Drachenbanner - Ein Waringham-Roman

Drachenbanner - Ein Waringham-Roman

von: Rebecca Gablé

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2022

ISBN: 9783751728041 , 924 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Drachenbanner - Ein Waringham-Roman


 

Waringham, Juni 1238


»Bedric! Oh mein Gott, Bedric, komm schnell, es ist so furchtbar …«

Bedric ließ die Sense sinken, und als er sich umwandte, sah er seine Schwester mit fliegenden Zöpfen auf sich zulaufen, die Hände in die Höhe gereckt, als wolle sie den Himmel anflehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Wangen nass von Tränen, aber erst als er das Blut auf ihrem Rock sah, spürte er einen heißen Stich der Angst in der Magengegend.

Er trat ihr entgegen. »Was ist passiert?«

Bertha krallte die Hände um seinen Unterarm und zerrte. »Es ist Vater! Beim Fällen gab es ein Unglück, der Baum hat ihn eingeklemmt. Die anderen haben ihn rausgezogen, aber …« Sie weinte jetzt so bitterlich, dass sie nicht weitersprechen konnte.

Bedric befreite seinen Arm aus ihrem Klammergriff und sah sich um. Wigot, der Heuwart, der das Mähen überwachte, stand am anderen Ende der langen Südweide beim Proviantkarren und genehmigte sich vermutlich einen Becher Ale. Zu weit entfernt, um ein Rufen zu hören, doch Bedric wusste, er würde kostbare Zeit verlieren, wenn er erst hinüberlief und um Erlaubnis fragte, ehe er seinem Vater zu Hilfe eilte.

»Geh nur«, sagte Ordulf plötzlich neben ihm und nahm ihm die Sense ab. »Ich erklär’s ihm.« Er sah zu Bertha. »Bist du sicher, dass genug Männer dort sind, um euren Vater nach Hause zu bringen?«

Sie nickte, packte Bedrics Hand und zerrte ihn Richtung Gatter. »Komm endlich«, flehte sie, ihre Stimme immer noch tränenerstickt, aber das Schluchzen hatte nachgelassen. Jetzt, da sie ihren großen Bruder gefunden hatte, war sie ruhiger geworden.

Es war ungefähr eine Meile bis zu der Rodung im Wald, wo Lord Waringham ein Dutzend Buchen hatte markieren lassen, die als Bau- und Brennholz für die Baronie bestimmt waren. Bedric und Bertha folgten dem staubigen Pfad, der ein langgezogenes, in Streifen unterteiltes Feld säumte, und erst als sie in den Schatten der Bäume eintauchten, fragte er: »Hast du gesehen, wie es passiert ist?«

Seine Schwester schüttelte den Kopf. »Mutter hatte mich geschickt, Vater Schmalzbrot zu bringen, und als ich hinkam, waren Onkel Edgar und die anderen gerade dabei, den Stamm mit langen Stangen anzuheben und Vater rauszuziehen, aber …«

»War er bei Bewusstsein?«

Sie sah zu ihm auf und nickte stumm, stolperte prompt über eine Baumwurzel und wäre gestürzt, hätte Bedric nicht ihr Handgelenk gepackt.

»Und konnte er Arme und Beine bewegen?«, fragte er weiter.

»Ich weiß nicht …« Sie fing wieder an zu schluchzen, und er stellte ihr keine Fragen mehr, sondern zog sie weiter, so schnell sie konnte. Bertha war erst elf, ihre Beine ein gutes Stück kürzer als seine, rief er sich ins Gedächtnis, aber es machte ihn schier wahnsinnig, wie langsam sie vorankamen. Doch er wollte sie nicht hier allein lassen, um vorauszulaufen. Sie war so verstört, und man konnte sich in diesem Wald hoffnungslos verirren, wenn man nicht achtgab.

Die Bäume zu beiden Seiten bildeten ein Dach aus hellem Frühlingsgrün über dem Pfad. Die Junisonne blinzelte hindurch und malte goldene Flecken auf die gute schwarze Walderde. Irgendwo in der Nähe balzte ein Fasan im jungen Farn, und im nächsten Moment erahnte Bedric eine Bewegung zu seiner Linken, wo es heller war. Er wusste, sie waren am Ziel.

Eine unordentliche Traube aus Männern stand etwa in der Mitte der Rodung neben dem Stamm einer gewaltigen gefallenen Buche. Als sie Bedric kommen sahen, verstummte ihr Gemurmel, und sie machten ihm Platz. Langsam, so schien es ihm, zögerlich, und keiner wollte ihm in die Augen sehen. Nur sein Onkel Edgar schaute ihn an und nickte ernst. Er hatte sein Beil unter den rechten Arm geklemmt, der einen Spann unterhalb des Ellbogens in einem glatten Stumpf endete, und legte Bedric für einen Augenblick die verbliebene Hand auf den Arm. Dann trat auch er beiseite, und endlich hatte Bedric freien Blick.

Sein Vater lag auf dem Rücken, das Gesicht bleich wie Lammwolle. Sein linkes Bein war angewinkelt, das rechte ausgestreckt und blutüberströmt, vermutlich gebrochen. Buchenzweiglein hatten sich in seinem schulterlangen Blondschopf verfangen, bedeckten sein blutbesudeltes Gewand genau wie den Waldboden um ihn herum. Sie bildeten einen so dichten Teppich, dass Bedric erst mit Verspätung begriff, was seine Augen sahen: Ein hell belaubter Ast, dick wie ein Kinderarm, ragte seitlich unterhalb der Rippen aus dem Leib seines Vaters.

