Denn du gehörst mir - Thriller

von: Mary Higgins Clark, Alafair Burke

Heyne, 2020

ISBN: 9783641242046 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Denn du gehörst mir - Thriller


 

3

Konferenzraum B«, wie Grace ihn bezeichnet hatte, trug mittlerweile offiziell den Namen »Bernard B. Holder Konferenzraum«. Studiochef Brett Young hatte ihn nach Holders Pensionierung im Jahr davor so getauft. Holder, noch länger im Studio beschäftigt als Brett selbst, hatte so unterschiedliche Kategorien wie Soaps, politische Enthüllungsstorys und ein Reality-TV-Format geleitet, das mit der Realität nicht mehr viel zu tun gehabt hatte.

Grace allerdings bezeichnete den Raum nach wie vor mit seinem alten Namen. Wie oft hatte Laurie Bernie für seine anzüglichen Witze, die oft auf Graces Kosten gegangen waren, zurechtweisen wollen, aber Grace hatte immer nur ein höfliches Lächeln für ihn übrig gehabt. »Ich werde noch lange nach ihm da sein«, hatte sie dann gesagt. Und genau so war es gekommen.

Laurie hörte schon die lauten Stimmen von drinnen, als sie sich der Tür näherte. Kurz hielt sie inne. Die Frau sprach davon, das Vergangene hinter sich zu lassen und zum Wohle der Kinder endlich Frieden zu finden. »Ich sehe es nicht gern, wenn der Name der Familie in den Schmutz gezogen wird.«

Ihr Mann war deutlicher zu verstehen. Er klang verbittert und wütend. »Es interessiert mich nicht die Bohne, was mit dem Namen der Familie geschieht. Sie hat unseren Sohn umgebracht.«

Ein paar Sekunden wartete Laurie noch, bevor sie den Raum betrat. Mrs. Bell richtete sich auf ihrem Stuhl auf, ihr Mann schien bereits gestanden zu haben.

Laurie stellte sich als die Produzentin von Unter Verdacht vor.

»Dr. Robert Bell.« Sein Händedruck war fest, aber kurz.

Die Hand der Frau war kaum zu spüren. »Nennen Sie mich Cynthia«, sagte sie leise.

Laurie sah, dass Grace bereits die Gastgeberin gespielt hatte. Beide hielten Pappbecher mit einer Kartonmanschette zum Schutz vor der heißen Flüssigkeit in der Hand.

»Meine Assistentin hat mir gesagt, Sie seien schon sehr früh hier gewesen.«

Dr. Bell sah sie mit eisigem Blick an. »Um ehrlich zu sein, Ms. Moran, wir haben angenommen, dass nur so ein Treffen mit Ihnen zustande kommt.«

Es war nicht zu übersehen, dass mindestens einer der beiden ihr gegenüber feindselig eingestellt war. Sie hatte keine Ahnung, aus welchem Grund. Sie wusste nur: Robert und Cynthia Bell hatten ihr einziges Kind durch Mord verloren, und das hieß, dass sie, Laurie, um jeden Preis freundlich zu ihnen sein wollte.

»Bitte nennen Sie mich Laurie. Und, Dr. Bell, nehmen Sie doch bitte Platz und machen Sie es sich bequem.« Sie deutete auf den leeren Stuhl gleich neben seiner Frau. Er sah sie argwöhnisch an, aber Laurie verstand es, andere so zu behandeln, damit sie sich entspannten. Sie spürte fast, wie sein Blutdruck sank, als er sich auf dem ledernen Konferenzstuhl niederließ. »Ich nehme an, Sie sind wegen Ihres Sohnes hier. Ich bin mit dem Fall vertraut.«

»Natürlich«, erwiderte Dr. Bell barsch, was ihm einen missbilligenden Blick seiner Frau eintrug. »Entschuldigen Sie. Ich gehe davon aus, dass Sie eine viel beschäftigte Frau sind. Aber ich hoffe, Sie kennen wenigstens den Namen meines Sohnes und die Umstände seines schrecklichen Todes. Immerhin haben wir Sie kontaktiert. Wir haben das Schreiben an Sie selbst verfasst, jedes Wort davon stammt von uns gemeinsam.« Er griff nach der Hand seiner Frau. »Es war nicht leicht, wissen Sie, erneut von dem fürchterlichen Abend zu erzählen. Wir haben unseren Sohn identifizieren müssen. So war das eigentlich nicht vorgesehen, dass wir die nächste Generation überleben.«

»Jahrelang haben wir keine Kinder bekommen«, sagte nun Cynthia. »Wir dachten schon, es würde nicht mehr passieren. Und dann, als ich schon vierzig war, wurde er geboren. Für uns grenzte es an ein Wunder.«

Laurie nickte, sagte aber nichts. Zuhören und Schweigen war oft das Beste, was sie für die Hinterbliebenen eines Mordopfers tun konnte, wie sie auch aus eigener leidvoller Erfahrung wusste.

Cynthia räusperte sich. »Wir möchten es einfach von Angesicht zu Angesicht hören: Warum wollen Sie uns nicht helfen, den Mörder unseres Sohnes zu finden? Sie haben so vielen anderen Familien geholfen. Warum ist unser Sohn Ihre Mühe nicht wert?«

Zu Lauries schwierigsten Aufgaben gehörte es, die Briefe, E-Mails, Facebook-Einträge und Tweets der Hinterbliebenen zu sichten. Es gab so viele ungelöste Mordfälle. Menschen verschwanden einfach. Ihre Freunde und Familienangehörigen schickten Laurie häufig ausführliche Chroniken zu den Fällen, dazu Geschichten zum Ermordeten. Fotos vom Schul- oder Universitätsabschluss, Babybilder, geschilderte Lebensträume, die nie mehr in Erfüllung gehen würden – manchmal kamen Laurie dabei die Tränen. Ihrer Ansicht nach schadete es den Familien eher, wenn sie sie kontaktierte und ihnen persönlich mitteilte, dass sie ihren Fall nicht übernehmen könne. Manchmal aber – wie jetzt – wollten die Familien es von ihr persönlich hören.

