Der Duft der weiten Welt - Speicherstadt-Saga

von: Fenja Lüders

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732577804 , 318 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Duft der weiten Welt - Speicherstadt-Saga


 

Eins


Hamburg, 1912


Das schrille Läuten der Klingel übertönte den einlullenden Vortrag von Fräulein Cornelius. Sofort begannen die ersten Schülerinnen miteinander zu tuscheln, was ihre Lehrerin veranlasste, ihnen über den Rand der runden Messingbrille hinweg einen strafenden Blick zuzuwerfen.

»Ein bisschen mehr Geduld, die Damen! Noch bin ich es, die zu bestimmen hat, wann der Unterricht zu Ende ist, nicht diese vermaledeite Klingel.« Die hochgewachsene, hagere Lehrerin zog ihre kleine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und seufzte vernehmlich. »Wie schnell doch die Zeit verfliegt, wenn man sich amüsiert. Wir sehen uns am Dienstag in gewohnter Frische und werden uns dann weiter der Geografie Ostpreußens widmen. Der ein oder anderen von Ihnen würde ich dringend empfehlen, sich am Sonntag einmal das Buch und einen Atlas zur Hand zu nehmen. In drei Wochen stehen die Prüfungen an, und ich könnte mir vorstellen, dass das Ostseegebiet Thema sein wird.«

Mina, die sich auf ihrem Platz in der hintersten Bank wie immer hinter den Rücken ihrer Mitschülerin Gertrud geduckt hatte, schaute auf. Prompt traf sie der strafende Blick von Fräulein Cornelius.

Natürlich war sie gemeint, das war ihr völlig klar. Geografie war nicht gerade eines ihrer Glanzfächer. Im vorigen Jahr war das noch anders gewesen, aber seit Fräulein Cornelius ihre Klasse unterrichtete, zogen sich die Geografiestunden in die Länge wie warmer Kautschuk. Die Lehrerin leierte Daten und Fakten über Einwohnerzahlen, Bodenschätze, Flussläufe und Höhenzüge mit ihrer näselnden Stimme so eintönig herunter, dass Mina regelmäßig den Faden verlor und Mühe hatte, nicht einzunicken. Erschwerend kam hinzu, dass sie den Geografieunterricht für Zeitverschwendung hielt. Nichts von dem, was sie hier lernte, würde sie brauchen können, wenn sie erst einmal studierte. Wozu also damit Zeit verplempern? In anderen Fächern, wie Chemie oder Mathematik, hing sie wie gebannt an den Lippen der Lehrer, doch den Geografieunterricht verbrachte sie lieber damit, hinter Gertruds breitem Rücken geduckt zu lesen oder zu zeichnen.

Mina war sich noch nicht sicher, welches Fach sie studieren sollte, aber sie hatte ja auch noch ein bisschen Zeit bis zu der Entscheidung. Immer einen Schritt nach dem anderen. Zuerst einmal musste sie im nächsten Frühling ein möglichst gutes Abitur machen. Ihre Hauslehrerin Fräulein Brinkmann vertrat die Meinung, Mina sollte sich mit nichts Geringerem als Medizin zufriedengeben. Tatsächlich war sie die Einzige, die bislang überhaupt über ihr Vorhaben Bescheid wusste.

Immer wieder schlich sich die Sorge in Minas Gedanken, was ihre Familie wohl zu ihren hochfliegenden Plänen sagen würde. Vater würde bestimmt nicht begeistert sein, und sie würde all ihre Überzeugungskünste aufbringen müssen. Um seine Zustimmung zu erringen, seine Älteste in eine fremde Stadt ziehen zu lassen, würde sie all ihr diplomatisches Geschick und mindestens eine Stunde allein mit ihm brauchen. Schon seit Wochen wartete sie auf eine Gelegenheit, ihn allein abzupassen, aber das war nicht so einfach. Wenn sie ihn im Kontor in der Speicherstadt besuchte, war er in der Regel von Kontoristen oder Maklern umgeben. Und auch zu Hause, in der Villa an der Heilwigstraße, waren die Momente rar, in denen sie ihn allein sprechen konnte. Vater zog sich immer gleich nach dem Abendessen in sein Arbeitszimmer zurück, um in Ruhe seine Zigarre rauchen zu können, ohne dass Großmutter Hiltrud ihm mit ihrer ewigen Nörgelei auf die Nerven fiel.

Ein Lächeln überflog die bitteren Altjungfernzüge von Fräulein Cornelius und ließ sie weicher und fast jugendlich erscheinen. »Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende. Bis Dienstagfrüh, meine Damen.«

»Endlich«, murmelte Mina erleichtert, wischte ihre Zeichenfeder sorgfältig trocken und verstaute sie im Federkasten. Sie sprang auf, stopfte Federkasten und Heft in die lederne Schultasche und schlüpfte an den anderen Mädchen vorbei durch die Tür.

Immer mehr lachende und schwatzende junge Mädchen in grauen, knöchellangen Röcken und weißen Blusen strömten aus den Klassenräumen auf den Flur. Die Frühlingssonne warf helle Streifen auf den schwarz-weißen Terrazzoboden. Eigentlich war das Wetter viel zu schön, um gleich nach Hause zu gehen. Mina beschloss, noch ein Stück an der Alster entlangzuspazieren.

Heute war Samstag, da gab es immer Eintopf zu Mittag. Nicht dass sie keinen Eintopf mochte, aber beim Gedanken an Großmutters Esszimmer mit den dunklen Möbeln und den dicken Vorhängen, in dem es so düster war, dass man auch tagsüber versucht war, das elektrische Licht einzuschalten, verging ihr der Appetit. Großmutter Hiltrud würde am Kopfende des Tisches sitzen, mit Argusaugen jeden Bissen beobachten, den Mina zum Mund führte, und schließlich feststellen, es sei kein Wunder, dass sie immer fülliger werde, wenn sie schlinge wie ein Hafenarbeiter. Und dann würde sie Agnes einen liebevollen Blick zuwerfen und ihr verschwörerisch zublinzeln.

