstens ungestört.

Unter den gegebenen Umständen das einzig Wahre.

Tom Sydow schnappte nach Luft. Wenn jemand so viel hinter sich hatte wie er, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man war ein Nervenbündel oder durch nichts mehr zu erschüttern. Obwohl er sich der letzteren Spezies zurechnete, wandte Sydow den Blick schnell wieder ab. So etwas war ihm bis jetzt noch nicht untergekommen. Keine Frage. Um diesen Anblick zu ertragen, musste man verdammt hartgesotten sein.

Oder jede Menge Glimmstängel parat haben.

Da er damit jedoch nicht aufwarten konnte, warf Sydow seine Kippe achtlos auf das Gleis, beugte das Knie und betrachtete den Leichnam aus der Nähe. »Mannomann«, ächzte er, während sein Magen spürbar rebellierte. »Fundort?«

»Auf den Gleisen unterhalb der Invalidenstraße. In etwa 100 Meter von hier.« Für seine Verhältnisse hörte sich Krokowski ausgesprochen geknickt an.

»Überfahren?«

Krokowski nickte und schlug seinen Notizblock auf. »Von einer Rangierlok«, antwortete er, heilfroh, sich ablenken zu können. »Beim Lokführer handelt es sich um einen gewissen Ernst Pawelka«, sprudelte es aus ihm hervor. »Zurzeit wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, Blücher­straße …«

»Wo steckt denn eigentlich der Leichenfledderer?«, würgte Sydow den Redeschwall von Theo dem Zweiten brüsk ab.

»Doktor Peters?«, gab Krokowski pikiert zurück, ohne jeden Sinn für schwarzen Humor. »Kann noch dauern. In der Pathologie herrscht anscheinend Hochbetrieb.«

»Na schön«, brummte Sydow, klappte den Sargdeckel zu und rappelte sich mühsam auf. »Dann tun Sie mir den Gefallen, Krokowski, und schaffen die Tote ins Leichenschauhaus. Die beiden Schupos da vorne können ja mit anpacken.«

»Ganz wie Sie wollen«, nörgelte Krokowski, winkte die Polizisten heran und gab ihnen ausführliche Instruktionen. Nicht eben begeistert ließen die Schupos den Redeschwall über sich ergehen, wuchteten den Sarg hoch und trugen ihn weg. Krokowski folgte ihnen auf dem Fuß.

»Und dieser Pawelka?«, rief ihm Sydow hinterher.

»Einen kurzen Moment, bitte. Ich gebe ihm Bescheid.«

Der Mann, von dem die Rede war, saß mit hängendem Kopf auf einem Gepäckwagen und starrte Löcher in die Luft. Er war noch größer als Sydow, mindestens 50 Kilo schwerer und trug einen schwarzen Drillich­anzug mit der Aufschrift ›DR‹. Auf Krokowskis Bitte, sich zu Sydow zu begeben, zeigte er zunächst keinerlei Reaktion, blickte dann jedoch auf und setzte sich in Bewegung. Bis er die 20 Meter Distanz hinter sich gebracht hatte, verging eine halbe Ewigkeit, und selbst dann, als er Sydow gegenübertrat, schien er mit den Gedanken woanders zu sein.

»Ernst Pawelka, nehme ich an?«, fragte Sydow den rußgeschwärzten Koloss, allem Anschein nach total von der Rolle.

Der Angesprochene nickte.

»Tom Sydow, Kripo Berlin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich noch ein paar Fragen.«

Mit einer Geste, die sowohl Verlegenheit als auch Zögern ausdrückte, fuhr Pawelka mit dem Daumen über das unrasierte Kinn. Auf eine Antwort wartete der Kommissar indes vergebens.

»Sehr schön.« Sydow, nicht einer der Geduldigsten, ließ sich davon jedoch nicht anstecken, setzte sein Strahle­mannlächeln auf und sagte: »Meinem Kollegen von der Spurensicherung zufolge handelt es sich bei Ihnen um denjenigen, der … der den Leichnam gefunden hat.« Sydow ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er hinzufügte: »Richtig?«

»Gefunden ist vielleicht nicht das richtige Wort«, rang sich Pawelka endlich zu einer Antwort durch. »Überrollt vielleicht schon eher.«

»Hm.« Um Pawelka, der offenbar einen Heidenrespekt vor ihm hatte, nicht unnötig unter Druck zu setzen, legte Sydow eine erneute Kunstpause ein. Woraufhin er ergänzte: »Scheißgefühl, stimmt’s?«

Der Koloss dankte es ihm mit einem gequälten Lächeln. »Kann man wohl sagen«, flüsterte er, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo die junge Frau unter die Lok geraten war. »Und dann noch aus heiterem Himmel.«

Froh, einen Aufhänger gefunden zu haben, tat es Sydow seinem Gesprächspartner gleich. Im Lärm einer Lautsprecherdurchsage, die sich auf den Vorortzug gegenüber bezog, ging seine Frage unter, weshalb er gezwungen war, sie kurze Zeit später zu wiederholen. »Aus heiterem Himmel?«,...