Wie sagt man ich liebe dich - Roman

von: Claudia Winter

Goldmann, 2020

ISBN: 9783641233556 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Wie sagt man ich liebe dich - Roman


 

Prolog


PARIS, IM DEZEMBER 2018.

Das Alter braucht den Winter nicht, um einen Menschen Demut zu lehren. In diesem Spruch lag eine Wahrheit, die er heute in jedem Knochen spürte. Mit einem verkrampften Lächeln sank Eduardo auf den Eisenstuhl und ließ die Papiertaschen und Plastiktüten achtlos zu Boden gleiten. Es gab keinen Anlass, sich Gedanken um Taschendiebe zu machen. Die Tische auf dem Gehweg vor der Brasserie Au Clairon des Chasseurs an der Place du Tertre waren verwaist, trotz der Heizstrahler, die müde Touristen herbeilocken sollten.

Warum keiner hier sitzen wollte, konnte er nicht wirklich nachvollziehen. Er fand die Bistrotische recht einladend, so wie sie sich in ihren karierten Mänteln aneinanderschmiegten, als müssten sie sich an diesem winterlichen Spätnachmittag gegenseitig wärmen. Ihm dagegen war schon seit einer halben Stunde nicht mehr kalt. Er schwitzte unter dem Hut, seine Hüfte zwickte. Das war dann wohl die gerechte Strafe für die Schnapsidee, ausgerechnet den höchsten Hügel von Paris zu Fuß erklimmen zu wollen, statt die Montmartre-Seilbahn zu besteigen oder gleich ein Taxi zu nehmen.

Eduardo de Alvarenga seufzte. Dass er bereits vierundsiebzig Jahre alt war, konnte er mitunter selbst kaum glauben, aber so stand es in seinem Pass, der mit der Geldbörse in seinem Bauchgürtel steckte. Er betastete ihn automatisch, während er sich nach einer Bedienung umsah. Der Kellner stand rauchend im Türrahmen des Restaurants und weckte bei Eduardo einen Anflug von Sympathie. Die Situation der jungen Leute war heutzutage überall gleich schwierig, ob in Paris oder Lissabon, seiner Heimatstadt. Er vermutete, dass der Bursche die Schiebermütze und das alberne rote Halstuch nur aus einer Notwendigkeit heraus trug, die ihm ein Zimmer in irgendeiner schäbigen Studentenbude sicherte. Was dem Burschen an Stolz geblieben war, fand Ausdruck in den gemächlichen Rauchfahnen, die sich in der Dezemberluft mit dem Geruch von Schnee und verkohlten Maronen mischten. Er war ihm vertraut, dieser Duft. Auch in seiner Stadt wurden in den Wintermonaten Esskastanien verkauft.

Eduardo wartete geduldig, nicht nur, weil er dem Jungen die Zigarettenlänge Rebellion gönnte. Er kam aus einem Land, wo man Leute, die es eilig hatten, mit einem verständnislosen Kopfschütteln bedachte. Eigentlich war er dem Kellner sogar dankbar für seine Ignoranz. Sie verschaffte ihm Gelegenheit, sich über die Preise auf der Getränkekarte zu wundern und die mit Lichterketten geschmückten Bäume und Holzbuden zu betrachten, an denen Crêpes und weihnachtliche Souvenirs feilgeboten wurden.

Es überraschte ihn nicht, dass ihm dieser Ort fremd vorkam. Fünfzig Jahre waren eine lange Zeit, und die Bilder in seinem Kopf waren fünfundzwanzig Grad wärmer und trugen die Farben des Sommers. Doch je länger Eduardo die vermummten Gestalten vor den Staffeleien musterte, desto stärker wurde die undefinierbare Sehnsucht, die ihn seit Monaten umtrieb und letztendlich zu dieser Reise gedrängt hatte. Zu Hause ahnte niemand, dass er die Weihnachtseinkäufe bloß vorgeschoben hatte, auch sein braver Butler Albio nicht, der ihn bescheiden um ein paar antiquarische Postkarten für seine Sammlung gebeten hatte. Eduardos liebe Familie hingegen war ganz wild auf luxuriöse Seifen, Seidentücher und Süßigkeiten. Eduardo fand, er habe seine Pflicht mehr als ausreichend erfüllt – gemessen am Gewicht der Taschen, die er, der alte Narr, durch halb Paris schleppte, statt einen Zwischenstopp im Hotel einzulegen.

Es war eine spontane Idee von ihm gewesen, herzukommen. Eine Idee, die auf einer alten, verblichenen Erinnerung gründete, die auch noch nach fünfzig Jahren ein Ziehen in seiner Brust verursachte. É insano – verrückt war das. Oder, wie sein Gärtner beim Anblick einer unerwartet aufgeblühten Pflanze auszurufen pflegte: »Caramba!«

Caramba. Jetzt saß er also tatsächlich an der Place du Tertre, vor der Brasserie, die sogar noch dieselbe von damals war, und fragte sich, was zum Teufel er hier suchte, rund zweitausend Kilometer von zu Hause entfernt.

Der Kellner schnippte den Filter aufs Trottoir und wischte im Gehen auf seinem Mobiltelefon herum. »Putain!«, sagte er verächtlich und wandte sich endlich Eduardo zu. Was er von dem weißhaarigen Herrn hielt, dem Nadelstreifenanzug und der rosafarbenen Krawatte, die zwischen dem Revers des Kaschmirmantels hervorlugte, blieb, wo es hingehörte: in seinem Kopf.

