Vortex - Roman

von: Robert Charles Wilson

Heyne, 2012

ISBN: 9783641073930 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Vortex - Roman


 

2


TURK

1.


Mein Name ist Turk Findley, und das habe ich erlebt, nachdem alles, was ich kannte und liebte, vergangen war. Die Geschichte beginnt in der Wüste eines Planeten, den wir Äquatoria nannten, und endet … nun, das ist schwer zu sagen.

Dies sind meine Erinnerungen. Dies ist, was geschah.

2.


Es waren an die zehntausend Jahre, die mich von meinem bisherigen Leben trennten. Das zu wissen, war schrecklich, und für eine bestimmte Zeitspanne war es nahezu alles, was ich wusste.

Ich erwachte im Freien, schwindlig, nackt. Die Sonne stach aus einem leeren blauen Himmel. Ich war entsetzlich durstig. Mein Körper schmerzte, meine Zunge lag wie tot im Mund. Ich setzte mich auf und wäre dabei fast umgekippt. Ich sah alles verschwommen. Ich wusste nicht, wo ich war oder wie ich hierhergekommen war. Und ich konnte mich auch nicht daran erinnern, woher ich kam. Ich hatte nur die grässliche Gewissheit, dass beinahe zehntausend Jahre vergangen waren (aber wer hatte sie gezählt?).

Ich zwang mich, ganz stillzusitzen, mit geschlossenen Augen, bis der Schwindel nachließ. Dann hob ich den Kopf und versuchte mir einen Reim auf das zu machen, was ich sah.

Ich befand mich mitten in einer Wüste. Soweit ich das beurteilen konnte, gab es hier meilenweit niemanden außer mir, und doch war ich nicht allein: Flugmaschinen zogen über mir vorüber. Sie waren seltsam geformt, und ich fragte mich, was sie wohl in der Luft hielt, denn ich sah weder Tragflächen noch Rotoren.

Ich beschloss, sie zu ignorieren, denn ich musste so schnell wie möglich aus der Sonne – meine Haut war stark gerötet, und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich hier schon lag.

Die Wüste bestand bis zum Horizont aus stark verdichtetem Sand, war aber mit Bruchstücken übersät, die an riesige zerbrochene Spielsachen erinnerten: ein paar Meter entfernt eine sanft gewölbte, halbe Eierschale, mindestens drei Meter hoch und mattgrün; und weiter weg andere ähnliche Formen in heiteren, aber verblassenden Farben, als wäre hier die Teegesellschaft eines Riesen verunglückt. Und weit, weit hinter allem eine Bergkette, die an einen verrußten Kieferknochen erinnerte. Es roch nach mineralischem Staub und heißem Gestein.

Ich krabbelte auf allen vieren in den Schatten der halben Eierschale, wo mich eine wohltuende Kühle umfing. Als Nächstes brauchte ich Wasser. Und dann vielleicht etwas, um mich zu bedecken. Doch die Anstrengung hatte mich wieder schwindlig gemacht. Eine der merkwürdigen Flugmaschinen schien über mir zu schweben. Ich wollte die Arme schwenken, um auf mich aufmerksam zu machen, aber meine Kräfte hatten mich verlassen und ich verlor das Bewusstsein.

3.


Ich wachte wieder auf, als man mich gerade auf eine Art Trage hob.

Die Menschen um mich herum trugen gelbe Uniformen und Staubmasken vor Mund und Nase. Neben mir ging eine Frau. Als sich unsere Blicke trafen, sagte sie: »Bitte bleib ruhig. Ich weiß, dass du Angst hast. Wir müssen uns beeilen, aber vertrau mir, wir bringen dich an einen sicheren Ort.«

Sie trugen mich in eine der Flugmaschinen, die inzwischen gelandet waren. In einer Sprache, die mir fremd war, richtete die Frau einige Worte an ihre Begleiter. Meine Häscher (oder Retter) stellten mich auf die Füße, und ich entdeckte, dass ich stehen konnte, ohne umzufallen. Die Luke kam herunter und schnitt mir die Sicht auf Wüste und Himmel ab. Ein sanfteres Licht flutete das Innere.

Ringsherum eilten Männer und Frauen in gelben Overalls geschäftig hin und her, während ich die Frau im Auge behielt, die Englisch gesprochen hatte. »Schön langsam«, sagte sie und nahm mich beim Arm. Sie war kaum größer als eins fünfzig, und als sie die Maske abnahm, sah sie beruhigend menschlich aus. Braune Haut, leicht asiatisches Gesicht, dunkles, kurzes Haar. »Wie fühlst du dich?«

Die Antwort wäre zu lang ausgefallen, also zuckte ich nur mit den Achseln.

Wir befanden uns in einem großen Raum. Die Frau führte mich in eine Ecke, und zusammen mit einem Regal für medizinisches Gerät glitt eine bettartige Fläche aus der Wand. Die Frau forderte mich auf, mich hinzulegen. Die anderen Soldaten oder Piloten – oder was immer sie waren – kümmerten sich nicht um uns und gingen ihrer Arbeit nach, befassten sich mit Armaturen, die in den Wänden eingelassen waren, oder verließen den Raum. Es fühlte sich an wie in einem aufsteigenden Lift; offenbar hatten wir abgehoben, obwohl nichts zu hören war als die Stimmen, die in einer Sprache redeten, die ich nicht kannte. Kein Hopser, kein Schaukeln, keine Turbulenz.

