Die verlorene Frau - Roman

Die verlorene Frau - Roman

von: Emily Gunnis

Heyne, 2020

ISBN: 9783641260729 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die verlorene Frau - Roman


 

Kapitel eins

HARVEY

Mittwoch, 19. November 2014, 9 Uhr

Harvey Roberts ging zum Küchenfenster seines Bauernhauses und blickte über den eisbedeckten Hof auf die Hügel von South Downs. Er war erst seit ein paar Stunden auf den Beinen, doch er konnte vor Erschöpfung kaum laufen, nachdem er zwei Tage lang die Hand seiner in den Wehen liegenden Tochter gehalten hatte. Als er endlich zu Hause in seinem Bett gelegen hatte, hatte er vor Sorge um Jessie kaum schlafen können. Er nahm einen Schluck Kaffee und beschloss, Kraft für eine weitere lange Schicht im St. Dunstan’s Hospital zu sammeln.

Es waren ungemein anstrengende Tage gewesen. Die Wehen hatten bei seiner Tochter drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin eingesetzt, und da Jessies Freund Adam in Nigeria auf einem Fotoshooting war, war es Harveys Telefon, das an einem Sonntag um zwei Uhr morgens klingelte. Er kleidete sich schnell an und fuhr nach Chichester, wo in den Straßen noch die letzten Samstagabend-Kneipenbesucher auf dem Nachhauseweg waren. Als Jessie ihm die Tür zu der schicken viktorianischen Dreizimmerwohnung öffnete, war sie bereits angezogen.

»Ich glaube, die Wehen haben begonnen, Dad«, sagte sie und sah dabei weniger wie eine neununddreißigjährige Feuilletonistin aus denn wie das kleine Mädchen, das er trösten musste, weil es schlecht geträumt hatte. Ihr schulterlanges Haar mit den hellen Strähnchen, normalerweise zu einem glatten Bob geföhnt, war zum Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre porzellanzarte Haut war ungeschminkt, und eine Schildpattbrille rahmte ihre Augen.

Sie standen neben den großen Schiebefenstern in Jessies Wohnzimmer und blickten einander erschrocken an. »Ich habe noch nicht aufgehört zu arbeiten«, sagte Jessie schließlich. »Das Kinderzimmer ist nicht fertig, und es ist kein Essen im Haus.« Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Adam wird erst in einer Woche wieder zurück sein. Ich kann ihn nicht erreichen. Ich schaffe das nicht ohne ihn.«

»Alles in Ordnung, Liebling«, sagte Harvey. »Ich werde ihn ausfindig machen. Er wird in null Komma nichts hier sein – vielleicht ist es nur falscher Alarm.« Instinktiv hatte er die Worte ausgesprochen, die sie hören wollte, auch wenn sie vielleicht nicht der Wahrheit entsprachen. »Ich denke, wir sollten dich ins Krankenhaus bringen, damit du dich untersuchen lassen kannst. Hast du eine Tasche gepackt?«

»Es ist alles schiefgegangen, Dad. Wir haben noch nicht einmal den Geburtspool aufgestellt.« Jessie sah zu dem großen Karton im Flur. »Ich habe gerade meine Hebamme angerufen. Sie hat gesagt, weil die Wehen so früh eingesetzt haben, muss ich in die Klinik. Wir hatten alles geplant – wir wollten eine Hausgeburt, wir wollten nicht ins Krankenhaus.«

Von dem Moment an schien sie sich in einem Zustand großer Angst zu befinden, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. Er legte den Arm um ihre Schulter und versprach ihr, dass alles gut werde, sie solle sich einfach aufs Bett setzen und ihm mit dem Finger zeigen, wo sich ihre Sachen befänden, dann würde er alles zusammenpacken.

Doch alles, was er anpackte, war falsch: Er holte Kleider und Strickjacken hervor statt Schlafanzüge und Jogginghosen, griff nach dem iPad statt nach dem Geburtsplan, den Adam und sie in stundenlanger Arbeit erstellt hatten und den Harvey nun nicht finden konnte. Jessie hatte starke Schmerzen und konnte nicht still sitzen. Sie lief unruhig hin und her und antwortete schroff auf seine Fragen, bis sie schließlich alles beisammenhatten, was Jessie benötigte.

»Was ist mit deiner Zahnbürste?«

»Nimm sie«, brachte sie gerade noch heraus, bevor sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte und laute Schmerzensschreie ausstieß. Schnell lief Harvey ins Badezimmer und griff nach der Zahnbürste. Das Schränkchen stand offen, und sein Blick fiel auf die Schachtel Citalopram, ein Antidepressivum, das Jessie seit dem Tod ihrer Stiefmutter vor zwei Jahren einnahm.

»Die werfe ich auch in deine Tasche, einverstanden?«, fragte er, als er aus dem Badezimmer kam.

Jessie schüttelte den Kopf. »Ich habe damit aufgehört – meine Hebamme hat gesagt, ich könnte das Baby nicht stillen, wenn ich das Medikament einnehme.«

Harvey zog sich der Magen zusammen. Beide hatten eine Zeit tiefer Trauer mit vielen Auf und Abs erlebt, und Jessie hatte diese zwei Jahre nur mithilfe einer psychotherapeutischen Behandlung und der Einnahme des Antidepressivums durchgestanden, das sich als ihr Rettungsanker herausgestellt hatte. »Okay«, erwiderte er kurz, denn er wusste, dass es für eine Diskussion zu spät war. »Hat deine Hebamme mit dir über Flaschenernährung gesprochen? Dir hat es nicht geschadet.« Harvey versuchte seine Wut mit einem Lächeln zu überspielen.

