Wo der Tag beginnt - Roman

von: Sarah Lark

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732571949 , 654 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Wo der Tag beginnt - Roman


 

KAPITEL 1


»Hier, ich blute!« Nakahu hielt anklagend ihren Arm in die Luft, auf dem sich tatsächlich Kratzspuren abzeichneten. Ihre kleine Schwester Whano hatte ihr kurzerhand die Fingernägel in die Haut gerammt, als der Streit der Mädchen eskaliert war. »Damit hast du gegen Nunukus Gesetz verstoßen«, erklärte Nakahu wichtig und wies mit dem Finger auf Whano, die sie erschrocken ansah. »Und jetzt werden deine Därme verfaulen …«

Whano, gerade mal fünf Jahre alt, schmeckte das in Honig getauchte Stück Flachswurzel, um das sie eben noch so erbittert gekämpft hatte, plötzlich nicht mehr.

»Stimmt das, matahine?«, fragte sie ängstlich, doch ihre Mutter schien sie nicht zu hören. Pourou, die Weise Frau der Moriori von Whangaroa, war in tiefer Trance versunken. Sie sprach mit den Bienen, deren Honigvorräte die Frauen und Mädchen gerade plünderten. Ihre Anrufungen sollten die Tiere gnädig stimmen.

»Kimi?«

Ungeduldig wandte sich das verunsicherte Kind gleich darauf an das älteste der Mädchen. Die vierzehnjährige Kimi war der Zauberin behilflich, indem sie ein Feuer in Gang hielt und Kräuter verbrannte, deren Rauch die Bienen betäubte.

»Ach was, Whano, bei so kleinen Kindern üben die Götter noch Nachsicht.« Kimi, ein zierliches Mädchen mit langem schwarzem Haar, einem großflächigen Gesicht, gerader Nase und für ihr Volk sehr hellen, mandelförmigen Augen, die fast die Farbe des Flachsblütenhonigs aufwiesen, beruhigte das Kind beiläufig. Sie war ganz auf die Zeremonie konzentriert – nicht nur aus Hingabe an die Geister der Bienen, sondern auch, um die über den Raub erbosten Tiere am Stechen zu hindern. »Zumal Nakahu doch wohl angefangen hat. Ich habe das gesehen! Und nun haltet Frieden und lasst uns arbeiten. Dann gibt es bald genug Honig für alle.«

Geschickt näherte sie sich dem Bienenstock und holte mit einem speziellen Werkzeug blitzschnell ein paar Waben heraus, die vor Honig nur so troffen. Es war die Zeit, in der die Moriori den Honig der Flachsblüten tranken – ein Fest für die sonst nicht mit Leckereien verwöhnten Menschen auf den eher unwirtlichen Inseln.

Die Bienen verhielten sich tatsächlich ruhig, aber das hatte Kimi nicht anders erwartet. Pourou war tohunga ahurewa, eine mächtige Zauberin. Sie verstand es, mit den Tieren zu reden, und Kimi war sehr stolz darauf, dass sie nicht nur ihre eigenen Töchter, sondern auch sie selbst in dieser Kunst unterrichtete.

Nun packte sie ihre Beute rasch in Körbe, während Pourou langsam aus ihrer Trance erwachte und nur noch einige abschließende karakia sang, bevor sie sich alle langsam und vorsichtig von den Bienen entfernten. Schließlich würden diese bald aus ihrem Rausch erwachen und den Moriori den Honig vielleicht doch missgönnen.

Whano schien den Streit mit ihrer Schwester schon vergessen zu haben, aber die drei Jahre ältere Nakahu war längst noch nicht davon überzeugt, dass die Götter die kleine Kratzbürste ungeschoren lassen würden. Sobald Pourous gesamte Aufmerksamkeit wieder dem Diesseits zugewandt war, trug sie ihr Anliegen ihrer Mutter vor.

»Matahine, das kann doch nicht sein, dass Nunukus Gesetz für Kinder nicht gilt! Und es hat überhaupt nichts damit zu tun, wer angefangen hat!«

Pourou, eine hochgewachsene, kräftige Frau mit einer scharfen, fast hakenförmigen Nase und fleischigen Lippen, verzog das Gesicht. Sie hatte von dem Streit ihrer Töchter nichts mitbekommen, schien allerdings nicht daran interessiert, die Schuldfrage zu klären. Stattdessen wandte sie sich mit strafendem Blick an Whano.

