Magie des Konflikts - Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt

von: Reinhard K. Sprenger

Deutsche Verlags-Anstalt, 2020

ISBN: 9783641255367 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 13,99 EUR

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Magie des Konflikts - Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt


 

_Teil 1


Klärungen

Konflikte. Jeder hat sie. Niemand will sie. Deshalb wollen die meisten Menschen sie möglichst weiträumig umfahren. Und wenn das nicht geht, hinter sich bringen. Oder gar lösen. Verständlich. Ist aber etwa so wahrscheinlich wie die Deutsche Meisterschaft für meinen heimatlichen Fußballklub Rot-Weiss-Essen. Mehr noch: schädlich. Wie das?

Gesamtgesellschaftlich hält sich das Vorurteil, dass nur das harmonische Einverständnis der Menschen Zusammenhalt bietet. Konflikt gilt als das Gegenteil von Harmonie und Zusammenhalt, als die Negation des Miteinanders. Man will ihm aus dem Weg gehen oder ihn aus dem Weg schaffen. Das verkennt die magische Doppelwertigkeit von Konflikten.

Natürlich sind Konflikte lästig. Im Grunde will niemand etwas mit Konflikten zu tun haben. Im Extremfall zerstören sie sogar: Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften und Ehen. Sie zermürben Unternehmen und spalten Nationen. Betrachtet man einige Meter Ratgeberliteratur, dann springt folglich das Vermeiden ins Auge: »Konfliktfrei leben« heißt es da, »Wie man Konflikte löst« und »Konflikte positiv bewältigen«. Diese Titel bezeichnen den Kulturkonsens, die allgemein verpflichtende Lebensweise.

Aber, Hand aufs Herz, ist ein Leben ohne Konflikt wirklich wünschenswert?

Beobachten Sie sich selbst! Sie werden von Konflikten wahrscheinlich ebenso abgestoßen wie angezogen. Man spricht von »dunklen Wolken«, die aufziehen. Aber auch vom »reinigenden Gewitter«, das alles blitzsauber wischt. Manchmal ist der Konflikt ja nicht nur die Lösung, sondern geradezu Erlösung.

Und auch das werden Sie kennen: Wer keine Konflikte hat, ist langweilig. Interessante Geschichten in der Literatur wie im wahren Leben basieren fast immer auf Konflikten. Spannungsverhältnisse sind nicht nur belastend, sondern machen das Leben eben auch – spannend. Eine Zauberwirkung: Lassen Sie den zerstreutesten Zeitgenossen seinen Weg suchen, und er wird unfehlbar wie eine Kompassnadel von einem Konflikt angezogen.

Manche lassen sich von Konflikten geradezu »verhexen«. Oft glaubt man die Menschen kaum wiederzuerkennen, wenn man sie in Konflikten erlebt. Diese Energie! Vergleichen Sie mal zwei Menschen, die heiraten, und zwei, die sich scheiden lassen. Die Frau, die »Keinen Tag länger!« ruft – sie ist nicht dieselbe, die einst das Ja-Wort hauchte. Und der Mann, der »Auf immer und ewig!« beteuerte, ist vielleicht sich selbst ein Fremder geworden. Das sind nicht zwei Menschen, das sind vier. Magisch.

Konflikte sind vor allem dann magisch anziehend, wenn andere ihn haben. Es gibt nicht wenige Menschen, die zwar behaupten, selbst keine Konflikte zu haben, jedoch von zahllosen Konflikten in ihrem Umfeld berichten. Das mag Realitätsausblendung sein. Richtig daran ist: Von den meisten Konflikten sind Sie nicht direkt betroffen. Sie werden Ihnen medial vermittelt. Bequem sitzen Sie in Ihrem Sessel, bekommen die Konflikte mundgerecht serviert, mit Sicherheitsabstand.

Die meiste Zeit also beobachten Sie Konflikte. Sie beobachten, wie andere Menschen andere Menschen beobachten, sie beurteilen und entsprechend handeln. Zeitungen leben davon und Fernsehnachrichten. Ein kurzer Krieg macht bekanntlich bessere Schlagzeilen als ein langer Frieden. Und nichts begeistert den Fernsehzuschauer mehr als die Revolution in einem fernen Land. Ohne Konflikte wären ganze gesellschaftliche Subsysteme gegenstandslos. Das Rechtssystem zum Beispiel, oder die Wehrtechnik. Ebenso: Wahlkämpfe, Demonstrationen, wissenschaftliche Dispute, ja sogar Sportereignisse blieben ohne Resonanz, fehlte ihnen das Hexenkesselige. Opern, Theaterstücke, ein Überangebot an Gegenständen, die Menschen sich ausgedacht haben, um sich gegenseitig zu massakrieren, in den Museen einige Quadratkilometer gemalte Konflikte, die beim Betrachter Schrecken und Mitleid auslösen. Die Marter des heiligen Sebastian, die Verspottung Christi, Perseus kämpft mit der Medusa, der heilige Julian wird enthauptet, Seeschlachten, Gemetzel ohne Ende. Auch die Filmindustrie ist ständig damit befasst, scheußlich-schöne Schrecken hervorzubringen, damit wir unser archaisches Notverhalten nicht vergessen. Wie Platons Höhlenbewohner sind wir gefangen in einem Kino, das uns täglich mit Auseinandersetzungen, Empörungsanlässen und breaking news in Bann schlägt. Und wir werden nicht gefangen gehalten, sondern binden uns selbst, weil wir diese Konflikte als Unterhaltung lieben.

