Der Fall des Präsidenten - Thriller

Der Fall des Präsidenten - Thriller

von: Marc Elsberg

Blanvalet, 2021

ISBN: 9783641275365 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Der Fall des Präsidenten - Thriller


 

3


»Arthur Jones! Arthur Jones!«

Das Brausen von zwanzigtausend Stimmen füllte das Target Center in Minneapolis, begleitet vom tausendfachen Winken der Papierwimpel in den Farben der Nationalflagge.

Auf dem Podium vorn, sehr klein, stand der amtierende Präsident, hinter ihm die übliche Schar handverlesener Unterstützer aus erkennbar allen Bevölkerungsgruppen, sorgfältig ausgewogen zusammengestellt. Frauen, Männer, Kinder, jung, alt, heller, dunkler, Insider würden auch ein Mitglied der LGBTQ-Community erkennen. Alle trugen dieselben Sweater mit dem rot-blau-weißen Schriftzug ARTHUR JONES FOR PRESIDENT.

Auf dem gigantischen Monitor hinter ihnen hob der lächelnde Präsident, zwanzigfach vergrößert, beschwichtigend die Arme, um seine Rede fortzusetzen.

Den Moment musste Derek nutzen. Gemeinsam mit etwa dreißig Technikern, Veranstaltungsmanagern und Mitgliedern des Wahlkampfpersonals beobachtete er die Szene aus dem Regieraum, einem großen Plexiglas-Ei oberhalb des Publikums und gegenüber der Bühne. Er hasste es, den Präsidenten unterbrechen zu müssen. Jones’ Zornesausbrüche waren gefürchtet. Gerade kostete er die Klimax seiner Rede aus, das Bad in der Menge, nach dem er so dürstete. Weiter wachsen würde seine Wut, sobald er den Grund für den Coitus interruptus erfuhr.

»Rede möglichst rasch beenden, Mister President«, sagte Derek so leise in sein Headset, dass es niemand anders im Plexiglas-Ei hörte. Auf dem Riesenmonitor erkannte er an Jones’ Gesicht, dass dieser die Nachricht über den Knopf in seinem Ohr gehört hatte, aber nicht glauben konnte. Glauben wollte. Der Präsident behielt sein Lächeln bei, änderte aber die beruhigenden Handbewegungen zu einem Winken, das den Jubel der Menge erneut anfachte. Ein Profi. Wollte jetzt Zeit gewinnen, um sichergehen zu können, dass er richtig verstanden hatte.

Zehntausende waren an diesem Morgen aus dem halben Bundesstaat angereist, um ihrem Idol zuzujubeln. Einen US-Präsidenten holte man nicht ohne triftigen Grund vorzeitig aus einer Wahlkampfrede vor einer randvollen Halle. Manche blieben sogar dann vor einer Schulklasse sitzen, wenn man ihnen ins Ohr flüsterte, dass die USA gerade angegriffen wurden. Vielleicht würden Medienanalysten sich auf den TV-Schirmen später in aufgeregten Interpretationen überschlagen, ob der Präsident in diesem Augenblick die Nachricht erfahren hatte. Würden seine Mimik hundertmal über die Bildschirme der Nation laufen lassen. Sie kannten Jones’ Wahlkampfreden mittlerweile, wussten, welche Themen darin vorkamen. Würden sich vorerst nur wundern, dass er diesmal Teile ausgelassen hatte. Später würden ihnen diese fehlenden Teile das Argument liefern, dass er wohl rascher hatte zum Schluss kommen müssen.

Doch genau das mussten sie verhindern. Deshalb sollte Jones von der Bühne gehen und sich einklinken in die bereits vorbereitete Krisenschaltung mit den wichtigsten Kabinettsmitgliedern in Washington und wo die sich sonst noch gerade aufhielten.

»Rede möglichst rasch beenden«, wiederholte Derek. »Asap.«

Der Präsident behielt sein Lächeln bei, senkte die Hände als Signal, dass er weitersprechen wollte, und nickte ein paarmal. Für das Publikum musste es aussehen wie eine zufriedene Anerkennung des zwanzigtausendfachen Jubels, doch der kurze Blick währenddessen hinauf zu dem Plexiglas-Ei, den Derek auf dem Großmonitor gut erkennen konnte, zeigte ihm, dass Jones verstanden hatte.

»Arthur Jones, amtierender und nächster Präsident der Vereinigten Staaten!«, rief der Moderator, während Jones winkend und federnden Schrittes von der Bühne ging.

Die Halle tobte. Abertausende Wimpel flatterten, von der Decke regnete rot-blau-weißer Glitter.

Umringt von Security, schritt der Präsident mit verhaltener Eile durch den abgezäunten Gang entlang der vorderen Publikumsreihen und schüttelte noch die eine oder andere Hand, bevor er in den Eingeweiden des Veranstaltungszentrums verschwand, begleitet von einem halben Dutzend Kameras und ein paar Handykameras ausgesuchter Medien, der Presseabteilung des Weißen Hauses und des Wahlkampfteams. Über sie konnte Derek auf den Monitoren im Backstagebereich Jones’ Weg verfolgen. Durch die weniger glamourösen Gänge mit Sichtbetonwänden und Rohren an der Decke.

