Die verstummte Frau

von: Karin Slaughter

HarperCollins, 2020

ISBN: 9783959675765 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die verstummte Frau


 

PROLOG

Beckey Caterino spähte in die hintersten Ecken des Wohnheimkühlschranks und suchte wütend nach ihren hingekritzelten Initialen auf den Etiketten der Lebensmittel – Frischkäse, Fertigsnacks, Pizza-Bagels, vegane Hotdogs, Karottensticks.

KP – Kayleigh Pierce. DL – Deneshia Lachland. VS – Vanessa Sutter.

»Diese Miststücke!« Beckey knallte die Kühlschranktür so heftig zu, dass die Bierflaschen darin klirrten. Sie trat gegen den nächstbesten Gegenstand, der zufällig der Abfalleimer war.

Leere Joghurtbecher ergossen sich über den Boden. Zerknüllte Tüten von fettfreiem Popcorn. Ausgespülte Cola-light-Flaschen. Alles mit zwei Buchstaben in schwarzem Textmarker versehen.

BC.

Beckey starrte auf die Verpackungen der Lebensmittel, die sie von ihrem knappen Geld gekauft hatte und die diese Arschlöcher von Mitbewohnerinnen vertilgt hatten, während sie die ganze Nacht in der Bibliothek mit einer Seminararbeit beschäftigt gewesen war, die fünfzig Prozent zu ihrer Note in Organischer Chemie beitrug.

Ihr Blick ging zur Uhr.

4 Uhr 58.

»Ihr verdammten Dreckstücke!«, schrie sie zur Zimmerdecke hoch. Sie machte sämtliche Lichter an. Ihre nackten Füße sengten eine Spur in den Teppichboden im Flur. Sie war am Verhungern. Sie war erschöpft. Sie konnte kaum mehr aufrecht stehen. Ihr einziger Antrieb auf dem Weg von der Bibliothek zum Wohnheim war die Aussicht auf etwas zu essen gewesen.

»Steh auf, du miese Diebin!« Sie schlug so heftig mit der Faust an Kayleighs Tür, dass sie aufsprang.

Marihuanarauch waberte unter der Decke. Kayleigh blinzelte unter den Laken hervor. Der Typ neben ihr wälzte sich herum.

Es war Markus Powell, Vanessas Freund.

»Scheiße.« Kayleigh sprang aus dem Bett, nackt bis auf eine Socke am linken Fuß.

Beckey schlug auf dem Weg zu ihrem eigenen Zimmer mit den Fäusten an die Wände. Ihr Zimmer war das kleinste, und sie hatte es freiwillig genommen, weil sie ein Fußabstreifer war und nicht wusste, wie sie sich gegen drei Mädchen behaupten sollte, die zwar genauso alt waren wie sie, aber mit einem doppelt so dicken Bankkonto versehen.

»Du darfst es Nessa nicht sagen!« Kayleigh rauschte hinter ihr ins Zimmer, immer noch nackt. »Es war nichts. Wir waren betrunken und …«

Wir waren betrunken und …

Jede gottverdammte Geschichte dieser blöden Miststücke fing mit denselben vier Worten an. Als Vanessa dabei erwischt wurde, wie sie Deneshias Freund einen geblasen hatte. Als Kayleighs Bruder versehentlich in den Schrank gepinkelt hatte. Als Deneshia sich Beckeys Unterwäsche geborgt hatte. Sie waren immer betrunken oder bekifft oder vögelten herum oder betrogen einander, denn das war nicht das College hier, es war Big Brother, wo niemand hinausgewählt werden konnte und alle den Tripper hatten.

»Komm schon, Beck.« Kayleigh rieb sich die nackten Arme. »Sie wollte sowieso mit ihm Schluss machen.«

Beckey konnte entweder losschreien und nie mehr aufhören – oder so schnell wie möglich von hier verschwinden.

»Beck …«

»Ich gehe laufen.« Sie riss eine Schublade auf und suchte nach ihren Socken, aber natürlich passten keine zwei zusammen. Ihr liebster Sport-BH lag zerknüllt unter dem Bett. Sie fischte ihre schmutzige Laufhose aus dem Wäschekorb und entschied sich für zwei nicht zusammengehörende Socken, von denen einer ein Loch in der Ferse hatte, aber eine Blase war harmlos gegen die Vorstellung, hierzubleiben und alles kurz und klein zu schlagen, was nach einem lebenden Organismus aussah.

»Beckey, hör auf, dich wie ein Arschloch zu benehmen. Du verletzt meine Gefühle.«

Beckey hängte sich die Kopfhörer um den Hals. Sie war fast schockiert, als sie ihren iPod Shuffle genau dort fand, wo er sein sollte. Kayleigh war die Märtyrerin des Wohnheims, die alle ihre Verbrechen nur zum Wohl der Allgemeinheit beging. Sie hatte nur mit Markus geschlafen, weil Vanessa ihm das Herz gebrochen hatte. Von Deneshia hatte sie bei der Prüfung nur deshalb abgeschrieben, weil ihre Mutter am Boden zerstört wäre, wenn sie in noch einem Fach scheiterte. Und Beckeys Käsemakkaroni hatte sie aufgegessen, weil ihr Vater sich Sorgen machte, dass sie zu dünn war.

»Beck.« Kayleigh versuchte es mit Ablenkung. »Warum redest du nicht mit mir? Worum geht es in Wirklichkeit?«

Beckey griff nach ihrer Haarklammer und erkannte im selben Moment, dass sie nicht auf dem Nachttisch lag wie sonst immer.

Alle Luft wich aus ihren Lungen.

