Einsame Nacht - Kriminalroman - Der SPIEGEL-Bestseller #1

Einsame Nacht - Kriminalroman - Der SPIEGEL-Bestseller #1

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2022

ISBN: 9783641293253 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 11,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Einsame Nacht - Kriminalroman - Der SPIEGEL-Bestseller #1


 

Prolog
Montag, 26. Juli 2010


Er lag auf dem Sofa, starrte hinaus in den Garten und fragte sich, wann der Tag endlich vorbei wäre.

Sommertage waren schlimmer als andere, weil er sich noch viel ausgeschlossener fühlte als sonst. Wolkenloser blauer Himmel, der Duft von Blumen und frisch gemähtem Gras, die warme Luft. Das Leben.

Hier drinnen war es trotz der Hitze draußen recht kühl. Und einsam.

Alvin Malory blickte sich um: Der Raum war klein und düster. Zu viele Möbel, zu schäbig, zu vollgestellt. Kein Ort, an dem man sich wohlfühlen konnte. Sein Zimmer oben im ersten Stock gefiel ihm besser, aber um dort hinzukommen, hätte er aufstehen und sich die Treppe hinaufquälen müssen. Ihn schauderte allein bei der Vorstellung. Seine schmerzenden Gelenke. Sein keuchender Atem. Zudem war die Treppe schmal, machte eine scharfe Biegung. Er hasste es, sie hinaufzugehen. Er hasste es, sie hinunterzugehen. Er hasste es, hier im Wohnzimmer zu liegen.

Er hasste sein Leben.

Um ihn herum standen leer gegessene Aluminiumbehälter und Styroporschachteln, daneben große Pappbecher, die meisten ebenfalls leer. Er hatte heute Indisch bestellt. Mehrere Portionen Reis und Lammcurry, Chicken Vindaloo, mit Gemüse gefüllte Pasteten, frittierte Teigtaschen, Fladenbrot. Und Cola. Literweise Cola. Ein Dessert aus Honig, Kokos und Mandeln, zuckersüß. Ehrlich gesagt, mehrere Desserts. Von dem, was er geordert hatte, hätte eine Großfamilie problemlos satt werden können.

Er musste die Packungen wegräumen, ehe seine Eltern nach Hause kamen. Seine Mutter wusste Bescheid, sein Vater hatte keine Ahnung. Seine Mutter würde all die Behältnisse später irgendwo entsorgen, denn im Mülleimer direkt am Haus hätte sein Vater sie bemerken können. Alvin stopfte immer alles in einen Müllsack und stellte ihn in die Speisekammer, ganz nach hinten, verdeckt von einem Regal. Seine Mutter brachte ihn später von dort weg.

Stöhnend richtete er sich auf. Wie immer, wenn er hemmungslos gegessen hatte, wurde er von heftigen Schuldgefühlen geplagt: wieder versagt. Wieder keine Selbstbeherrschung gezeigt. Wieder die Kontrolle verloren. Morgen – morgen würde er damit aufhören. Er würde nichts bestellen. Garantiert nicht. Morgen schaffte er es.

Insgeheim wusste er aber, dass er es nicht schaffen würde.

Alvin Malory war sechzehn Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß und hundertachtundsechzig Kilo schwer.

Er schlurfte in die Küche, nahm einen Müllsack aus dem Schrank, schlurfte ins Wohnzimmer zurück, sammelte die Überreste seiner Mahlzeit ein und brachte dann alles in die Speisekammer. Jeder andere Junge hätte für diese Tätigkeit höchstens fünf Minuten gebraucht, bei Alvin waren es am Ende fast zwanzig Minuten. Sich zu bücken und die Schachteln aufzuheben … hin- und herzugehen … Wohnzimmer, Küche, Wohnzimmer, Küche … Allein davon taten ihm alle Knochen weh, und er war schweißgebadet.

