Suchen und Finden
Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.
Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf
diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch
Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.
Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.
Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will,
ist sie zugleich noch ungeboren. Heute,
da sie fünfundneunzig ist, kommt sie
auf diesem weißen Blatt zur Welt –
in eine undurchdringliche Leere, in die sie
lange runde Maulwurfblicke wirft und die sich
nach und nach mit Formen und mit Farben,
mit Vater Mutter Himmel Wasser Erde füllt.
Himmel und Erde sind bleibende Erscheinungen,
das Wasser aber kommt und geht, es strömt
ins trockne Bett des Flusses Arguenon, wo es
zweimal am Tag die Boote aufrichtet, die schon seit
Stunden auf der Flanke liegen. Zweimal am Tag
zieht sichs ins Meer zurück, Ärmelkanal
nennt man es hier, auch kurz La Manche, Der
Ärmel, obwohl es kein Kanal und auch kein Ärmel ist,
nichts Hohles also, eher schon ein Arm: der
Meeresarm, den der Atlantik zur
Nordsee rüberstreckt. Sachte legen sich die
Boote wieder seitlich auf den Bauch.
Im All des Zimmers, dem noch unbewohnten,
schwimmen vier und auch manchmal sechs
glänzende Gestirne oder Augen. Wie in der Dunkelkammer
langsam Konturen aus dem Nichts aufsteigen,
beginnen sich um die Gestirne
Gesichter abzuzeichnen. Mutter. Großmutter.
Vater. Das Kind, das Anne heißt und alle
Annette nennen (sprich Annett) bringt diese
Planeten zum Kreisen.
Von Annette ist Anne (die Heutige) dem Alter nach
doppelt so weit entfernt, wie ihre
Großmutter es damals war, aber irgendwo
erstaunlich fern und nah
gibt es noch dieses Kind. Es ist eins mit ihr,
ist nicht verkümmert und nicht tot, es schläft,
es ist noch da.
Geboren wird Annette in einer Sackgasse,
und das nicht bloß im übertragnen Sinne
wie wir alle. Das Haus der Großmutter schließt
eine Reihe unverputzter Fischerhäuschen ab, die
mit ihm unvermittelt endet vor dem Fluss.
Ein jedes Häuschen hat unten einen Wohnraum
und rechts und links eine Kammer unterm Dach.
»Das Haus der Großmutter« heißt nicht, dass es
das ihre wäre. Sie wohnt zur Miete. Die Unterkunft
ist kümmerlich, und dementsprechend
niedrig ist die Miete, doch das Geringe ist
noch viel für sie, die früh verwitwet ihre Kinder
mit dem Ertrag der pêche à pied oder des
Fischens ohne Boot herangezogen hat:
Tag für Tag macht sie sich bei Ebbe auf den Weg
und stöbert ausdauernd im nassen Sand allerlei
Meeresgetier auf: Venusmuscheln Strandkrabben
Teppichmuscheln Wellhornschnecken, die sie
in einem Korb auf ihrem Rücken in viele Dörfer der
Umgebung trägt und dort – in Saint-Éniguet,
La Ville Gicquel, Le Tertre, Notre-Dame-du-Guildo
oder Le Bouillon – verkauft.
Die Mutter ihrer Mutter ist im 19. Jahrhundert
in der Bretagne, also gewissermaßen
noch zwei Jahrhunderte zuvor geboren, als
eines vieler Kinder habeloser Bauern, die ihre
Kinder nicht ernähren können und sie daher
eins nach dem anderen bei Reicheren in Dienst geben.
Die kleine Kuhmagd ist sehr arm. Lange Zeit trägt sie
– o Schock später für ihre kleine Enkelin! –
keine Unterhose. Sie hatte keine. Schlief im Stroh. Ihr
Jahreslohn war ein Paar neue Holzschuhe, und alle
zwei Jahre gabs entweder einen Umhang und dazu
ein Paar Strümpfe oder auch einen Rock und eine Jacke, was
deshalb schon kein Luxus war, weil sie noch gar nicht
ausgewachsen war. Sie ging nie zur Schule. Illettré
sagt man dazu, wenn eine ihresgleichen oder einer
weder des Lesens noch des Schreibens kundig ist.