Die Frau drückte eine stumpfe Metallröhre erst auf meinen Unterarm und dann auf meinen Brustkorb, und meine Angst ebbte ab. Offensichtlich hatte sie mir ein Beruhigungsmittel verabreicht, was mir ganz recht war. Auch mein Durst war wie weggewischt. »Wie heißt du?«, fragte sie.

Ich krächzte, ich sei Turk Findley. Ich sei gebürtiger Amerikaner und habe zuletzt auf Äquatoria gelebt. Dann fragte ich, wer sie sei und woher sie komme.

Sie lächelte und sagte: »Ich heiße Treya, und der Ort, von dem ich komme, heißt Vox.«

»Sind wir dahin unterwegs?«

»Ja. Es dauert nicht mehr lange. Versuch jetzt zu schlafen.«

Also schloss ich die Augen und trug Stück für Stück zusammen, was ich über mich finden konnte.

Mein Name ist Turk Findley.

Geboren in den letzten Jahren des Spins. Mal Tagelöhner, mal Matrose, mal Pilot für Kleinflugzeuge. Auf einem Frachter kam ich durch den Torbogen nach Äquatoria und blieb ein paar Jahre in Port Magellan. Ich begegnete einer Frau namens Lise Adams, die ihren Vater suchte, was uns unter Leute brachte, die mit marsianischen Drogen experimentierten, was uns tief in die äquatorianische Wüste zu den Ölfeldern brachte zu einer Zeit, da es Asche zu regnen begann und merkwürdige Dinge aus dem Boden wuchsen. Ich liebte Lise Adams genug, um zu wissen, dass ich nicht der Richtige für sie war. Wir wurden in der Wüste getrennt. Und ich glaube, die Hypothetischen bemächtigten sich meiner. Lasen mich auf, trugen mich fort wie eine Welle ein Sandkorn. Spülten mich hierher, an diesen Strand, an diese seichte Stelle, zehntausend Jahre stromabwärts.

Dies war meine Geschichte, soweit ich sie rekonstruieren konnte.

Als ich wieder zu mir kam, hatte man mich umgebettet. Ich lag jetzt ungestört in einer Kabine der Flugmaschine. Treya, meine Wächterin oder Ärztin (ich wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte) saß an meinem Bett und summte eine Melodie. Ich trug nun eine Hose und darüber eine Art Kittel (wer hatte mich angezogen?).

Draußen war es Nacht. Durch das schmale Fenster links von mir sah man verstreute Sterne, die sich wie leuchtende Punkte auf einer Scheibe drehten, wann immer sich die Flugmaschine in eine Kurve legte. Der kleine äquatorianische Mond saß auf dem Horizont (was bedeutete, dass ich nach wie vor auf Äquatoria war, auch wenn es sich sehr verändert hatte). Tief unten weiße Schaumkronen, die vor Phosphoreszenz glitzerten. Wir flogen übers Meer, weit und breit kein Festland.

»Was ist das für eine Melodie?«, fragte ich.

Treya schrak auf. Sie war jung, vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig. Ihre Augen verrieten Aufmerksamkeit und Vorsicht, als hätte sie eine latente Angst vor mir. Aber sie lächelte über die Frage. »Nur ein Lied.«

Ein bekanntes Lied. Eines von diesen Klageliedern im Walzertakt, die in den Wirren nach dem Spin so beliebt gewesen waren. »Es erinnert mich an ein Lied, das ich mal kannte …«

»Après Nous.«

Richtig. Ich hatte jung und einsam in einer Bar in Venezuela gesessen … Ein schönes Lied, aber wie konnte es zehn Jahrtausende überdauern? »Woher kennst du es?«

»Wie soll ich das erklären? Ich … bin damit aufgewachsen.«

»Wirklich? Wie alt bist du denn?«

Sie lächelte wieder. »Nicht so alt wie du, Turk Findley. Aber ich habe einige Erinnerungen. Deshalb bin ich dir zugeteilt. Ich bin nicht nur deine Krankenschwester. Ich bin dein Übersetzer, dein Wegweiser und dein Fremdenführer, wenn du so willst.«

»Dann kannst du mir vielleicht erklären …«

»Ich kann dir viel erklären, aber nicht jetzt. Du brauchst Ruhe. Soll ich dir etwas zum Einschlafen geben?«

»Ich habe lange genug geschlafen.«

»Hat es sich so angefühlt, als du bei den Hypothetischen warst – wie Schlaf?«

Die Frage verblüffte mich. Ich wusste, dass ich irgendwie »bei den Hypothetischen« gewesen war, aber richtig erinnern konnte ich mich daran nicht. Sie schien mehr darüber zu wissen als ich.

»Vielleicht kommen die Erinnerungen zurück«, sagte sie.

»Kannst du mir verraten, wovor wir weglaufen?«

Sie runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Ihr konntet doch nicht schnell genug weg aus der Wüste.«

»Nun … diese Welt hat sich verändert, seit du aufgegriffen wurdest. Es gab Kriege. Der Planet wurde radikal entvölkert und hat sich nie wieder erholt. Eigentlich leben wir immer noch im Kriegszustand.«

Wie zur Bestätigung legte sich die Flugmaschine in eine scharfe Kurve, und Treya warf einen nervösen Blick durch das Kabinenfenster. Ein weißer Blitz löschte die Sterne aus und beleuchtete die rollenden Wogen tief unten. Ich setzte mich auf, um besser sehen zu können, und meinte am Horizont etwas auszumachen, als das grelle Licht verblasste – etwas wie einen fernen Kontinent oder (weil es nahezu eben war) ein riesiges Schiff....