»Es tut mir sehr leid.« So oft Laurie Angehörigen die Nachricht schon überbracht hatte, es wurde nicht einfacher für sie. »Es geht nicht darum, dass das Fall Ihres Sohnes weniger wert wäre als andere. Ich weiß, er hatte kleine Kinder, er war ein hochangesehener Arzt. Wir können nur in einigen wenigen Fällen pro Jahr ermitteln. Daher müssen wir uns auf jene konzentrieren, von denen wir wirklich glauben, dass wir Fortschritte erzielen können, wo die Polizei bislang erfolglos geblieben ist.«

»Die ermittelnden Beamten waren erfolglos«, sagte Dr. Bell. »Noch nicht einmal einen Tatverdächtigen können sie vorweisen, von einer Verhaftung oder Verurteilung ganz zu schweigen. Aber wir müssen jetzt mit ansehen, wie Martins Mörderin seine Kinder großzieht.«

Er musste den Namen der Verdächtigen gar nicht erwähnen. Laurie wusste, dass er von seiner ehemaligen Schwiegertochter sprach. Sie hatte zwar nicht mehr alle Einzelheiten im Kopf, wusste aber, dass die Ehefrau in der Beziehung unglücklich gewesen war und anscheinend zu nicht geklärten Zwecken Geld abgehoben hatte.

»Das ist eigentlich das Schlimmste«, sagte Cynthia. »Schlimm genug, mit dem Wissen leben zu müssen, dass Kendra unseren Sohn umgebracht hat und ungeschoren davongekommen ist. Aber Großeltern haben kein festgeschriebenes Recht, ihre Enkelkinder sehen zu dürfen. Wussten Sie das? Wir haben Anwälte damit betraut. Solange sie nicht von einem Gericht für schuldig an Martins Tod befunden wird, hat sie das uneingeschränkte Sorgerecht über die Kinder. Das heißt, wir müssen nett zu dieser Frau sein, damit wir Bobby und Mindy nicht verlieren. Es macht einen ganz krank.«

»Es tut mir leid«, wiederholte Laurie. »Es ist immer eine schwierige Entscheidung für uns.«

Durch die viele Post, die im Sender landete, hatte Laurie erfahren, dass es Abertausende von ungelösten Mordfällen im Land gab. Rätsel warteten darauf, gelöst zu werden. Aber in vielen dieser Fälle gab es keinerlei Spuren, die man hätte verfolgen, keine losen Fäden, die man hätte zusammenführen können. Nichts, wo man hätte weitergraben können. Wenn Laurie ihre Arbeit machen wollte, brauchte sie Indizien, Hinweise, denen nachzugehen sich lohnte. Sie hatte den Mordfall Martin Bell ursprünglich in die engere Auswahl genommen, weil er vielversprechend klang. Und er hatte den Vorteil, dass sie in New York bleiben konnte. Solange Timmy noch zur Schule ging, wollte sie so wenig wie möglich reisen.

Leider stellte sich heraus, dass der Fall doch nicht so gut geeignet war. Unter Verdacht brauchte einen Verdächtigen oder mehrere Verdächtige, die bereit waren, vor laufender Kamera ihre Unschuld zu beteuern. Hier gab es keine Polizei, keine Strafverteidiger, keine Rechtsbelehrung, nur schonungslose Fragen. Nicht jeder Tatverdächtige war bereit, sich dem auszusetzen.

»Wie der Titel der Sendung schon sagt«, führte Laurie weiter aus, »sind wir auf die Mitarbeit derjenigen angewiesen, die nach der Tat jahrelang im Schatten des Verdachts gelebt haben.«

»Welche anderen Verdächtigen gibt es denn noch?«, fragte Dr. Bell.

»Dieser Frage gehen wir nach, wenn wir glauben, mit der Produktion beginnen zu können.«

»Aber Sie haben doch soeben zu verstehen gegeben, dass Sie aus diesem Grund den Fall unseres Sohnes nicht annehmen können. Sie brauchen die Kooperation der Verdächtigen, wenn man so will.«

»Ja.«

»Also, wer sind die anderen Verdächtigen? Vielleicht können wir sie ja dazu bewegen, an der Sendung mitzuwirken.«

»So weit sind wir leider nie gekommen.« Laurie hatte das Gefühl, als drehte sich die Unterhaltung im Kreis. Von Anfang an, nach dem Brief der Bells und der kursorischen Durchsicht der Presseberichterstattung, war Laurie klar gewesen, dass erneute Ermittlungen im Mordfall Martin Bell die Mitarbeit seiner Witwe Kendra erforderlich machten. Wäre sie zur Teilnahme bereit, hätte Laurie zusammen mit ihr, der Polizei und anderen Zeugen daran arbeiten können, andere potenzielle Tatverdächtige ausfindig zu machen und sich deren Mitwirkung zu sichern. Aber nachdem Kendra Bell unmissverständlich deutlich gemacht hatte, auf keinen Fall in Unter Verdacht auftreten zu wollen, hatte sich Laurie einem anderen Fall zugewandt. Jetzt verstand sie nicht, warum die Bells deshalb so verwundert waren.

»Kendra war unsere einzige und alleinige Verdächtige«, sagte Dr. Bell. »Die Polizei hat sie zwar offiziell nie der Tat verdächtigt, uns aber sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ganz oben auf ihrer Liste stand. Was brauchen Sie denn noch?«

Plötzlich ging...