Mit fünfzig Jahren wird ihr erstmals klar – Annette
ist vielleicht sieben –, dass sie von ihrer Mutter
nie einen Kuss bekam, und sie, die bisher
nie geklagt hat, bricht in Tränen aus. So
sitzen sie, Großmutter und Enkelin,
und küssen sich und küssen sich und küssen sich
und weinen. Von ihrem Vater weiß sie nur,
wie grob er war. Ihre Geschwister, Kinderknechte
und -mägde wie sie selbst, erwähnt sie nie,
sie sind vielleicht inzwischen tot oder verschollen
oder sie leben in der Nähe. Annette
liebt über alles diese Großmutter, die
reich ist nicht an Gütern und gebildet
nicht durch Lektüren.
Wie jeder von uns hat sie
noch eine zweite. Die liebt sie weniger.
Es ist die Mutter ihres Vaters, eine Beaumanoir,
was Schönes Herrenhaus bedeutet und
in der Tat d i e bessere Familie ist in einem Ort,
der keine wirklich hohen Kreise kennt.
Auch Madame Beaumanoir ist Witwe und sie ist
Tochter des Notars. In ihren ersten Lebensjahren
bekommt Annette Großmutter zwei
nicht zu Gesicht. Die Brücken zwischen
ihr und deren Sohn sind abgebrochen
am Tag, an dem sie ihm verboten hat, das Mädchen
aus dem Fischerhäuschen – eine der Töchter von
Großmutter eins – zur Frau zu nehmen,
worunter Madame Beaumanoir sicher
gelitten haben mag, aber was tun?
Alles in ihr sträubte sich gegen
die ungleiche Verbindung, der dann
zu ihrem Leidwesen auch prompt
eine Annette entsprang. Sie hält den Sohn
für etwas Besseres und sie hat recht damit,
er ist auch etwas Besseres, denn er verzichtet
auf ihre achtbare Gesellschaft und sein Erbe
zugunsten seiner Liebsten. Zu diesem Zeitpunkt
sind die beiden fast noch Kinder, nicht volljährig
nach dem Gesetz und ohne elterliche Zustimmung
zur Heirat unfähig, so dass Annette ganz wie in einem
Märchen – einem bretonischen – im armen
Fischerhäuschen von Großmutter eins und
außerhalb der Ehe, aber nicht außerhalb der Liebe
geboren und vorläufig in kein Geburtsregister
eingetragen wird.
Sie hat glückliche Eltern, möchte man
behaupten, aber ist das denn richtig und
so allgemein gesprochen möglich?
Heißt es nicht immer, einen Glückszustand gäbs
höchstens für Momente? Sie aber sind glücklich
jederzeit, und wer Beweise hat fürs Gegenteil, der
möge widersprechen, jetzt ist dazu Gelegenheit.
Glück ist der Grundton ihres Alltags. Von Anfang an
durchdrungen von dieser unhörbaren wärmenden Musik,
ausgestattet mit den hellen Augen und dem
unerschrocknen Herzen ihrer Eltern
tritt Annette auf.
Die Eltern sind nicht nur, was man so
glücklich nennt, sie sind auch noch das
Gegenteil vom jeweils anderen. Jean ist groß und
Petite Marthe ist klein, er ist bedächtig und gelassen,
sie redefreudig-wuselig, aber vernünftig
ist sie auch, dazu eine Erzählerin, der man lauscht,
mit offnem Mund. Er nennt sie gerne
»meine Suffragette«, womit er nicht so sehr ihren
Feminismus meint, als ihre Neigung, sich über Unrecht
heftig zu erzürnen und vor Wut zu schnauben; in ihrem
eigenen Idiom wäre sie soupe au...
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