Sehnsüchtig dachte Mina an früher zurück, als sie noch in der Wohnung an der Isestraße gewohnt hatten, nur Papa, Agnes und sie zusammen mit zwei Dienstboten und der Hauslehrerin Fräulein Brinkmann. Als der Großvater im letzten Herbst gestorben war, hatte Großmutter Hiltrud Vater gebeten, mit der Familie zu ihr in die Villa zu ziehen. Mina, die schon die allwöchentlichen Besuche bei den Großeltern als lästige Pflichtübung betrachtet hatte und die Villa an der Heilwigstraße mit ihrem düsteren Pomp von Herzen verabscheute, hatte alles versucht, um den Umzug zu verhindern. Aber ihr Vater hatte sich nicht erweichen lassen.

»Du musst das verstehen, Mina. Großmutter fühlt sich einsam in dem großen Haus«, hatte er erklärt.

Zum Glück hatte Mina wenigstens durchsetzen können, die beiden Dienstboten und Fräulein Brinkmann mit in die Villa zu nehmen, statt sie vor die Tür zu setzen, wie Großmutter Hiltrud vorgeschlagen hatte. Eine furchtbare Geldverschwendung, so viel Personal zu halten, klagte sie immer wieder. Minas Großvater hätte so etwas nie geduldet, so sparsam, wie er gewesen sei.

Mina kümmerte sich nicht um die spitzen Bemerkungen ihrer Großmutter. Sie war froh, die vertrauten Gesichter um sich zu haben. Besonders Fräulein Brinkmann und die Köchin Frau Kruse waren so etwas wie Verbündete im Feindesland. Frau Kruse wäre für sie durch die Hölle und zurück gegangen. Bestimmt würde sie ihr etwas vom Eintopf beiseitestellen.

Mina nahm ihren Mantel vom Haken, zog ihn hastig über und war schon auf dem Weg zur Tür, als sie Bettys Stimme hörte.

»Mina? So warte doch mal!«

Mina verdrehte die Augen. Sie widerstand der Versuchung, so zu tun, als hätte sie Betty nicht gehört, hielt inne und drehte sich um.

Betty – eigentlich Elisabeth – war die jüngste Tochter des Reeders Paul Rüther und wohnte in einer hübschen Backsteinvilla am anderen Ende der Heilwigstraße. Die Familien Rüther und Kopmann verkehrten seit Jahren gesellschaftlich miteinander, und man kannte sich gut. Bettys Mutter gehörte zum Teekränzchen von Großmutter Hiltrud, darum gingen alle wie selbstverständlich davon aus, auch Betty und Mina müssten beste Freundinnen sein. Die beiden Mädchen besuchten sich regelmäßig – dafür sorgten Minas Großmutter und Bettys Mutter –, aber Freundinnen waren sie wahrhaftig nicht geworden.

Was will sie denn jetzt schon wieder?, dachte Mina und sah Betty stirnrunzelnd an.

Mit ihrem herzförmigen Gesicht, den veilchenblauen Augen und dem dunkelblonden, welligen Haar, das sie stets nach der neuesten Mode hochgesteckt trug, war Betty wirklich bildhübsch. Nur leider dumm wie Bohnenstroh. Wie sie es bis in die Unterprima des Lyceums Rothenbaum geschafft hatte, war Mina ein Rätsel. An ihren Leistungen konnte es jedenfalls nicht liegen. Vielleicht halfen die schmachtenden Blicke, die sie den wenigen männlichen Lehrern zuzuwerfen pflegte.

»Es ist so schön, dass du in Betty eine Seelenverwandte gefunden hast«, hatte Großmutter neulich erst gesagt. »Jemanden, mit dem du deinen Kummer und deine Sorgen teilen kannst.«

Mina hatte die Lippen ganz fest zusammengepresst, damit ihr keine Antwort herausrutschte, die sie später bereute. Eine Seelenverwandte wäre großartig, hatte ihr auf den Lippen gelegen. Aber eine Tratschtante wie Betty kann ich wirklich nicht gebrauchen.

Ihr war schnell klar geworden, dass Betty alles, was sie ihr anvertraute, sofort ihrer Mutter erzählte, die es dann brühwarm an Minas Großmutter weitergab. Seit Großmutter ihr eine Standpauke gehalten hatte, dass es sich für eine junge Dame nicht ziemte, mutterseelenallein mit der Straßenbahn in die Innenstadt oder gar zum Hafen zu fahren, hütete sich Mina, Betty auch nur ein Wort zu viel zu erzählen.

»Was gibt es denn?«

Widerstrebend ließ Mina den geschwungenen Türgriff los und ging zu Betty und ihrer Freundin Astrid hinüber, die in ihren Augen ebenfalls in die Kategorie »hübsch, aber strohdumm« fiel. Beide hatten nichts anderes im Kopf, als sich so schnell wie möglich einen reichen Kaufmanns-, Reeder- oder Bankierssohn zu angeln, ihm das Haus heimelig einzurichten und die nächste Generation von Kaufmanns-, Reeder- oder Bankierssöhnen in die Welt zu setzen.

Betty strahlte aus jedem Knopfloch, und ihre Wangen liefen rot an, während sie aufgeregt auf den Zehenspitzen auf und ab wippte. »Astrid hatte gerade eine tolle Idee!«, rief sie. »Sie ist heute zum Tee bei uns, weil unsere Schneiderin kommt, damit wir die Garderobe für das Pensionat aussuchen und Maß...