Annette, ein Heldinnenepos

Annette, ein Heldinnenepos

von: Anne Weber

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2020

ISBN: 9783751800136 , 310 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Annette, ein Heldinnenepos


 

Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.

Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf

diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch

Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.

Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie.

Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.

Sie ist sehr alt, und wie es das Erzählen will,

ist sie zugleich noch ungeboren. Heute,

da sie fünfundneunzig ist, kommt sie

auf diesem weißen Blatt zur Welt –

in eine undurchdringliche Leere, in die sie

lange runde Maulwurfblicke wirft und die sich

nach und nach mit Formen und mit Farben,

mit Vater Mutter Himmel Wasser Erde füllt.

Himmel und Erde sind bleibende Erscheinungen,

das Wasser aber kommt und geht, es strömt

ins trockne Bett des Flusses Arguenon, wo es

zweimal am Tag die Boote aufrichtet, die schon seit

Stunden auf der Flanke liegen. Zweimal am Tag

zieht sichs ins Meer zurück, Ärmelkanal

nennt man es hier, auch kurz La Manche, Der

Ärmel, obwohl es kein Kanal und auch kein Ärmel ist,

nichts Hohles also, eher schon ein Arm: der

Meeresarm, den der Atlantik zur

Nordsee rüberstreckt. Sachte legen sich die

Boote wieder seitlich auf den Bauch.

Im All des Zimmers, dem noch unbewohnten,

schwimmen vier und auch manchmal sechs

glänzende Gestirne oder Augen. Wie in der Dunkelkammer

langsam Konturen aus dem Nichts aufsteigen,

beginnen sich um die Gestirne

Gesichter abzuzeichnen. Mutter. Großmutter.

Vater. Das Kind, das Anne heißt und alle

Annette nennen (sprich Annett) bringt diese

Planeten zum Kreisen.

Von Annette ist Anne (die Heutige) dem Alter nach

doppelt so weit entfernt, wie ihre

Großmutter es damals war, aber irgendwo

erstaunlich fern und nah

gibt es noch dieses Kind. Es ist eins mit ihr,

ist nicht verkümmert und nicht tot, es schläft,

es ist noch da.

Geboren wird Annette in einer Sackgasse,

und das nicht bloß im übertragnen Sinne

wie wir alle. Das Haus der Großmutter schließt

eine Reihe unverputzter Fischerhäuschen ab, die

mit ihm unvermittelt endet vor dem Fluss.

Ein jedes Häuschen hat unten einen Wohnraum

und rechts und links eine Kammer unterm Dach.

»Das Haus der Großmutter« heißt nicht, dass es

das ihre wäre. Sie wohnt zur Miete. Die Unterkunft

ist kümmerlich, und dementsprechend

niedrig ist die Miete, doch das Geringe ist

noch viel für sie, die früh verwitwet ihre Kinder

mit dem Ertrag der pêche à pied oder des

Fischens ohne Boot herangezogen hat:

Tag für Tag macht sie sich bei Ebbe auf den Weg

und stöbert ausdauernd im nassen Sand allerlei

Meeresgetier auf: Venusmuscheln Strandkrabben

Teppichmuscheln Wellhornschnecken, die sie

in einem Korb auf ihrem Rücken in viele Dörfer der

Umgebung trägt und dort – in Saint-Éniguet,

La Ville Gicquel, Le Tertre, Notre-Dame-du-Guildo

oder Le Bouillon – verkauft.

Die Mutter ihrer Mutter ist im 19. Jahrhundert

in der Bretagne, also gewissermaßen

noch zwei Jahrhunderte zuvor geboren, als

eines vieler Kinder habeloser Bauern, die ihre

Kinder nicht ernähren können und sie daher

eins nach dem anderen bei Reicheren in Dienst geben.

