Und wenn sie tanzt - Roman

von: Susan Elizabeth Phillips

Blanvalet, 2020

ISBN: 9783641183882 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Und wenn sie tanzt - Roman


 

Kapitel 1


Tess tanzte im Regen. Sie tanzte in einem alten Tanktop und im Slip, ihre Füße steckten in traurigen, ehemals silbern glänzenden Ballerinas. Sie stampfte mit den Füßen auf den glitschigen, moosbedeckten Steinplatten unter dem tropfenden Nussbaum, der die Berghütte so viele Jahre geschützt hatte. Heute tanzte sie zu Hip-Hop, gestern zu Reggae, vorgestern … vielleicht zu Grunge, vielleicht auch nicht, Hauptsache, die Musik war laut, laut genug, um eine Komplizin ihrer Wut zu sein, um die Trauer zu heiligen, die nie, niemals weggehen würde. Die Art von Lautstärke, die in Milwaukee nicht möglich war, aber hier auf dem Runaway Mountain, wo Rehe und Waschbären ihre nächsten Nachbarn waren, konnte sie ihren Sound so laut aufdrehen, wie sie es brauchte.

Der kalte, feuchte Februarwind in East Tennessee trug den Geruch von modrigen Blättern und Stinktier mit sich. Es war nicht das richtige Wetter, um sich nur in Unterwäsche draußen aufzuhalten, aber im Gegensatz zu einem toten Ehemann waren Nässe und Kälte etwas, gegen das Tess vorgehen konnte.

Mit der linken Fußspitze blieb sie an einer gebrochenen Steinplatte hängen, und ihr Schuh wurde ins Gestrüpp geschleudert. Ein Schuh an, ein Schuh aus. Sie schickte ihre ganzen Emotionen in ihre Füße. Ein spitzer Stein bohrte sich in ihre Ferse, aber wenn sie aufhörte, würde ihre Wut sie von innen verbrennen. Sie zwang ihre Hüften in den Schwung, warf den Kopf hin und her, sodass ihre nassen, zotteligen Haare flogen. Schneller und schneller. Hör nicht auf. Hör bloß nicht auf. Sobald du aufhörst …

»Sind Sie taub

Sie erstarrte, als ein Mann über die wackelige Holzbrücke stürmte, unter der der Poorhouse Creek dahinplätscherte. Ein Bergmensch mit struppigem dunklem Haar, einer markanten Nase und einem kantigen Kiefer. Ein Bär von einem Mann – groß wie ein Bergahorn und unempfindlich gegen den Regen –, der ein rot-schwarz kariertes Flanellhemd über einer robusten Arbeitsjeans und Stiefel voller Farbspritzer trug. Sie hatte von diesen Bergmenschen gelesen: Einsiedler, die sich mit einem Rudel scharfer Hunde und einem Arsenal an Feuerwaffen in der Wildnis verkrochen. Sie lebten monatelang – jahrelang – ohne menschlichen Kontakt, bis sie ihre Herkunft vergaßen.

Tess stand da, bewegungsunfähig, in ihrer ollen Unterhose und dem nassen weißen Baumwollhemd, das über ihren Brüsten spannte. Ohne BH, wütend, selbst halb verwildert und sehr alleine.

Er kam durch den Regen auf sie zugestapft, während die klapprige Holzbrücke hinter ihm schwankte. »Ich habe mir diesen Krach gestern Nachmittag gefallen lassen und gestern Abend und dann mitten in der Nacht um zwei Uhr, aber jetzt habe ich die Schnauze voll!«

Sie musterte ihn, verschaffte sich einen ersten kurzen Eindruck. Trotzig gewelltes, widerspenstiges, zu langes Haar, das sich an seinem Hals feucht lockte. Seine Holzfällerkleidung war zerknittert, die rissigen Lederstiefel waren mit einem Dutzend verschiedener Farben besudelt. Sein Bart war nicht lang genug für einen verrückten Einsiedler, aber er machte trotzdem einen verrückten Eindruck.