Eduardo bestellte un café, der mit vier Euro sechzig zu Buche schlug, und bekam dafür einen tiefschwarzen herrlich duftenden Espresso serviert. Zumindest das hatten die Franzosen mit den Portugiesen gemein, sie wussten, wie man vorzüglichen Kaffee machte. Zufrieden grunzte Eduardo in seinen Bart und rührte drei Löffel Zucker in das Tässchen. Warum er mitten in der Bewegung innehielt, konnte er zunächst nicht mit Bestimmtheit sagen. Er nahm die Lesebrille ab und blinzelte zu den Staffeleiplätzen hinüber, bis sein Blick an einem gelben Fleck hängen blieb, der sich Sekundenbruchteile später als junge Frau entpuppte.

Eine junge Frau in einem senfgelben Mantel.

Er spürte, wie sein Herz aus dem Takt geriet. Das Tässchen klirrte auf dem Unterteller, als er versehentlich gegen das Tischbein stieß, eine der Einkaufstaschen kippte auf den Bürgersteig. Er lockerte die Krawatte und wusste, dass seine Reaktion überzogen war. In den letzten Jahrzehnten hatte er unzählige Frauen in einem solchen Kleidungsstück gesehen. Ihm war bewusst, dass es in der Mode nichts gab, das nicht schon hundertmal neu erfunden worden wäre. Dass ihm jedoch ausgerechnet hier ein solcher Mantel unterkam, war … Caramba, das war gruselig.

Eduardo verengte die Augen. Obwohl er eine Lesebrille brauchte, funktionierte seine Fernsicht einwandfrei. Leider dämmerte es bereits, und sie war zu weit entfernt, als dass er ihr Gesicht erkennen oder gar ihr Alter hätte schätzen können. Aber die Art, wie sie sich bewegte … Wie sie einer Frau nach der Verabschiedung reglos hinterherschaute und danach die rote Wollmütze tiefer in die Stirn zog … Wie sie die Malutensilien verräumte, als beanspruchte jeder Pinsel einen festen Platz in dem Holzkasten … Er vermutete, dass sie kaum älter als dreißig war. So alt wie seine Enkelin Angela.

Eduardos Gaumen zog sich zusammen, als die bittersüße Flüssigkeit seine Geschmacksknospen traf. Mit geschlossenen Lidern schimpfte er sich einen senilen Dummkopf und erwartete, dass sich in wenigen Sekunden bestätigte, dass das Mädchen eine Halluzination war. Zur Sicherheit bekreuzigte er sich und zählte stumm bis zehn, bevor er die Augen öffnete.

Sie ist fort. Natürlich ist sie das.

Er atmete aus, halb erleichtert, halb enttäuscht. Doch dann erstarrte er, als er die Frau auf dem Gehsteig entdeckte. Sie ging schnell und hielt den Oberkörper wegen des Gewichts der Staffelei leicht zur Seite geneigt. Zu seinem Schrecken steuerte sie geradewegs auf ihn zu.

Instinktiv griff Eduardo nach der Karte und musterte sie angestrengt, als wären café double, noisette und chocolat chaud verschlüsselte Codewörter, die der französische Geheimdienst unter das gemeine Volk geschmuggelt hatte. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und mischte sich mit dem herannahenden Klackern der Stiefelabsätze und der Leierkastenmelodie zu einer unerträglichen Kakofonie. Mon beau sapin – »O Tannenbaum«, ein Weihnachtslied, das zu Hause Ó pinheirinho hieß, ertönte krumm und schief.

Er hielt es nicht länger aus. Langsam senkte er die Karte – und sah in ein zartes Gesicht mit braunen Locken, die in dem Mantelkragen lagen wie in einer senfgelben Schale. Auch wenn sie müde aussahen, waren ihre Augen betörend, porzellanblau wie polierte Azulejo-Kacheln. Eduardo fühlte sich, als werfe er einen Blick in die Vergangenheit.

Sie sieht aus wie sie. Aber sie ist es nicht, dachte er und stöhnte innerlich auf, als ihr Blick den seinen berührte und ohne ein Erkennen aufs Trottoir fiel. Sie blieb stehen und zögerte unmerklich, bevor sie sich samt ihrer Last bückte, Eduardos entwischte Einkaufstüte aufhob und zu den anderen neben seinen Stuhl stellte.

Verwirrt versuchte er sich an einem »Merci mille fois, Mademoiselle. – Tausend Dank, Fräulein«, aber die Wörter gingen irgendwo in seinem Mund verloren. Zu sehr strengte er sich an, ihre abgespannten Züge mit dem fröhlichen Gesicht aus seiner Erinnerung abzugleichen, das ihm beim Sortieren des Bibliothekschranks als Polaroidfoto in die Hände gefallen war. Seitdem hockte das Bild in seinem Kopf. Und es flüsterte unentwegt.

Die junge Frau schien kein Dankeschön zu erwarten. Stattdessen neigte sie den Kopf und brachte ein Lächeln hervor, das ausreichend lang für eine Höflichkeitsbekundung, aber kurz genug für einen Fremden war. Damit wandte sie sich ab und setzte ihren Weg fort.

Fassungslos starrte Eduardo dem gelben Mantelrücken mit dem Rucksack hinterher. Nicht wegen der so typischen Kinnbewegung, die ihn an ein Kind erinnerte, das Königin spielt und dabei nur mühsam ernst bleiben kann. Nein. Weitaus mehr schockierte ihn die Brosche, die er am Revers des Mantels entdeckt hatte. Eine Sardine. Kupfern. Kaum größer als sein Daumen.

Fico maluca. Ich werd verrückt. Das kann kein Zufall sein! Seine Gedanken überschlugen sich. Diesmal benötigte er nur einen Augenblick für die einzige Reaktion, die jetzt noch für ihn infrage kam.

»Mademoiselle! Warten Sie!« Mit zittrigen Fingern öffnete Eduardo...