Vor allem war ihm so schwer ums Herz, und er hatte wieder das Gefühl, tiefinnerlich zu frieren, trotz der Hitze. Als würde seine Seele frösteln. Eine kaum ertragbare Traurigkeit, gemischt mit einer verzweifelten Wut. Er sah sich selbst mit glasklarem Blick, wie er hier im Haus herumschlich und schwitzte, anstatt wie andere Jugendliche seines Alters am Strand zu sein oder beim Fußballspielen oder beim Eisessen mit Freunden. Es war Sommer, und er hatte Ferien. Er sah sich mitsamt seinem riesigen Bauch in seiner XXL-Trainingshose. Sah seine geschwollenen Füße. Sah sich selbst in seiner ganzen Einsamkeit. Die er nur lindern konnte, indem er aß. Während er aß, fror er nicht. Während er aß, fühlte er sich nicht allein.

Er blickte sich in der Küche um. Da standen noch abgedeckte Kuchenplatten, und es gab belegte Brote, Bier und Limonade im Kühlschrank. Am Vortag hatten sie den Geburtstag seiner Mutter gefeiert. Es waren Gäste da gewesen. Alvin überlegte gerade, ob sein Vater es merken würde, wenn er ein paar Tortenstücke wegnahm, da klingelte es an der Haustür.

Alvin erschrak. Es klingelte fast nie, während er hier allein war. Außer natürlich wenn der Lieferdienst mit dem Essen erschien. Aber der war an diesem Tag ja schon da gewesen.

Vom Küchenfenster aus konnte er nicht sehen, wer vor der Tür stand, und kurz überlegte er, einfach so zu tun, als sei niemand zu Hause. Vielleicht war es ein Staubsaugervertreter. Oder jemand von den Zeugen Jehovas.

Er zögerte. Es klingelte erneut.

Wenn er jetzt öffnete, vergaß er vielleicht die Torte. Besser für seinen Körper. Besser, falls sein Vater sich gemerkt hatte, wie viel noch übrig war.

Auf schmerzenden Füßen humpelte Alvin zur Haustür.

Er öffnete.

Keine fünfzehn Minuten später wünschte er voller Verzweiflung, er hätte es nicht getan.

Seitdem Isaac Fagan im Ruhestand war, verbrachte er jeden Tag viele Stunden in seinem Garten. Er hatte Rosen gepflanzt, die an der Wand seines kleinen Häuschens emporkletterten, und entlang des Zauns, der sein Grundstück umschloss, schossen Ritterspornstauden und Sonnenblumen in die Höhe. Ein blühendes Paradies, wie er fand. Als Witwer lebte er schon seit Jahren allein, aber dank seines Gartens fühlte er sich nie wirklich unglücklich. Er empfand so viel Freude beim Hegen und Pflegen seiner Pflanzen; das Herz hätte man ihm nur dann brechen können, hätte man ihn aus seinem Paradies vertrieben.

An diesem Tag hatte er den Rasen gemäht. Jetzt im Juli musste man das vergleichsweise selten tun, es war nicht wie im April, wenn man dem Gras beim Wachsen förmlich zusehen konnte und mit dem Mähen kaum hinterherkam. Aber Isaac liebte das Rasenmähen, weil er den Geruch des frisch geschnittenen Grases liebte. Heute hatte er sich das wieder einmal gegönnt, obwohl es vielleicht noch nicht wirklich nötig gewesen wäre.