Sie würde sich nicht entschuldigen. Sie hatte sich zu Hause in Milwaukee genug entschuldigt für die Belastung, die ihre Trauer für ihre Freunde und Arbeitskollegen darstellte, doch hier würde sie es nicht tun. Sie hatte sich für den Runaway Mountain entschieden, nicht nur wegen seines Namens, sondern auch wegen seiner Abgeschiedenheit – ein Ort, wo sie so unhöflich, so untröstlich, so wütend auf das Universum sein konnte, wie sie wollte. »Hören Sie auf, mich anzuschreien!«

»Wie soll ich mich denn sonst verständlich machen?« Er schnappte sich ihren Bluetooth-Lautsprecher, der auf einem trockenen Platz unter den splittrigen Trümmern eines Picknicktisches stand.

»Stellen Sie das wieder hin!«

Er drückte mit einem stumpfen Finger seiner großen Pranke auf den Power-Knopf, und die Musik verstummte. »Wie wäre es mit ein bisschen Höflichkeit?«

»Höflichkeit?« Sie fand Gefallen daran, ein Ventil zu haben für die Ungerechtigkeit, die ihr im Leben widerfahren war. »So nennen Sie das, wenn Sie wie ein Wilder hier angestürmt kommen?«

»Hätten Sie etwas Respekt vor all dem hier …« Er machte eine schroffe Geste zu den Bäumen und dem Bach, und seine harten Gesichtszüge wirkten wie grob geschnitzt, als wären sie mit einer Kettensäge herausgearbeitet worden. »Hätten Sie etwas Respekt, hätte ich nicht hier angestürmt zu kommen brauchen!«

Und dann sah sie es. Der Moment, in dem er ihre Kleidung wahrnahm – beziehungsweise ihre Nicht-Kleidung. Augen in der Farbe von Schiefer streiften sie abschätzig. Aber was störte ihn? Ihre nassen, verhedderten Haare? Ihr Körper, der schwerer war, als er sein sollte, weil sie sich bis zum Ersticken vollstopfte? Ihre Beine? Ihre schäbige Unterwäsche? Oder vielleicht nur ihre Unverfrorenheit, auf seinem Planeten Platz für sich zu beanspruchen?

Wen wollte sie auf den Arm nehmen? Mit ihren Brüsten, die sich unter dem nassen Trägerhemd abzeichneten, sah sie wahrscheinlich aus wie das groteske Klischee einer betrunkenen Studentin im Partyurlaub in Cancún. Ihr Kopf schwamm im Hochrausch ihrer Wut. »Sie hätten nur höflich zu fragen brauchen.«

Sein Blick durchbohrte sie, seine Stimme klang wie ein leises, tiefes Knurren. »Ja, klar, das hätte sicher funktioniert.«

Sie war eindeutig im Unrecht, aber das war ihr egal. »Wer sind Sie?«

»Jemand, der gern ein wenig Ruhe und Frieden hätte. Zwei Begriffe, die Ihnen offenbar fremd sind.«

Niemand hatte sie zurechtgewiesen, seit ihr Mann gestorben war. Stattdessen taten alle so, als stünden sie noch immer im Verabschiedungsraum mit seiner überladenen Einrichtung und dem ekelerregenden Geruch von Stargazer-Lilien. Eine Zielscheibe für ihre Wut zu haben war auf widerliche Art berauschend. »Sind Sie immer so unverschämt?«, schnauzte sie den Fremden an. »Denn falls ja …«

In diesem Moment schwebte eine Waldfee über die schmale Brücke, tänzelte mühelos über die fehlenden Planken hinweg, so leichtfüßig, dass die Konstruktion sich kaum bewegte. »Ian!« Die langen blonden Haare der märchenhaften Gestalt wehten unter einem großen roten Regenschirm hinter ihr her. Ein wadenlanges Kleid aus hauchdünnem Stoff, das sich eher für Juli als für Anfang Februar eignete, umspielte ihre Beine. Sie war groß und gertenschlank, abgesehen von ihrem Schwangerschaftsbauch.