Die kleine Kuhmagd ist sehr arm. Lange Zeit trägt sie

– o Schock später für ihre kleine Enkelin! –

keine Unterhose. Sie hatte keine. Schlief im Stroh. Ihr

Jahreslohn war ein Paar neue Holzschuhe, und alle

zwei Jahre gabs entweder einen Umhang und dazu

ein Paar Strümpfe oder auch einen Rock und eine Jacke, was

deshalb schon kein Luxus war, weil sie noch gar nicht

ausgewachsen war. Sie ging nie zur Schule. Illettré

sagt man dazu, wenn eine ihresgleichen oder einer

weder des Lesens noch des Schreibens kundig ist.

Mit fünfzig Jahren wird ihr erstmals klar – Annette

ist vielleicht sieben –, dass sie von ihrer Mutter

nie einen Kuss bekam, und sie, die bisher

nie geklagt hat, bricht in Tränen aus. So

sitzen sie, Großmutter und Enkelin,

und küssen sich und küssen sich und küssen sich

und weinen. Von ihrem Vater weiß sie nur,

wie grob er war. Ihre Geschwister, Kinderknechte

und -mägde wie sie selbst, erwähnt sie nie,

sie sind vielleicht inzwischen tot oder verschollen

oder sie leben in der Nähe. Annette

liebt über alles diese Großmutter, die

reich ist nicht an Gütern und gebildet

nicht durch Lektüren.

Wie jeder von uns hat sie

noch eine zweite. Die liebt sie weniger.

Es ist die Mutter ihres Vaters, eine Beaumanoir,

was Schönes Herrenhaus bedeutet und

in der Tat d i e bessere Familie ist in einem Ort,

der keine wirklich hohen Kreise kennt.

Auch Madame Beaumanoir ist Witwe und sie ist

Tochter des Notars. In ihren ersten Lebensjahren

bekommt Annette Großmutter zwei

nicht zu Gesicht. Die Brücken zwischen

ihr und deren Sohn sind abgebrochen

am Tag, an dem sie ihm verboten hat, das Mädchen

aus dem Fischerhäuschen – eine der Töchter von

Großmutter eins – zur Frau zu nehmen,

worunter Madame Beaumanoir sicher

gelitten haben mag, aber was tun?

Alles in ihr sträubte sich gegen

die ungleiche Verbindung, der dann

zu ihrem Leidwesen auch prompt

eine Annette entsprang. Sie hält den Sohn

für etwas Besseres und sie hat recht damit,

er ist auch etwas Besseres, denn er verzichtet

auf ihre achtbare Gesellschaft und sein Erbe

zugunsten seiner Liebsten. Zu diesem Zeitpunkt

sind die beiden fast noch Kinder, nicht volljährig

nach dem Gesetz und ohne elterliche Zustimmung

zur Heirat unfähig, so dass Annette ganz wie in einem

Märchen – einem bretonischen – im armen

Fischerhäuschen von Großmutter eins und

außerhalb der Ehe, aber nicht außerhalb der Liebe

geboren und vorläufig in kein Geburtsregister

eingetragen wird.

Sie hat glückliche Eltern, möchte man

behaupten, aber ist das denn richtig und

so allgemein gesprochen möglich?

Heißt es nicht immer, einen Glückszustand gäbs

höchstens für Momente? Sie aber sind glücklich

jederzeit, und wer Beweise hat fürs Gegenteil, der

möge widersprechen, jetzt ist dazu Gelegenheit.

Glück ist der Grundton ihres Alltags. Von Anfang an

durchdrungen von dieser unhörbaren wärmenden Musik,

ausgestattet mit den hellen Augen und dem

unerschrocknen Herzen ihrer Eltern

tritt Annette auf.

Die Eltern sind nicht nur, was man so

glücklich nennt, sie sind auch noch das

Gegenteil vom jeweils anderen. Jean ist groß und

Petite Marthe ist klein, er ist bedächtig und gelassen,

sie redefreudig-wuselig, aber vernünftig

ist sie auch, dazu eine Erzählerin, der man lauscht,

mit offnem Mund. Er nennt sie gerne

»meine Suffragette«, womit er nicht so sehr ihren

Feminismus meint, als ihre Neigung, sich über Unrecht

heftig zu erzürnen und vor Wut zu schnauben; in ihrem

eigenen Idiom wäre sie soupe au...