Er ging am Zaun entlang und kratzte mit einem Rechen Grasreste zusammen, die dem Auffangkorb des Mähers entgangen waren. Dabei kam er an der Stelle vorbei, an der das Nachbarhaus sehr dicht an seiner Grundstückgrenze stand. Er mochte die Familie Malory, die dort lebte. Am Vortag war er bei Mrs. Malorys Geburtstagsfeier gewesen und hatte sich zwischen den vielen Menschen eigentlich recht gut gefühlt. Leider hatten die Malorys nicht einmal für die Party den Garten in Ordnung gebracht. Der Rasen gehörte längst wieder gemäht, die Büsche beschnitten. Und in den Beeten wucherte das Unkraut. Andererseits, das Ehepaar arbeitete hart, wann hätten sie die Zeit finden sollen, sich um all das zu kümmern? Aber der Sohn, Alvin, hätte ab und zu draußen arbeiten können. Das würde vielleicht auch seiner Figur guttun. Isaac fand Alvin nett und höflich, aber er war wirklich unförmig dick, und er wirkte sehr unglücklich. Immer allein, offenbar hatte er überhaupt keine Freunde. Seltsam für einen Sechzehnjährigen. Für Isaac war klar, dass das nur an seinem Äußeren liegen konnte. Armer Kerl.

Isaac warf einen Blick hinüber. Alvin hatte doch jetzt Schulferien. Er könnte wirklich … Aber er lag ja fast immer nur auf dem Sofa im Wohnzimmer herum und hantierte mit diesem Smartphone oder wie das Ding hieß, das heutzutage jeder ständig in der Hand hielt und hineinstarrte, als finde dort das eigentliche Leben statt. Isaac konnte das gerade an dieser Stelle am Zaun immer sehen, wenn er durch die Glastür einen Blick in das Wohnzimmer der Familie Malory warf. Auch jetzt schaute er hinüber, erwartete, Alvin auf dem Sofa liegen zu sehen.

Stattdessen zuckte er zurück.

Was war das denn?

Direkt jenseits der Glastür, drinnen im Zimmer, kauerte etwas … eine massige, dunkle, in sich zusammengesunkene Gestalt … Isaac kniff die Augen zusammen. Was war das? Ein Mensch? Oder ein Tier? Oder ein Gegenstand? Er konnte es einfach nicht richtig erkennen. Normalerweise war dort nichts. Aber jetzt war dort etwas.

Er trat näher an den Zaun, lehnte sich hinüber. Ihn trennten nur wenige Meter von der Tür.

Das Etwas bewegte sich.

Es richtete sich auf und schaute Isaac Fagan an.

»Oh Gott«, keuchte Isaac. Er erkannte Alvin, aber eigentlich nur deshalb, weil das Wesen jenseits der Tür Alvins Figur hatte. Ansonsten hatte Alvins Gesicht kaum etwas von dem Gesicht, das man an ihm gewohnt war. Die Augen waren unnatürlich weit aufgerissen und völlig starr, die Züge zu einer grotesken Grimasse verzerrt, und vor dem Mund stand Schaum, der unablässig neue Blasen bildete. Alvin hob eine Hand, ließ sie an die Glasscheibe sinken, in einer flehenden Geste. Kraftlos rutschte die Hand dann am Glas entlang nach unten. Alvins Kopf kippte nach vorn, er erbrach sich, es sah aus, als spucke er dabei Blut.

»Oh Gott«, wiederholte Isaac, »oh Gott!«

Was war denn bloß passiert? Der Schaum … ein epileptischer Anfall? Die weit aufgerissenen Augen … Isaac setzte an, über den Zaun zu klettern. Er musste irgendwie in das Haus hineinkommen. Er wusste, dass Mr. und Mrs. Malory wie üblich nicht da waren, der Junge war allein, und irgendetwas Schlimmes war ihm passiert.

Der Zaun schwankte unter seinem Gewicht. Einen Moment lang fürchtete Isaac, er werde in das unkrautüberwucherte Blumenbeet auf der anderen Seite stürzen. Für einen Mann seines Alters stellte ein solcher Zaun ein beachtliches Hindernis dar. Aber irgendwie schaffte er es, wenn ihm auch ein lautes, ratschendes Geräusch verriet, dass er sich die Hose eingerissen hatte. Er stand auf der anderen Seite zwischen Blumen, Unkraut und hohem Gras und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor ihm die Terrassentür, dahinter Alvin, eine große,...