Fürchte die Schatten - Psychothriller

Fürchte die Schatten - Psychothriller

von: Michael Robotham

Goldmann, 2020

ISBN: 9783641231231 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Fürchte die Schatten - Psychothriller


 

1

Cyrus


Mai 2020


Ein kühler Morgen im Spätfrühling. Ein kleines Ruderboot taucht aus dem Nebel und gleitet mit jedem Zug vorwärts. Die Wasseroberfläche im inneren Hafen ist so spiegelglatt, dass man jede kleine Welle sehen kann, die von den Rudern ausstrahlt und sich am Bug bricht.

Das Ruderboot folgt der grauen Felsmauer, vorbei an Fischtrawlern und Jachten, bis hin zu einem schmalen Kiesstrand. Der einzige Insasse springt heraus, zieht das Boot weiter auf die Steine, wo es wie betrunken zur Seite kippt. An Land wirkt es unbeholfen. Eleganz: perdu.

Die Kapuze des Anoraks wird zurückgeschlagen, und eine dichte Mähne quillt hervor. Wirklich rotes Haar. Feuerrot. Rot wie der Sonnenaufgang. Sie streift ein Haargummi von ihrem Handgelenk und rafft ihr Haar zu einem einzigen Bündel, das über ihren Rücken fällt.

Mein Atem hat das Fenster meines Zimmers beschlagen. Ich ziehe den Ärmel über das Handgelenk und wische ein kleines Rechteck auf der Scheibe frei, um besser zu sehen. Sie ist endlich da. Sechs Tage habe ich gewartet. Ich habe die Wanderwege abgelaufen, den Leuchtturm besichtigt und die Speisekarte in O’Neill’s Bar & Restaurant erschöpfend durchprobiert. Ich habe die Morgenzeitungen gelesen sowie drei Romane, die Touristen zurückgelassen haben, und mir von den einheimischen Trinkern ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Die meisten von ihnen sind Fischer mit Händen so knotig wie Ingwerknollen und Augen, die ins helle Licht blinzeln, wo keine Sonne scheint.

Sie beugt sich über das Ruderboot, schlägt eine Persenning zurück, die Plastikkisten und Pappkartons zugedeckt hat. Die Hände voller Kartons, steigt sie die Treppe vom Strand hinauf und überquert die gepflasterte Straße. Mein Blick folgt ihrem Weg über die Strandpromenade, vorbei an verrammelten Kiosken und Touristenläden, zu einem kleinen Supermarkt, in dem Licht brennt. Sie steigt über einen Packen Zeitungen und klopft. Ein Mann mittleren Alters mit roter Nase und rosigen Wangen zieht eine Jalousie hoch, nickt, schließt den Laden auf,
bittet sie herein und wirft von der Schwelle aus einen wachsamen Blick auf die Straße, vielleicht auf der Suche nach mir. Er weiß, dass ich gewartet habe.

Eilig ziehe ich Jeans und ein Sweatshirt an, streife meine Stiefel über und gehe die Treppe hinunter zu einem Seiteneingang des Pubs. Draußen riecht die Luft nach Seetang und Holzrauch; die Konturen der Hügel schimmern orangefarben in der Ferne, wo Gott die Ofentür geöffnet und die Kohlen für den neuen Tag geschürt hat.

Eine Glocke klingelt an einem Metallarm. Der Ladenbesitzer und die Frau drehen sich zu mir um. Sie geht in Habachtstellung, bereit zu kämpfen oder zu flüchten, weicht jedoch nicht von der Stelle. Sie sieht anders aus als auf den Fotos. Kleiner. Ihr Gesicht ist wettergegerbt, ihre Hände sind schwielig, und ihr linker Daumennagel ist schwarz, als hätte sie ihn sich irgendwo geklemmt.

»Sacha Hopewell?«, frage ich.

Sie greift in die Tasche ihres Anoraks. Für einen Moment stelle ich mir vor, dass sie eine Waffe zieht. Ein Anglermesser oder eine Dose Pfefferspray.