Der Backstagebereich bestand aus sechs unterschiedlich großen Räumen. Einer war für den Präsidenten allein, einer für die Maske, einer für die Medien, die übrigen für Mitglieder des Wahlkampfteams. Eine Riesenmaschine, über siebzig Leute telefonierten, bedienten Social-Media-Kanäle, bearbeiteten nach, wuselten zwischen den Tischen umher. Und das waren nur die vor Ort. Aus dem übrigen Wahlkampfteam hatte Derek vorerst niemanden eingeweiht. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, hatte er die Konferenzschaltung in Jones’ Garderobe vorbereitet. Niemanden würde es verwundern, wenn sich der Präsident kurz allein dorthin zurückzog.

Einige wunderten sich dennoch. Beim Durcheilen der Räume hatte Derek Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Kürzere Rede heute. Migration kaum angesprochen. Vor allem gegen Ende gehastet.

Derek würde ihnen einen Grund liefern. Später. Jetzt platzte Jones durch die Tür, gefolgt vom Schwarm der Securitys, Assistenten und Kameras. Gratulationen von allen Seiten, trotzdem, Händeschütteln, kurzes Winken und »Danke« an das Team. Derek schloss sich dem Pulk um den Präsidenten an, wurde auf einen Wink von Jones ganz an ihn herangelassen.

»Du hast hoffentlich einen sehr guten Grund, mich vorzeitig da runterzuholen«, zischte er.

»Gut ist er nicht«, sagte Derek, »aber wahlentscheidend.«

Sie hasteten weiter Richtung Garderobe, vor deren Tür alle anderen zurückbleiben mussten. Derek schloss die Tür von innen. Nun waren da nur mehr er und der Präsident. Und auf den Bildschirmen von drei Laptops die Gesichter der Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats.

Der Anblick erstickte Jones’ drohenden Wutausbruch. Dieser Aufmarsch bedeutete Ärger.

»Um siebzehn-zweiundvierzig Ortszeit, zehn-zweiundvierzig EDT, verhaftete die griechische Polizei in Athen Douglas Turner«, erklärte Derek. »Sie handelte aufgrund eines vorläufigen Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs.«

Jetzt hatte er Jones doch überrascht. Der Präsident allerdings besaß eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Und kaltblütiges Kalkül. Er musterte Derek kurz.

»Geschieht ihm recht, dem Arsch«, grummelte er. »Anyway …« Er checkte seine Armbanduhr. Dann blickte er in die Runde auf den Laptopschirmen. »Siebzehn Minuten her. Es ist noch nicht offiziell«, sagte er. »Sonst wäre da draußen die Hölle los.«

»Noch nicht«, sagte Derek. »Vor fünfzehn Minuten erreichten die ersten Anrufe seiner Mitarbeiter das Außenministerium, die US-Botschaft in Athen, das Weiße Haus. Die Verhaftung fand nicht in der Öffentlichkeit statt. Medien waren keine anwesend. In etwa eineinhalb Stunden will der Strafgerichtshof eine Pressemeldung herausgeben. Sobald Turner an seinen vorläufigen Aufenthaltsort gebracht wurde.«

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Jones entschieden. »Die glauben doch nicht im Ernst, dass wir das zulassen? Was tun wir?«

»Wir erkennen die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für US-Bürger nicht an«, klang die Stimme des Justizministers aus einem der Laptops. »Daher sollten wir direkten Kontakt vermeiden. Wir dürfen nicht einmal den Eindruck erwecken, dass wir uns auf ein Verfahren einlassen.«

»Wie lauten die konkreten Vorwürfe?«

»Will das Gericht mit der Pressemeldung bekannt geben. Unsere Leute sind dran, vorher etwas zu erfahren.«

»Trotzdem müssen wir mit ihnen reden«, sagte der Chief of Staff. »Wir haben mehrere Back Channels.« Inoffizielle Kontakte.

»Wir sollten ihnen sofort die Instrumente zeigen«, sagte der Außenminister, ein ehemaliger Fünf-Sterne-General mit gemeißeltem Gesicht unter dem kahl geschorenen Kopf. »Ich telefoniere gern mit der Chefanklägerin persönlich.«

»Keine direkten Kontakte«, wandte der Justizminister ein, »schon gar nicht auf so hoher Ebene …«

»Je höher die Ebene, desto besser«, widersprach der Außenminister. »Die müssen uns ernst nehmen. Sehr ernst!«

»Adam hat recht«, sagte Jones und meinte den Außenminister. »Wir müssen diese Sache beenden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Das gelingt nur, wenn wir an allen Fronten sofort höchsten Druck aufbauen. Nicht nur beim Strafgerichtshof. Der sitzt in Den Haag. Sondern auch bei der niederländischen Regierung als Gastgeberin des Strafgerichtshofs. Bei den Griechen natürlich. Bei der Europäischen Union. Und bei den wichtigsten Staatschefs der Union. Das gesamte Arsenal androhen. Einreisesperren in die USA für alle Personen, mir egal, ob sie französischer Präsident, deutscher Kanzler oder einer dieser EU-Oberclowns sind. Wirtschaftliche Sanktionen. Verbote für europäische Banken, in den USA Geschäfte zu machen, Rückzug aus der NATO und so weiter. Zur Not sogar den American Service-Members’ Protection Act.«

»Es sind unsere Verbündeten«, gab der Außenminister zu bedenken.

»Papperlapapp! Verbündete tun so etwas nicht!«

»Das könnte aber auch unserer Wirtschaft …«, wandte die Ministerin für Homeland Security ein, doch Jones schnitt ihr das Wort ab.

»Es kommt ja nicht so weit! Aber androhen müssen wir deutliche...