Das Vermächtnis

von: Daniel Silva

HarperCollins, 2020

ISBN: 9783959675802 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Das Vermächtnis


 

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GENF

Es war Beatrice Kenton, die die Identität der neuen Schülerin als Erste infrage stellte. Das tat sie im Lehrerzimmer, um Viertel nach drei an einem Freitag Ende November. Wie an den meisten Freitagnachmittagen war die Stimmung ausgelassen und leicht rebellisch. Es wird niemanden überraschen, dass keine Berufsgruppe das Ende der Arbeitswoche begeisterter begrüßt als Lehrer – selbst Lehrer an Eliteschulen wie der International School in Genf. Geschwatzt wurde über Pläne fürs Wochenende. Beatrice beteiligte sich nicht daran, denn sie hatte keine, was ihre Kollegen nicht zu wissen brauchten. Sie war zweiundfünfzig, unverheiratet und hatte praktisch keine Angehörigen außer einer reichen alten Tante, die ihr jeden Sommer auf ihrem Landsitz in Norfolk Zuflucht gewährte. Ihre Wochenendroutine bestand aus einem Großeinkauf im Migros und einem Spaziergang am See zugunsten ihrer Taille, die sich wie das Universum ständig ausdehnte. Die erste Stunde am Montagmorgen war eine Oase in ihrem Leeren Viertel der Einsamkeit.

Die von einer längst eingegangenen Organisation zur Förderung von Multilateralismus gegründete Geneva International unterrichtete die Kinder des hiesigen Diplomatenkorps. Die Mittelschule, an der Beatrice Literatur und Aufsatz unterrichtete, besuchten Schüler aus über hundert Nationen. Die Lehrerschaft war ähnlich vielfältig zusammengesetzt. Der Personalchef gab sich große Mühe, um den Zusammenhalt des Lehrkörpers zu fördern – Cocktailpartys, Abendessen, zu denen jeder Gast eine Speise mitbrachte, Exkursionen –, aber im Lehrerzimmer setzte sich der alte Tribalismus immer wieder durch. Die Deutschen hockten mit Deutschen zusammen, die Franzosen mit Franzosen, die Spanier mit Spaniern. An diesem Freitagnachmittag war Miss Kenton außer der Geschichtslehrerin Cecilia Halifax die einzige anwesende britische Untertanin. Cecilia hatte eine wilde schwarze Mähne und vorhersehbare politische Überzeugungen, mit denen sie Miss Kenton bei jeder sich bietenden Gelegenheit beglückte. Cecilia vertraute Miss Kenton auch Einzelheiten der heißen Affäre an, die sie mit Kurt Schröder hatte, dem Birkenstock tragenden Mathegenie aus Hamburg, das eine gut bezahlte Position in der Industrie aufgegeben hatte, um Elfjährige in Mathematik zu unterrichten.

Das Lehrerzimmer lag im Erdgeschoss des Châteaus aus dem 18. Jahrhundert, das als Verwaltungsgebäude der Schule diente. Seine Bleiglasfenster führten auf den Innenhof hinaus, auf dem jetzt die privilegierten Schüler der Geneva International in deutsche Luxuslimousinen mit Diplomatenkennzeichen stiegen. Die redselige Cecilia Halifax hatte sich neben Beatrice gesetzt. Sie schwatzte irgendetwas von einem Skandal in London, in den der MI6 und eine russische Spionin verwickelt sein sollten. Beatrice hörte kaum zu. Sie beobachtete die neue Schülerin.

Wie gewöhnlich war sie bei diesem täglichen Exodus die Letzte: eine elfenhafte Zwölfjährige, bereits eine Schönheit, mit ausdrucksvollen braunen Augen und rabenschwarzem Haar. Zu Beatrices großem Bedauern gab es an der Geneva International keine Schuluniform, nur einen Dresscode, den einige Freigeister unter den Schülern ignorierten, ohne dass das offizielle Sanktionen nach sich gezogen hätte. Nicht jedoch die Neue. Sie war von Kopf bis Fuß in teure Wolle und Plaids gekleidet, wie man sie in der Burberry Boutique bei Harrods sah. Statt eines Nylonrucksacks trug sie eine Schultasche aus Leder. Ihre Ballerinas aus Lackleder glänzten makellos. Sie war proper, die Neue, und bescheiden. Aber sie hatte noch etwas anderes an sich, fand Beatrice. Sie war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie wirkte königlich. Ja, das war das richtige Wort. Königlich …

Sie war einige Wochen nach Beginn des Schuljahrs im Herbst hergewechselt – nicht ganz ideal, aber an dieser Schule, deren Elternschaft wie die Wasser der Rhône fluktuierte, die natürlichste Sache der Welt. David Millar, der Direktor, hatte sie in Beatrices dritte Stunde gesteckt, die mit zwei zusätzlichen Schülern ohnehin schon überfüllt war. Die Kopie ihrer Personalakte, die er ihr gab, war selbst nach den Normen der Geneva International recht dürftig. Darin stand, die Neue heiße Jihan Tantawi und sei Ägypterin, deren Vater kein Diplomat, sondern Geschäftsmann sei. Ihr Notendurchschnitt war in keiner Weise außergewöhnlich. Sie galt als aufgeweckt, aber auf keinem Gebiet besonders talentiert. »Ein Jungvogel, der bald flügge sein wird«, hatte David in einer heiteren Randbemerkung notiert. Tatsächlich war das einzig Bemerkenswerte an dieser Akte die Eintragung im Feld »spezielle Bedürfnisse des Schülers/der Schülerin«. Die Familie Tantawi schien sehr großen Wert auf Diskretion zu legen. Sicherheitsmaßnahmen, hatte David geschrieben, hätten einen sehr hohen Stellenwert.

