Mythos Mutterinstinkt - Wie moderne Hirnforschung uns von alten Rollenbildern befreit und Elternschaft neu denken lässt - Von Muttertät und Matreszenz

Mythos Mutterinstinkt - Wie moderne Hirnforschung uns von alten Rollenbildern befreit und Elternschaft neu denken lässt - Von Muttertät und Matreszenz

von: Annika Rösler, Evelyn Höllrigl Tschaikner

Kösel, 2023

ISBN: 9783641301521 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Mythos Mutterinstinkt - Wie moderne Hirnforschung uns von alten Rollenbildern befreit und Elternschaft neu denken lässt - Von Muttertät und Matreszenz


 


muttergefühl die große liebe auf knopfdruck?


Mir geht’s gut. Wirklich.
Mama zu sein ist echt toll.

Das sagt Judith zu uns, als wir sie sechs Wochen nach der Geburt ihres ersten Kindes besuchen dürfen. Sie sitzt uns gegenüber auf ihrem beigen Sofa, nach langem Schreien hat sich der kleine Wurm in ihren Armen nun endlich beruhigt und trinkt an ihrer Brust. Wir schauen Judith an, unser Herz spürt es längst, jetzt zeigen es auch ihre Tränen. Es sind keine Tränen des Glücks, das wissen wir alle. Judith beginnt zu zittern.

Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich versuche, alles richtig zu machen. Emil ist wundervoll. Aber ich fühle mich manchmal so unfähig. Sogar bei meinem Mann beruhigt er sich viel schneller als bei mir. Dabei bin ich doch seine Mama. Ich will ihn oft schon gar nicht mehr aus seinem Bettchen nehmen, wenn er schreit. Natürlich mache ich es trotzdem!

Sie schaut uns erschrocken über sich selbst etwas zu eindringlich an. Dann bricht ihre Stimme, und sie fällt noch mehr in sich zusammen.

Manchmal will ich einfach nur weg sein. Ich habe mir das alles so anders vorgestellt … Ich liebe mein Kind, aber es fühlt sich gerade so an, als ob ich mein Leben verloren hätte. Dabei wollte ich das doch alles. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, oder?

Sie streichelt Emil übers Köpfchen und schaut uns an. Ihre Worte hallen laut in diesem scheinbar friedlichen Moment des Stillens. Auf dem Sofa neben Judith türmen sich Kuscheltiere, Strampler und Grußkarten. »Herzlichen Glückwunsch zur Geburt, wir freuen uns mit euch für euer großes Glück.« Daneben eine Milchpumpe, eine geöffnete Tube Brustwarzen-Gel und zwei randvolle Tassen mit Tee. Kalt vermutlich. Die Situation in Judiths Wohnzimmer erdrückt uns förmlich. Auch wenn schon viele Jahre vergangen sind seit der Geburt unserer ersten Kinder, spüren wir sofort wieder diese Emotionen. Diesen stechenden Schmerz, eine nicht erklärbare Traurigkeit und das sich stets in den Vordergrund drängende Gefühl, nicht richtig zu sein. Nicht genug. Nicht genug zu wissen, nicht genug zu lieben und nicht genug zu schaffen.

Mit jedem Baby wird auch immer eine Mutter geboren. Wie oft haben wir diesen Satz schon gelesen und auch selbst geschrieben. Denn es ist wichtig zu verstehen, dass kleine Mädchen nicht schon zur Mutter bestimmt sind, nur weil sie über zwei X-Chromosomen verfügen. Erst Kinder machen Frauen zu Müttern. Allerdings ist diese Geburt einer Mutter ein Prozess über Jahre hinweg und benötigt weit mehr als neun Monate Schwangerschaft und ein paar Stunden Wehen. Mutterwerden ist die Entwicklung einer neuen Identität, die in der Schwangerschaft in Bewegung gesetzt wird und längst nicht mit dem Abnabeln des Säuglings abgeschlossen ist.