Schlagartig schien alle Kraft aus Bedrics Beinen zu sickern. Mit zwei unsicheren Schritten schloss er die Lücke zwischen ihnen und fiel hart auf die Knie. »Vater …«

Langsam öffnete der Verwundete die Lider, und der Blick der meergrauen Augen glitt suchend über die Kronen der umstehenden Bäume, bis er Bedrics Gesicht fand. »Sieh mich nur an, mein Junge. Was die Franzosen nicht geschafft haben … erledigt ein gottverfluchter Baum.« Ein heiseres Keuchen drang aus seiner Kehle, das vielleicht ein Lachen sein sollte, doch es verstummte abrupt, weil plötzlich ein Blutschwall aus seinem Mund strömte, der über Kinn und Wangen rann. Tastend strich die linke Hand über das Zweigbett, und Bedric nahm sie in seine beiden.

Sein Vater kniff die Augen zu, bis der Schmerz ein wenig nachzulassen schien. Dann murmelte er: »Es tut mir leid. Aber du bist … du bist jetzt ein erwachsener Mann von vierzehn Jahren und …« Er konnte nicht weitersprechen, und sein Gesicht nahm mit einem Mal eine gräuliche Tönung an.

»Das bin ich. Also mach dir keine Sorgen.« Bedric rieb die große, schwielige Hand zwischen seinen und wischte sich verstohlen mit dem Oberarm über die Augen.

»Ich will, dass du meine Scholle bekommst«, sagte sein Vater. »Sie ist erbärmlich genug, aber du sollst sie haben, damit … damit du deine Mutter und Schwester und dich selbst versorgen kannst. Habt ihr das gehört, Edgar?«, fragte er und blickte stirnrunzelnd nach oben.

»Laut und deutlich«, versicherte sein Schwager.

»Tut doch endlich irgendwas«, flehte Bertha. »Wieso bringt ihr ihn nicht nach Hause?«

»Komm mit hinüber zum Holzplatz, Engelchen, ich erklär’s dir«, sagte Onkel Edgar. Und an die übrigen Männer gewandt: »Macht ein bisschen Platz. Lasst Godwin und Bedric ein paar Dinge in Ruhe besprechen.«

Bedric nahm vage zur Kenntnis, dass sich in seinem Rücken raschelnde Schritte entfernten, doch er sah sich nicht um. Er hielt den Blick unverwandt auf seinen Vater gerichtet und dessen Hand umklammert, als könne er das Leben so noch ein klein wenig länger festhalten.

»Ich hab dir noch so viel zu sagen«, murmelte sein Vater. »Aber … ich schaff es nicht …« Es klang schon verwaschen, wie schlaftrunken, und sein Atem brodelte. Rote Bläschen bildeten sich in den Mundwinkeln, und die Lippen waren beinah so weiß wie der Rest des Gesichts, wo sie nicht blutverschmiert waren.

»Das macht nichts«, versicherte der Sohn. »Ich weiß, was du mir sagen willst.«

Sein Vater schloss die Lider. »Was für ein jämmerliches Ende.« Obwohl überhaupt keine Kraft mehr in der Stimme war, hörte Bedric doch den Zorn und die Verzweiflung. »Krepiert bei der … bei der Fronarbeit für einen anderen Mann. Nicht besser … als ein Ochse, der tot unterm Joch zusammenbricht.«

»Schsch. Du darfst dich nicht so anstrengen.«

»Lass dir nicht weismachen … dass es Gottes Wille ist, denn … denn das ist eine Lüge. Adam war kein Leibeigener, als Gott ihn erschuf.« Er hustete, und wieder schoss ein Blutschwall aus seinem Mund, viel mehr Blut dieses Mal. Der Körper bäumte sich auf wie im Krampf, entspannte sich ebenso plötzlich, dann lag er mit einem Mal still, und der brodelnde Atem war verstummt.

Bedric ließ sich auf die Fersen zurücksinken und rieb sich bedächtig mit beiden Händen die Tränen von den Wangen. Dann beugte er sich über den Toten und küsste ihm die Stirn. »Wo immer du jetzt bist, ich hoffe, du bist frei.«

»Komm zurück! Adela, du wirst deinen Vater hier nicht einfach stehen lassen und …«

Mehr hörte sie nicht. Mit undamenhafter Hast und gerafften Röcken floh Adela aus ihrer Kammer, den Korridor entlang und die Wendeltreppe hinab, durchquerte die dämmrige Vorhalle und gelangte ins Freie. Rasch ließ sie den Blick durch den sonnenbeschienenen Burghof schweifen, aber zum Glück war weit und breit nichts von ihren Brüdern zu entdecken. Sie wandte sich nach rechts, umrundete den trutzigen Bergfried und kam auf der Südseite des alten Gemäuers in den Garten.

Sie verlangsamte ihre Schritte, folgte dem gewundenen Pfad zwischen den Kräuterbeeten und sog den Duft von Lavendel und Salbei ein. Auf der hölzernen Bank neben einem ausladenden Rosenbusch fand sie ihren Großvater, baute sich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Hast du davon gewusst?«, verlangte sie zu wissen.

»Sieh an, Lady Adela.« Yvain of Waringham betrachtete sie lächelnd, den Kopf zur Seite geneigt, die knochigen Hände auf den Knien. »Ich vermute, deine Mutter hat mit dir gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Vater«, erklärte sie düster. »Also das heißt, ja, du wusstest davon. Und hast es nicht für nötig gehalten, mich vorzuwarnen?«

»Du hörst dich an, als hätten deine Eltern ein Komplott gegen dich geschmiedet.«

»Genau so ist es ja auch!«, ereiferte sie sich.

»Nein.« Ihr Großvater wies auf den freien Platz neben sich. »Setz dich zu mir, Liebling.«

Adela zögerte. Sie war zu wütend und aufgewühlt, um stillzusitzen. Doch dann folgte...