Kayleighs Hände flogen in einer Unschuldsgeste nach oben. »Ich habe sie ehrlich nicht genommen.«

Beckey war kurzfristig wie hypnotisiert von Kayleighs Brüsten mit den perfekt gerundeten Warzenhöfen, die wie ein zweites Augenpaar zu ihr hinaufstarrten.

»Okay«, sagte Kayleigh, »ich habe dein Zeug aus dem Kühlschrank aufgegessen, aber ich würde niemals deine Haarklammer anrühren. Das weißt du.«

In Beckeys Brust tat sich ein schwarzes Loch auf. Die Haarklammer war aus billigem Plastik, eines von den Dingern, die man im Drogeriemarkt kaufte, aber sie bedeutete ihr mehr als alles in der Welt, weil sie das Letzte war, was ihre Mutter ihr gegeben hatte, bevor sie in ihren Wagen stieg, um zur Arbeit zu fahren, und von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde, der auf der Interstate als Geisterfahrer unterwegs war.

»Hey, Blair und Dorota, tuschelt mal leiser.« Vanessas Zimmertür stand offen. Ihre Augen waren zwei Schlitze in dem vom Schlaf verquollenen Gesicht. Sie ignorierte Kayleighs Blöße und wandte sich direkt an Beckey. »Kleines, du kannst nicht um diese Zeit joggen gehen, wenn die Vergewaltiger unterwegs sind.«

Beckey begann zu laufen. An den beiden Miststücken vorbei. Den Flur entlang. Zurück in die Küche. Durch den Wohnraum. Aus der Tür. Noch ein Flur. Drei Treppenabsätze. Der Hauptaufenthaltsraum. Die gläserne Eingangstür, für die man eine Schlüsselkarte brauchte, aber scheiß drauf, denn sie musste unbedingt weg von diesen Ungeheuern. Weg von ihrer beiläufigen Bösartigkeit. Von ihren scharfen Zungen, ihren spitzen Brüsten und ihren schneidenden Blicken.

Tau benetzte ihre Beine, als sie über den grasbewachsenen Campushof rannte. Beckey lief um eine Betonschranke herum und gelangte auf die Hauptstraße. Die Luft war noch kühl. Die Straßenlampen verloschen eine nach der anderen im Dämmerlicht. Schatten schmiegten sich um die Bäume. In der Ferne hörte sie jemanden husten. Ein Schauder lief ihr plötzlich über den Rücken.

Wenn die Vergewaltiger unterwegs sind.

Als würde es die drei kümmern, ob Beckey vergewaltigt wurde. Als würde es sie interessieren, dass sie kaum Geld für Essen hatte, dass sie härter arbeiten musste als sie, fleißiger studieren, sich mehr anstrengen, schneller laufen und sich am Ende doch immer, immer zwei Schritte hinter der Stelle wiederfand, wo alle anderen starten durften. Egal, wie sehr sie sich auch antrieb.

Blair und Dorota. Das beliebte Mädchen und das kriecherische, fette Dienstmädchen aus Gossip Girl. Nicht schwer zu erraten, wer hier welche Rolle spielte.

Beckey setzte ihre Kopfhörer auf. Sie klickte an ihrem iPod auf Play, und Flo Rida ertönte.

Can you blow my whistle baby, whistle baby …

Ihre Füße stampften im Rhythmus des Songs auf den Boden. Sie lief durch das Eingangstor, das den Campus von der trostlosen kleinen Einkaufsstraße im Ortszentrum trennte. Es gab keine Bars oder Studentenkneipen, weil sich die Universität in einem »trockenen« County befand. Es war wie in Mayberry, aber irgendwie weißer und langweiliger. Der Baumarkt. Die Kinderklinik. Die Polizeistation. Der Kleiderladen.

Der alte Typ, dem der Diner gehörte, spritzte den Gehsteig mit einem Schlauch ab, als die Sonne gerade über den Horizont stieg. Das Licht tauchte die Umgebung in einen unheimlichen orangeroten Feuerschein. Der Alte tippte sich an seine Baseballmütze, als er Beckey sah. Sie stolperte über einen Sprung im Asphalt. Fing sich. Sah starr geradeaus und tat, als hätte sie nicht gesehen, wie er den Schlauch fallen ließ und Anstalten machte, ihr zu helfen, denn sie wollte sich unbedingt weiterhin von dem Gedanken beherrschen lassen, dass jeder einzelne Mensch auf Erden ein Arschloch und ihr eigenes Leben beschissen war.

»Beckey«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie die Haarklammer aus ihrer Handtasche nahm. »Das ist mein Ernst jetzt. Ich will sie wiederhaben.«

Die Haarklammer. Zwei Kämme mit einem Scharnier dazwischen, einer der Zähne war abgebrochen. Schildpattmuster, wie bei einer Katze. Julia Stiles trug so eine in dem Film Zehn Dinge, die ich an dir hasse, den Beckey tausendmal mit ihrer Mutter gesehen hatte, weil es einer der wenigen Filme war, die beiden gefielen.

Kayleigh hatte die Haarklammer sicher nicht von ihrem Nachttisch gestohlen. Sie war ein gefühlloses Miststück, aber sie wusste, was die Klammer für Beckey bedeutete, seit die beiden sich eines Abends gemeinsam betrunken hatten und Beckey die ganze Geschichte ausgekotzt hatte. Wie der Direktor sie aus dem Englischunterricht geholt hatte. Wie der Schulpolizist draußen im Flur gewartet hatte und sie einen Mordsschreck bekam, weil sie noch nie in Schwierigkeiten gewesen war. Aber sie war gar nicht in Schwierigkeiten. Irgendwo tief in ihrem Innern musste Beckey gewusst haben, dass etwas Entsetzliches geschehen war, denn als der Polizist zu reden anfing, hatte ihr Gehör immer wieder...