Ich habe daher nur mühevoll der Versuchung widerstanden, alle Bereiche des Lebens als Modifikationen von Konflikt aufzufassen. Auch Vergnügungen und spielerische Lebensaspekte stehen ja, wie gesagt, keineswegs in Opposition dazu. In Konflikten tritt jedenfalls das Grundgewebe unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens exemplarisch zutage. Durch sie und in ihnen erfahren wir mehr über uns und unsere soziale Wirklichkeit.

Wenn wir auf Unternehmen schauen, erkennen wir auch dort den Magnetismus des Konflikts. Einerseits: Konflikte stören Prozesse, Energie wird »innen« gebunden. Wenn Energie nach innen geht, kann sie nicht nach außen gehen, zum Kunden. Zudem machen Konflikte Kollegen zu Gegnern, die dann weiter so tun, als seien sie Kollegen. Produktiv ist das nicht. Und immer kommen Konflikte ungelegen: Man hat Bahnbrechendes vor und zack! – plötzlich hängt der Abteilungssegen schief, weil irgendeine Rüpelvariante eines Kollegen sich nicht im Griff hat. Studien zeigen, dass Manager bis zu 18 Prozent ihrer Arbeitszeit für das Moderieren von Konflikten aufwenden.

Andererseits: Die Attraktion von Konflikten ist auch im Unternehmen riesig. Wenn Sie in einer Organisation ab einer gewissen Größe arbeiten, kennen Sie den Klatsch und Tratsch über Streit zwischen einzelnen Personen, zwischen Abteilungen, zwischen ganzen Organisationsbereichen, die überhaupt nicht »miteinander können« oder gar »zerstritten« sind. Wer gegen wen? Wer hat gewonnen? Wer verloren? Konflikte haben in Unternehmen oft die Qualität von Showspektakeln vor vollem Haus. Der ansonsten routinierte Arbeitsalltag nimmt Fahrt auf. Das hat Tradition: Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen der Wiederkehr des Alltäglichen zu entfliehen, egal wohin. Das kann Fest, Abenteuer und Kino sein, das kann eben auch Zwist, Streit und Konflikt sein. Konflikt lässt den Adrenalinspiegel steigen – und alle Lebenszweifel treten in den Hintergrund. Vermutlich werden Sie mir zustimmen: Einen Teil Ihres Gesamteinkommens verdanken Sie dem Unterhaltungswert Ihres Unternehmens. Der wäre dann vergnügungssteuerpflichtig …

Konflikte ziehen also an und stoßen ab. Wer nur die abstoßende Wirkung fühlt, billigt zwar die übliche Dämonisierung, schadet sich aber selbst, weil er etwas ganz Zentrales übersieht: die lebensspendende Funktion von Konflikten.

Konflikte sind Motoren des Lebens


»Konflikt!« Ein scharfer Anlaut, zwei kurzen Silben, ein noch schärferer Ablaut – das bleibt nicht im Hintergrund. Das ist eckig, drängt zur Bewegung, ist anstößig und stößt an. Dieses Belebende können wir entdecken, wenn wir auf Konflikte schauen, die uns selbst betreffen. Alles, was wir können, all unsere Talente verdanken wir Grenzsituationen: Widerständen und Problemen. Sie fordern uns heraus, lassen uns wachsen, entwickeln neue Sichtweisen und Fähigkeiten.

Wenn gesellschaftliche Lebensqualität darin besteht, jeder einzelnen Person zur bestmöglichen Verwirklichung ihrer individuellen Fähigkeiten zu verhelfen, dann war das historisch noch immer mit häufig erbitterten Konflikten verbunden. Das Negative ist also das eigentlich Positive. Jeder Segler weiß, dass Gegenwinde viel häufiger sind als achterliche Winde. Der kundige Segler weiß sie zu nutzen … genau wie jener, der auf dem Titelkupfer der Schrift abgebildet ist, mit der Francis Bacon 1620 den Konflikt als Fortschrittsmotor der Neuzeit einbürgerte: »Viele werden ratlos umherirren, und die Erkenntnis wird groß sein.«

Ich übertreibe also nur wenig, wenn ich Sie bitte, »Hurra, ein Konflikt!« zu rufen. Da geht was voran.

Das Leben beginnt, wenn die Komfortzone endet.

Im Kindesalter geht es los. Identität zum Beispiel gibt es nur durch Konflikt. Als Abgrenzung gegenüber den Eltern. Dadurch wird Kraft freigesetzt, Kraft, die wir zum Wachsen brauchen. Wenn ein Kind sich nicht an den Eltern reiben kann, entwickelt es keine Ich-Stärke. Dann lernt es nicht, eigene Bedürfnisse durchzusetzen. Wenn nach der Shell-Jugendstudie 2019 mehr als 90 Prozent aller Jugendlichen ein gutes oder sehr gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben, ist das keineswegs nur begrüßenswert. Ohne Konflikt werden diese Kinder die Welt nicht für sich erobern können.

Auch Beziehungen entscheiden sich an der Peripherie, also im Konfliktfall – so wie Architektur sich nicht über die ruhigen Flächen definiert, sondern an den Rändern, Kanten und Übergängen. Konflikte wirken stabilisierend auch auf Liebesordnungen. Wer in seiner Beziehung nie einen Konflikt hatte und diesen bewältigen musste, der bleibt anfällig für Erschütterungen. Auch »Traumpaare« erweisen sich nicht in den dahinplätschernden Regelabläufen, sondern in der virtuosen Kontroverse. Die entgiftende Wirkung des Ehekrachs – Erlösung von der halbbewusst quälenden Unausgetragenheit. Dann weiß man: Wir sind da gemeinsam durchgegangen und konnten uns anschließend wieder in die Augen sehen. Dann hat der Konflikt seinen Zauber...