»Ian, hör auf, hier herumzuschreien«, sagte das ätherische Wesen. »Ich konnte dich vom Schulhaus aus hören.«

Von dort war er also hergekommen – von der umgebauten Schule auf dem Bergrücken oberhalb der Hütte. Im Januar, als Tess hierhergezogen war, war sie den Pfad hochgestiegen, um sich oben umzusehen. Sie hatte das weiße Holzgebäude entdeckt und durch die Fenster gespäht und gesehen, dass es in ein Privathaus umgewandelt worden war, in dem aber niemand zu wohnen schien. Bis jetzt.

»Beachten Sie ihn nicht.« Die Elfe war eine Disney-Fee mit blauen Augen, vermutlich um die dreißig. Sie hatte ihre Feenglanzzeit gerade erst hinter sich. Sie schwebte durch das Dickicht, das an die Hütte grenzte, unempfindlich gegen das nasse Gras, das ihre Waden streifte. »Er ist immer so, wenn ihm vor der Leinwand nichts einfällt.«

Vor der Leinwand. Nicht die im Kino. Der Bergmensch war wahrscheinlich ein Maler. Ein temperamentvoller.

Die Fee lachte, ein Lachen, das es nicht ganz bis zu diesen märchenblauen Augen schaffte. Irgendwie kam sie Tess bekannt vor, obwohl sie sicher war, dass sie sich nie begegnet waren. »Er bellt eher, als dass er beißt«, sagte die Fee, »aber er kann auch zuschnappen.« Sie streckte eine schmale, warme Hand unter dem roten Regenschirm zur Begrüßung vor. »Ich bin Bianca.«

»Tess Hartsong.«

»Ihre Hände sind eiskalt«, sagte Bianca. »Das fühlt sich gut an. Mir ist so heiß.«

Tess’ professionelles Hebammenauge übernahm. Bianca war kurzatmig, wie viele Frauen im fortgeschrittenen Stadium einer Schwangerschaft. Sie war vermutlich im siebten Monat. Ihr Bauch saß hoch und wuchs nach vorne. Ihr Gesicht war blass, aber sie wirkte nicht so erschöpft, dass Anlass zur Sorge bestand.

»Ian, du hast genug Schaden angerichtet«, sagte sie. »Geh nach Hause.«

Er hielt Tess’ Bluetooth-Lautsprecher in der Hand, als hätte er die Absicht, mit ihm davonzumarschieren. Doch dann stieß er erneut ein Knurren aus und stellte die Box hart auf die Picknickbank. »Wehe, ich muss wiederkommen.«

»Ian!«

Er ignorierte die Waldfee und stolzierte davon, über die schmale Holzbrücke, deren nasse Planken von seinen Schritten so heftig erschüttert wurden, dass Tess damit rechnete, das ganze Ding würde gleich in den Poorhouse Creek krachen.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Bianca. »Er benimmt sich wie ein Arsch.«

Verglichen mit dem hitzigen Bergmenschen war die Elfe unter ihrem roten Schirm ein taufrischer Regenbogen, und Tess verriegelte ihre innere Büchse der Pandora, der Ort, wo sie ihre Emotionen verstaute, wenn sie durch den Tag kommen musste.

»Es war meine Schuld«, gab sie zu. »Ich wusste nicht, dass dort oben jemand wohnt.«

»Wir sind vor drei Tagen hier angekommen. Es war nicht meine Entscheidung, aber mein Mann fand, die Bergluft würde mir guttun. Zumindest hat er das gesagt.« Bianca gab Tess den Regenschirm und zog dann ihr dünnes Kleid über den Kopf. Darunter war sie nackt, bis auf einen knappen champagnerfarbenen...