Bevor wir den Mutterinstinkt im zweiten Teil dieses Buches neurowissenschaftlich genauer auf den Prüfstand stellen, müssen wir uns zunächst fragen: Was bedeutet der Begriff eigentlich für uns? Schauen wir uns vorab das Wort »Instinkt« im Allgemeinen an. Im Duden existieren hierfür zwei Definitionen:

  1. unbewusst gesteuerter, natürlicher Antrieb zu bestimmten Verhaltensweisen; ererbte Befähigung besonders der Tiere, in bestimmten Situationen in bestimmter, nicht bewusst gelenkter Weise zu reagieren, ein bestimmtes (besonders lebens- und arterhaltendes) Verhalten zu zeigen
  2. sicheres Gefühl eines Menschen für etwas

Als Beispiel für Punkt 1 nennt der Duden direkt nach den tierischen Instinkten den Mutterinstinkt. Ein natürlicher Antrieb zu bestimmten Verhaltensweisen? Und warum steht da nichts über Väter und ihre Gefühle? Nichts über nicht-biologische Mütter und auch nichts über freiwillig oder unfreiwillig kinderlose Frauen?

Der Mutterinstinkt bedeutet laut Definition also in erster Linie etwas ganz Natürliches, etwas Ursprüngliches. In den letzten Jahren beobachten wir in der privilegierten Mittelschicht das immer stärker werdende Bedürfnis nach ebendieser »Natürlichkeit«. Wir kaufen stolz krumme Karotten, möchten unsere Babys immer öfter in weniger klinischem Ambiente gebären und greifen bei der Schminke beherzt auf Nude-Töne, um frisch und doch ungeschminkt auszusehen. Natürlichkeit scheint das Maß aller Dinge zu sein.1 Und das Bild des natürlichen Mutterinstinkts nährt dieses gesellschaftliche Narrativ auf eindrucksvolle Art und Weise. Aber tut uns dieser Glaubenssatz wirklich gut? Unsere natürliche Welt, die wir uns wünschen, ist in Wahrheit nämlich eine ziemlich künstliche. Kaum ein Wald, in dem unsere Kinder mit ihren schönen Merinowolljacken spielen, ist natürlich gewachsen, viele Flüsse, in die sie Steine werfen, sind angelegt.2 Und teure Produkte aus dem Bio-Laden fallen bei Stiftung Warentest aufgrund zu vieler künstlicher Zusatzstoffe durch. Wir schicken unseren Freunden tagtäglich zig Sprachnachrichten, anstelle sie in natura zu treffen. Anstatt in einer fremden Umgebung ortskundige Menschen nach dem Weg zu fragen, laufen wir mit gesenktem Blick auf das Smartphone durch die Straßen. In den Krankenhäusern wird jede fünfte Geburt eingeleitet, und wir blicken auf eine Kaiserschnittrate von über 30 Prozent. Bei den »natürlichen« Geburten werden Frauen dazu angehalten, in Rückenlage zu gebären, was kaum unnatürlicher und unphysiologischer sein könnte.3 Und doch soll Mutterschaft die natürlichste Sache der Welt sein? Manchmal erweckt es den Eindruck, dass diese natürliche Mütterlichkeit für alle eine Art Trost spendet, Zuflucht bietet in Zeiten der Angst und Unsicherheit. Wer sollte sich nach den Kriegen um den Wiederaufbau und die traumatisierten Männer kümmern? Wer hatte sofort beruhigend zur Stelle zu sein, als die WHO 2020 eine weltweite Pandemie ausrief, und unterrichtete neben der Erwerbstätigkeit plötzlich den schulpflichtigen Nachwuchs? Wem oblag es, Ängste zu mildern, nach Bastelideen für die jüngeren Geschwister und irgendwann auch nach guten Therapeut*innen für sich selbst oder die eigenen Kinder zu googeln? Wer hat immer da zu sein, wenn die innere oder äußere Welt zusammenzubrechen droht? Es sind die Mütter.

