Das also ist mein Leben - Roman

von: Stephen Chbosky

Heyne, 2011

ISBN: 9783641066369 , 288 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das also ist mein Leben - Roman


 

4
29. April 1992
(S. 98-99)

Lieber Freund, ich wünschte, ich könnte Dir schreiben, dass es mir wieder besser geht. Aber das tut es nicht. Schon deshalb, weil wir wieder Schule haben und ich nicht mehr an dieselben Plätze gehen kann wie früher. Nichts kann mehr sein wie früher. Und ich war noch nicht so weit, Lebewohl zu sagen. Um ehrlich zu sein, bin ich einfach allem aus dem Weg gegangen. In der Schule wandere ich durch die Gänge und beobachte die Leute.

Ich beobachte die Lehrer und frage mich, weshalb sie hier sind. Ob sie ihre Jobs mögen. Oder uns. Und ich frage mich, wie schlau sie eigentlich mit fünfzehn gewesen sind. Nur so aus Neugierde. Ich beobachte die Schüler und frage mich, wer von ihnen gerade Liebeskummer hat und wie sie damit klarkommen, dazu noch drei Hausarbeiten und einen Aufsatz am Hals zu haben. Ich frage mich, wer an dem Liebeskummer Schuld hat. Weil ich weiß, dass die Leute mit Liebeskummer, wenn sie auf eine andere Schule gehen würden, wegen jemand anderem Liebeskummer hätten. Warum muss das alles immer so persönlich sein?

Wenn ich auf eine andere Schule gehen würde, hätte ich nie Sam oder Patrick oder Mary Elizabeth oder irgendwen sonst außer meiner Familie kennengelernt. Neulich war ich im Einkaufszentrum. Tatsächlich bin ich die letzten zwei Wochen jeden Tag dorthin, um zu verstehen, warum Menschen da eigentlich hingehen. Das ist so eine Art privates Projekt von mir. Jedenfalls, da war dieser kleine Junge. Vielleicht vier Jahre alt. Und er weinte ganz schlimm und rief immer wieder nach seiner Mutter – er musste sie verloren haben. Dann war da dieser andere Junge, vielleicht siebzehn.

Er ist wohl auf einer anderen Schule, denn ich hatte ihn noch nie gesehen. Und dieser ältere Junge – der wirklich tough aussah, mit Lederjacke, langem Haar und allem – ging zu dem kleinen Jungen und fragte ihn nach seinem Namen. Der kleine Junge antwortete und hörte zu weinen auf. Dann ging der ältere Junge mit dem kleinen Jungen weg. Kurz darauf kam aus den Lautsprechern die Mitteilung, dass die Mutter ihren Jungen am Infoschalter abholen könne. Also bin ich hin, um zu sehen, wie es weiterging. Ich vermute, dass die Mutter schon eine ganze Weile nach dem Kleinen gesucht hat, denn sie kam zum Infoschalter gerannt und fing an zu weinen, als sie ihn sah. Dann drückte sie ihn ganz fest und sagte, dass er nie wieder weglaufen dürfe. Und dann bedankte sie sich bei dem älteren Jungen für dessen Hilfe. Doch alles, was der ältere Junge sagte, war:

»Pass künftig halt besser auf ihn auf, verdammte Scheiße!« Und dann ging er weg. Der bärtige Mann am Infoschalter war völlig perplex, genau wie die Mutter. Der kleine Junge aber putzte sich nur die Nase, sah zu seiner Mutter hoch und rief: »Ich will Pommes!« Die Mutter sah den kleinen Jungen an und nickte. Dann zogen sie los, und ich folgte ihnen. Sie gingen zu einem der Imbissstände und kauften eine Portion Pommes. Der kleine Junge lächelte und bekleckerte sich mit Ketchup, und die Mutter wischte ihm immer wieder das Gesicht ab, während sie hektisch ihre Zigarette rauchte. Ich beobachtete die Mutter und dachte darüber nach, wie sie wohl ausgesehen hatte, als sie noch jung war. Und ob sie verheiratet war. Und ob ihr Junge ein Unfall oder geplant gewesen war.

Und ob das alles überhaupt einen Unterschied machte. Dann beobachtete ich andere Leute: Alte Männer, die allein dasaßen. Mädchen mit blauem Lidschatten und komischen Mündern. Kleine Kinder, die müde wirkten. Väter in teuren Anzügen, die noch müder wirkten. Junge Bedienungen an den Imbissständen, die aussahen, als hätten sie jeglichen Lebenswillen verloren … Die Kassen öffneten und schlossen sich, die Leute gaben ihre Scheine her und erhielten ihr Wechselgeld dafür … Und das alles fühlte sich wirklich sehr beunruhigend an. Also beschloss ich, woanders hinzugehen, um zu verstehen, warum die Leute dort hingingen. Leider gibt es nicht allzu viele solcher Orte … Ich weiß nicht, wie lange ich ohne einen Freund noch durchhalte. Früher fiel mir das leicht, aber das war, bevor ich wusste, wie es ist, einen Freund zu haben. Manchmal ist es wirklich besser, wenn man keine Ahnung hat. Wenn es reicht, mit seiner Mutter eine Portion Pommes zu essen. Der einzige Mensch außer meiner Familie, mit dem ich die letzten zwei Wochen geredet habe, war Susan, die früher mal mit Michael »ging«, als sie noch ihre Zahnspange hatte. Ich sah sie in der Schule, umringt von einer Gruppe Jungs, die ich nicht kannte, und sie lachten und rissen schmutzige Witze, und Susan gab sich große Mühe, mitzuhalten. Als sie mich bemerkte, wurde ihr Gesicht ganz fahl. Es war fast, als wollte sie sich nicht daran erinnern, wie sie vor zwölf Monaten gewesen war, und ganz sicher wollte sie nicht, dass die Jungs mitbekamen, dass sie mich kannte, ja, dass sie einmal mit mir befreundet gewesen war. Die Jungs um sie herum verstummten und starrten mich an, aber ich nahm sie gar nicht wahr. Ich sah nur Susan an und sagte: »Vermisst du ihn manchmal?«