»Mein Name ist Cyrus Haven. Ich bin Psychologe. Ich habe Ihnen geschrieben.«

»Das ist er«, sagt der Ladenbesitzer. »Der Typ, der nach dir gefragt hat. Soll ich Roddy auf ihn hetzen?«

Ich weiß nicht, ob Roddy ein Hund oder ein Mensch ist.

Sacha drängt an mir vorbei und beginnt, Lebensmittel aus den Regalen in einen Einkaufswagen zu packen. Mehl und Reis, Gemüsekonserven und Früchtekompott. Ich folge ihr durch einen weiteren Gang. Erdbeermarmelade. H-Milch. Erdnussbutter.

»Vor sieben Jahren haben Sie in einem Haus im Norden Londons ein Kind gefunden. Es hat sich in einem geheimen Zimmer versteckt.«

»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, sagt sie schroff.

Ich ziehe ein Foto aus meiner Jackentasche. »Das sind Sie.«

Sie wirft einen flüchtigen Blick auf das Bild und packt weiter haltbare Lebensmittel ein.

Das Foto zeigt eine junge Special Constable in schwarzen Leggins und dunklem Top. Sie trägt ein schmutziges, wildes Kind durch die Tür eines Krankenhauses. Das Gesicht des Mädchens ist von einer Mähne verfilzter Haare bedeckt, und es klammert sich an Sacha wie ein Koala an einen Baum.

Ich ziehe ein weiteres Foto aus der Tasche.

»So sieht sie heute aus.«

Sacha bleibt abrupt stehen. Sie kann nicht anders, als das Bild anzuschauen. Sie will wissen, was aus dem kleinen Mädchen geworden ist: Angel Face. Das Mädchen aus der Kammer. Damals war sie ein Kind, jetzt ist sie ein Teenager. Auf dem Foto sitzt sie in zerrissenen Jeans und einem weiten Pullover mit Loch am Ellbogen auf einer Steinbank. Ihr Haar ist länger und blond gefärbt. Anstatt in die Kamera zu lächeln, guckt sie mürrisch.

»Ich habe noch mehr«, sage ich.

Sacha wendet den Blick ab, greift an mir vorbei und nimmt eine Packung Makkaroni aus dem Regal.

»Sie heißt Evie Cormac. Sie lebt in einer geschlossenen Einrichtung für Minderjährige.«

Sie schiebt den Einkaufswagen weiter.

»Ich könnte ins Gefängnis dafür kommen, dass ich Ihnen das erzähle. Es gibt eine Section 39 Order, die es jedem verbietet, ihre Identität oder ihren Aufenthaltsort zu enthüllen und Fotos von ihr zu machen.«

Ich versperre ihr den Weg. Sie will um mich herumgehen. Ich mache ebenfalls einen Schritt zur Seite. Es ist, als würden wir in dem Gang tanzen.

»Evie hat nie darüber gesprochen, was ihr in dem Haus zugestoßen ist. Deswegen bin ich hier. Ich möchte Ihre Geschichte hören.«

Sacha drängt an mir vorbei. »Lesen Sie die Polizeiberichte.«

»Ich brauche mehr.«

Sie hat die Gefrierabteilung erreicht, schiebt den Deckel einer Truhe auf und wühlt darin herum.

»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragt sie.

»Es war nicht leicht.«

»Haben meine Eltern Ihnen geholfen?«

»Sie machen sich Sorgen um Sie.«

»Sie haben sie in Gefahr gebracht.«

»Inwiefern?«

Sacha antwortet nicht. Sie parkt ihren Einkaufswagen in der Nähe der Kasse und nimmt sich einen neuen. Der Mann mit der roten Nase steht nicht mehr hinter dem Tresen, aber ich höre seine Schritte im Stockwerk über uns.

»Sie können nicht ewig weglaufen«, sage ich.