Deshalb war an diesem Nachmittag – wie an allen anderen Nachmittagen auch – der kompetente Sicherheitschef der Geneva International auf dem Pausenhof. Lucien Villard war ein Import aus Frankreich, ein Veteran des Service de Protection, der für den Schutz wichtiger ausländischer Besucher und hoher französischer Beamter zuständig war. In seiner letzten Position hatte er im Elysée-Palast zu den Personenschützern des französischen Präsidenten gehört. David Millar benützte Luciens beeindruckenden Lebenslauf als Beweis für das Sicherheitsbewusstsein der Schule. Jihan Tantawi war nicht die Einzige mit erhöhten Sicherheitsanforderungen.

Aber niemand kam in die Geneva International oder verließ sie mit so großem Gefolge wie die Neue. Der schwarze Mercedes, in den sie schlüpfte, hätte einem Präsidenten oder Potentaten angestanden. Obwohl Beatrice nicht allzu viel von Autos verstand, vermutete sie, die Limousine sei gepanzert, ihre Scheiben schussfest. Hinter ihr folgte ein zweiter Wagen, ein mit vier finsteren Schlägertypen in dunklen Anzügen besetzter Range Rover.

»Wer sie wohl ist?«, fragte Beatrice sich, als sie beobachtete, wie die beiden Wagen auf die Straße hinausfuhren.

Cecilia Halifax war einen Augenblick lang verwirrt. »Die russische Spionin?«

»Die Neue«, stellte Beatrice richtig. Dann fügte sie zweifelnd hinzu: »Jihan.«

»Ihrer Familie soll halb Kairo gehören.«

»Wer sagt das?«

»Veronica.« Die heißblütige Spanierin Veronica Alvaret war Zeichenlehrerin und als Verbreiterin wilder Gerüchte innerhalb des Lehrkörpers beinahe so unzuverlässig wie Cecilia selbst. »Sie sagt, dass ihre Mutter mit dem ägyptischen Präsidenten verwandt ist. Seine Nichte. Oder vielleicht seine Cousine.«

Beatrice verfolgte, wie Lucien Villard den Hof überquerte. »Weißt du, was ich glaube?«

»Was denn?«

»Ich denke, dass hier jemand lügt.«

Und so geschah es, dass Beatrice Kenton, eine schlachtgestählte Veteranin mehrerer kleinerer britischer Privatschulen, die auf der Suche nach Liebe und Abenteuer nach Genf gekommen war und nichts dergleichen gefunden hatte, gänzlich private Ermittlungen aufnahm, um die Identität der neuen Schülerin festzustellen. Sie begann damit, dass sie den Namen JIHAN TANTAWI in das weiße Kästchen der Suchmaschine ihres Browsers eingab. Auf dem Bildschirm erschienen mehrere Tausend Einträge, von denen jedoch keiner die bildhübsche Zwölfjährige betraf, die jeden Morgen in der dritten Stunde in Beatrices Klassenzimmer kam – nie auch nur eine Minute zu spät.

Als Nächstes durchforschte sie die verschiedenen sozialen Medien, ohne jedoch die geringste Spur ihrer Schülerin zu finden. Die Neue schien das einzige Mädchen auf Gottes weiter Erde zu sein, das kein Parallelleben im Cyberspace führte. Das fand Beatrice löblich, denn sie hatte die emotional schädlichen und entwicklungshemmenden Folgen unaufhörlicher Textnachrichten, Tweets und geteilter Fotos aus erster Hand miterlebt. Leider war dieses Verhalten nicht nur auf Kinder beschränkt. Cecilia Halifax konnte kaum aufs Klo gehen, ohne ein retuschiertes Foto von sich selbst auf Instagram zu posten.

Der Vater, ein gewisser Adnan Tantawi, blieb im Cyberreich ebenso anonym. Beatrice fand einige Hinweise auf Unternehmen wie Tantawi Construction und Tantawi Holdings und Tantawi Development, aber nichts über den Mann selbst. In Jihans Akte war eine Adresse in der eleganten Rue de Lausanne angegeben. An einem Samstagnachmittag machte Beatrice einen Spaziergang dorthin. Die Adresse war nur wenige Häuser von der Villa des bekannten Schweizer Großindustriellen Martin Landesmann entfernt. Wie viele Grundstücke in diesem schicken Viertel war es von hohen Mauern umgeben und durch Überwachungskameras gesichert. Beatrice spähte durch die Gitterstäbe des schmiedeeisernen Tors und sah einen manikürten Rasen, der sich bis zum Säulenvordach einer prunkvollen Villa im italienischen Stil erstreckte. Sofort kam ein Mann ihr auf der Zufahrt entgegengelaufen, zweifellos einer der Schlägertypen aus dem Range Rover. Er versuchte nicht einmal, die Tatsache zu verbergen, dass er unter seinem Jackett eine Pistole trug.

»Propriété privée!«, brüllte er mit starkem Akzent auf Französisch.

»Excusez-moi«, murmelte Beatrice und ging rasch weiter.

Die nächste Phase ihrer Nachforschungen begann am folgenden Montagmorgen, als sie damit begann, ihre geheimnisvolle neue Schülerin drei Tage lang genau zu beobachten. Sie bemerkte, dass Jihan manchmal nur langsam reagierte, wenn sie im Unterricht aufgerufen wurde. Sie bemerkte auch, dass Jihan seit ihrem Eintritt keine Freundschaften geschlossen hatte – und das auch weiterhin nicht versuchte. Beatrice stellte...