»Nein, Dad«, entgegnete Jessie brüsk. »Ich möchte stillen. Das ist das Beste für das Baby. Ich hatte schon länger daran gedacht, das Medikament abzusetzen. Adam meint, ich würde es nicht mehr brauchen.«

Harvey stand vor seiner Tochter und schwieg verblüfft. Er hatte das Gefühl, dass Adam keine Vorstellung von der tiefen Niedergeschlagenheit hatte, die Jessie nach dem Tod von Liz gequält hatte, der Frau, die seit ihren Babytagen wie eine Mutter für sie gesorgt hatte. Und dass Adam sie ermutigt hatte, das Antidepressivum abzusetzen, wenn der Geburtstermin nahte und er beruflich unterwegs war, bestätigte Harvey nur in seiner Vermutung.

Doch gerade als er Jessie bitten wollte, noch einmal darüber nachzudenken, konnte er Liz’ Hand auf seinem Arm spüren, die ihn zurückhielt. Also schwieg er, denn ohne die lenkende Hand seiner Frau fühlte er sich hilflos.

Seit dem Moment, in dem Jessie ihm die Haustür geöffnet hatte, fühlte er, wie der Tod seiner Ehefrau wieder zu ihm zurückkam. Es war, als ob man ihm die Nachricht ein zweites Mal überbrachte. Er wusste, dass Jessie ebenso empfand: Wut über ihrer beider Verlust hing in der Luft; Wut, dass sie ohne Liz zurechtkommen mussten, dass er, wie immer, der Aufgabe nicht gewachsen war.

Als sie schweigend die Wohnung verließen, ging ihm durch den Kopf, dass Jessie ihrer Stiefmutter von der Überlegung, das Medikament abzusetzen, erzählt hätte. Sie hätte das Thema bei einer Tasse Tee angesprochen oder während eines Sonntagsspaziergangs, und Liz hätte einen Weg gefunden, Jessie ihr Vorhaben auszureden. Dank Citalopram konnte Jessie vergessen, wie schlecht es ihr gegangen war – sie hatte heftige Angstattacken und Zwangsstörungen gehabt, bevor sie ein Jahr nach Liz’ Tod Adam kennengelernt hatte. Jetzt war die – möglicherweise katastrophale – Entscheidung gefallen, und Harvey konnte nichts mehr dagegen tun.

»Auauaaua!«, schrie Jessie, als sie an dem am Fahrstuhl angebrachten »Außer Betrieb«-Schild vorbeikam und mit unsicheren Schritten begann, die Treppe hinunterzusteigen. Bei jeder Schmerzwelle blieb sie stehen und umklammerte fest das hölzerne Treppengeländer, bis sie es schließlich die drei Stockwerke hinunter zu Harveys Auto geschafft hatte.

Während Harvey seiner Tochter immer noch hilflos zusah, dachte er an den Abend zurück, als er das Gespräch auf einen möglichen Umzug gebracht hatte. Die beiden hatten ihn in Adams makellose Wohnung zum Abendessen eingeladen. Jessie war dort einzogen, als sie schwanger wurde, nur ein halbes Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Jessie und Adam hatten ihm mitgeteilt, dass sie ein Mädchen bekommen würden, und sie umarmten einander und beglückwünschten sich mit Tränen in den Augen. Dann fragte er, ob sie sich nicht nach einem Haus umschauen wollten, damit Jessie sich nicht mit dem Kinderwagen mühen müsse, wenn der Aufzug mal wieder streikte, und sie beide nicht weiterhin dem Lärm des Nachtlebens der City von Chichester ausgesetzt seien. Er bot an, in dem Fall noch einmal eine Hypothek aufzunehmen, um ihnen finanziell unter die Arme zu greifen.

Jessie und Adam blickten einander an, und innerhalb von Sekunden hatte Adam sein Angebot bereits abgelehnt. Sie liebten ihre Wohnung, sagte er, während Jessie sich auf dem cremefarbenen Sofa mit den farblich passenden, perfekt arrangierten Kissen an ihn kuschelte. Sie wollten nicht eines von den Paaren sein, die ihr geliebtes Wohnviertel verließen und später darunter litten. Das Baby würde sich problemlos in ihr Leben einfügen, setzte Adam hinzu. Jessie wollte baldmöglichst wieder arbeiten; es würde sich nichts ändern. Jessie sah Adam lächelnd an. Es war das gleiche Lächeln, das sie als Kind Harvey geschenkt hatte, wenn er sie nach ihrem Tag in der Schule gefragt und sie versucht hatte, ihm zu verheimlichen, dass der Klassenbully sie wieder einmal geärgert hatte.

Harvey blickte sich in der eleganten Wohnung um. Alles wirkte perfekt. Sämtliche Oberflächen waren weiß, und an den ebenfalls weiß gestrichenen Wänden hingen vergrößerte und gerahmte Fotos, die Adam während seiner Arbeit als Reisefotograf geschossen hatte. Alles in dieser Wohnung war ebenso sorgfältig geplant und arrangiert wie das Leben von Adam und Jessie. Harvey konnte es sich nicht vorstellen: Babybrei, Chaos, Schlafentzug. Adam war beruflich viel auf Reisen, und wenn die beiden zu Hause waren, ließen sie es sich gut gehen: Sie gingen ins Restaurant oder shoppen oder saßen am Strand. Und wenn sie tatsächlich einmal anfingen, aneinander herumzunörgeln, und die Situation ernst wurde, war es schon wieder Zeit, dass Adam sich zu entlegenen Orten dieser Erde aufmachte. Dann stürzte sich Jessie wieder in ihren Job, was bedeutete, dass sie an Tagen, wenn eine Veranstaltung oder ein Geschäftsessen anstanden, zwölf Stunden lang arbeitete....