»Wer sagt, dass ich weglaufe?«

»Sie verstecken sich. Ich will helfen.«

»Das können Sie nicht.«

»Dann lassen Sie mich Evie helfen. Sie ist anders. Besonders.«

Schwere Schritte auf der Treppe. Ein anderer Mann taucht in der Tür auf der Rückseite des Supermarkts auf. Jünger, kräftiger. Mit nacktem Oberkörper. Er trägt eine Jogginghose, die so tief hängt, dass ich den obersten Streifen seines Schamhaars sehen kann. Das muss Roddy sein.

»Das ist er«, sagt der Mann mit der roten Nase. »Er hat schon die ganze Woche im Dorf rumgeschnüffelt.«

Roddy greift unter den Tresen und zieht eine Harpune mit Polyamidgriff und einem Speer aus Edelstahl hervor. Ich hätte beinahe laut losgelacht, so unnötig und fehl am Platz ist die Waffe.

»Macht er Ärger, Sacha?«, knurrt Roddy.

»Ich komm hier schon klar«, antwortet sie.

Roddy lehnt die Harpune an seine Schulter wie ein Soldat bei einer Parade.

»Ist er dein Ex?«

»Nein.«

»Soll ich ihn vom Kai schmeißen?«

»Das wird nicht nötig sein.«

Roddy hat offensichtlich ein Auge auf Sacha geworfen. Eine Schwärmerei. Aber sie spielt in einer anderen Liga.

»Ich lade Sie zum Frühstück ein«, sage ich.

»Ich kann mein Frühstück selber bezahlen«, erwidert sie.

»Ich weiß. Ich wollte nicht … Geben Sie mir eine halbe Stunde, um Sie zu überzeugen.«

Sie nimmt Zahnpasta und Mundwasser aus dem Regal. »Wenn ich Ihnen erzähle, was passiert ist, lassen Sie mich dann in Ruhe?«

»Ja.«

»Keine Anrufe. Keine Briefe. Keine Besuche. Und Sie behelligen meine Familie nicht mehr.«

»Einverstanden.«

Sacha lässt ihre Einkäufe in dem Supermarkt stehen und erklärt dem Ladenbesitzer, dass sie gleich zurück ist.

»Soll ich mitkommen?«, fragt Roddy und kratzt sich am Bauchnabel.

»Nein. Schon okay.«

Das Café ist neben dem Postamt in demselben gedrungenen Steingebäude und blickt auf eine Brücke und einen Gezeitenkanal. Unter einer gestreiften Markise mit bunten Lichtern sind Tische und Stühle auf dem Bürgersteig aufgestellt. Die Speisekarte steht handgeschrieben auf einer Tafel.

Eine Frau stellt Stühle auf und wischt sie ab.

»Die Küche öffnet erst um sieben«, sagt sie mit einem kornischen Akzent. »Ich kann Ihnen Tee machen.«

»Danke«, erwidert Sacha und setzt sich auf eine lange gepolsterte Bank, von der sie die Tür, den Bürgersteig und den Parkplatz im Blick hat. Alte Gewohnheiten.

»Ich bin allein«, sage ich.

Die Hände in den Schoß gelegt, sitzt sie mit zusammengepressten Knien da und betrachtet mich stumm.

»Ein hübsches Dorf«, sage ich und schaue zu den Fischerbooten und Jachten. Die ersten Sonnenstrahlen berühren die Mastspitzen. »Wie lange leben Sie schon hier?«

»Das spielt keine Rolle«, sagt sie und zieht einen Lippenpflegestift aus der Tasche, mit dem sie sich ihre Lippen eincremt. »Zeigen Sie mir die Bilder.«

Ich ziehe vier weitere Fotos aus der Tasche und schiebe sie über den Tisch. Sie zeigen Evie, wie sie heute mit fast achtzehn aussieht.

»Sie färbt ihre Haare ziemlich oft«, erkläre ich....