Und warum ist das so? Weil Mütter – so lautet das noch immer bestehende gesellschaftliche Narrativ – instinktiv wissen, was zu tun ist, und obendrein bedingungslos lieben. Bis zum Jahr 2016 war im Duden noch die folgende Definition von Mutterliebe angeführt: »fürsorgliche, opferbereite Liebe einer Mutter zu ihrem Kind«. Dies wurde glücklicherweise vor ein paar Jahren an die Definition von Vaterliebe angepasst. Denn bei den Vätern stand schon seit jeher recht pragmatisch: »Liebe eines Vaters zu seinem Kind«.4 Kein Wunder also, dass Frauen und auch Männer bislang immer davon ausgegangen sind, Mütter verfügten aufgrund ihres Geschlechtes über eine Art Mutter-Kompetenz und im Verlauf der Schwangerschaft, spätestens aber mit der Geburt ihres Kindes würde sich ein sicheres Gespür dafür einstellen, wie das Muttersein funktioniere. Und auch die versprochene Mutterliebe wäre dann allgegenwärtig. Wenn unsere Gesellschaft von Mutterinstinkt spricht, dann ist damit nicht nur ein lebens- und arterhaltendes Verhalten gemeint, was einen Instinkt laut Definition ja ausmacht. Sondern der Mutterinstinkt wird neben aufopfernder, nahezu heroischer Fürsorge auch mit grenzenloser Mutterliebe gleichgesetzt.

An diesem Punkt wird es jedoch gefährlich für Frauen, denn der Begriff »Mutterliebe« wird dabei schnell zum Kampfbegriff.5 Diese »Ur-Liebe« einer Mutter zu ihrem Kind wird nicht nur mit Gefühlen aufgeladen, sondern auch mit zahlreichen Verbindlichkeiten.6 Mit einem einzigen Lächeln des Kindes vergessen Mütter jeden Schmerz, jede schlaflose Nacht, jeden ungerechten Mental Load. So die gängige Erzählung. Die meisten Menschen wissen und fast alle Frauen spüren, dass es nicht so ist. Dennoch halten sich Idealisierungen wie diese hartnäckig in vielen Köpfen, und damit auch in unserem Sprachgebrauch. Wir wissen alle, dass es nicht die Liebe auf den ersten Blick ist, die uns Krisen überstehen, Durststrecken gehen und Verletzungen verzeihen lässt. Liebe in jeder erdenklichen Form muss sich immer entwickeln. Sie ist ein Gefühl, sie lässt sich nicht erzwingen, und wir können keine Bedingungen an sie stellen. In der Mutterliebe wird das allerdings gesellschaftlich getan. Die Frau wird von Natur aus mit einer instinktiven fürsorglichen Kompetenz sowie einer unerschöpflichen Quelle an aufopfernder Liebe ausgestattet – so das Credo. Wir glauben nicht nur an dieses Bild der »geborenen« Mutter, nein, wir leben in einer Umgebung, die dieser Vorstellung den Rang einer unumstößlichen Wahrheit verliehen hat. Die instinktiv mütterlich handelnde, hingebungsvolle, die gütige, die bedingungslos liebende Mutter. Stets fürsorglich und opferbereit. Ein Bild, das omnipräsent ist, das uns ganz selbstverständlich umgibt und uns in Werbung und Verfilmungen, in Büchern und Zeitschriften Tag für Tag entgegenlächelt.

Über dieses Mutterbild und die Urangst, keine gute Mutter zu sein, haben wir mit der Ethnologin und Journalistin Marie Zeisler gesprochen. Sie ist dreifache Mutter und Gründerin von LittleYears, einem digitalen Magazin für Eltern, das monatlich tausende Leser*innen erreicht.

Für mich war das Mutterwerden vor allem erstmal hart. Weil ich so tief verankerte Vorstellungen davon hatte, wie ich sein sollte. Aufopfernd, glücklich, gelassen, dabei aber stets um Harmonie bemüht. Mein Baby sollte immer an erster Stelle kommen....