»Tochter, wie konntest du! Du hast Blut vergossen, und obendrein im Angesicht der Geister!«

Whanos Gesicht spiegelte erneut ihre Angst. »Meine … meine Därme werden verfaulen?«, fragte sie entsetzt.

Pourou seufzte. »Das nun nicht gleich, Whano. Wir sollten dennoch eine Reinigungszeremonie durchführen, und du musst deine Schwester und den Geist des Häuptlings Nunuku um Verzeihung bitten. Und selbstverständlich darfst du es nie wieder tun!«

»Aber sie hat angefangen!« Whano wies noch einmal anklagend auf Nakahu, die selbstgerecht lächelte.

»Das stimmt, tohunga«, kam ihr Kimi zu Hilfe. »Nakahu wollte ihr den Honig wegnehmen, und …«

Pourous strafender Blick traf nun auch Kimi.

»Kimi, meine Schülerin, du solltest es besser wissen«, tadelte sie. »Du kennst die Geschichte, aber vielleicht solltest du sie mir und den Mädchen noch einmal vortragen …«

Kimi nickte ergeben. Es gehörte zu ihren künftigen Aufgaben als tohunga, die Legenden ihres Volkes zu bewahren. Die Moriori schrieben nichts auf, sie behielten die Geschichten in ihren Herzen. Um all das zu behalten, musste die künftige Zauberin die Erzählungen oft wiederholen.

»Es war in Karewa, an der Westseite der Te-Whanga-Lagune«, berichtete Kimi nun mit klingender Stimme. »Die Stämme der Wheteina, der Rauru und der Hamata waren nicht lange zuvor aus Hawaiki nach Rekohu gekommen. Und sie verstanden es nicht, Frieden zu halten. Sie schlugen sich, sie kämpften – sie schreckten nicht einmal davor zurück, die Köpfe ihrer Gegner zu räuchern und ihr Fleisch zu essen.« Kimi bemerkte, dass die beiden kleinen Mädchen sich bei dieser Schilderung erwartungsgemäß gruselten. Die Schwestern hatten ihren Streit vergessen und schmiegten sich schutzsuchend aneinander. Die vier hatten inzwischen an einem Bach angehalten, um zu rasten. Kimi erzählte ihre Geschichte, während Pourou die am Morgen im Wasser ausgelegten Reusen daraufhin überprüfte, ob ihnen ein Fisch in die Falle gegangen war. »Und so führten die Stämme Krieg gegeneinander, und Blut floss und Feuer brannten, bis Nunuku Whenua, der Häuptling der Hamata, zwischen die Kämpfenden trat.« Die kleinen Mädchen lauschten mit offenen Mündern, obwohl zumindest Nakahu die Geschichte sicher schon oft genug gehört hatte, um sie selbst wiedergeben zu können. »Der Häuptling ragte zwischen den Kriegern auf, und ihn erfüllte die Weisheit und die Kraft der Götter, als er mit lauter Stimme zu ihnen sprach: ›Haltet ein! Steckt eure Messer weg, und legt eure Kriegsäxte und Keulen nieder. Es muss ein Ende haben mit den Kämpfen. Nie wieder soll Krieg sein, wie ihn der heutige Tag gesehen hat. Nie wieder sollt ihr das Blut eurer Brüder vergießen. Und vergesst den Geschmack von Menschenfleisch. Seid ihr Fische, die ihre Jungen fressen? Von heute an sollt ihr es besser wissen. Ihr sollt Frieden halten, gemeinsam jagen, gemeinsam fischen – das Land und das Meer bieten Nahrung für alle.‹«

»Aber wenn doch einer dem anderen was wegnimmt?«, wandte Whano ein. Sie mochte immer noch nicht anerkennen, dass ihre Mutter allein sie für den Vorfall tadelte.

»Dann spricht man darüber, und die Ältesten schlichten den Streit«, erklärte Kimi, wozu sie ihre Erzählung unterbrechen musste. Nunuku hatte zumindest in seiner ersten aufrüttelnden Rede keine Gerichtsbarkeit eingesetzt.

»Natürlich wollten die Männer zuerst nicht hören«, fuhr sie schließlich fort. »Es sah fast aus, als wollten sie den Häuptling verlachen. Doch dann rief Nunuku den Zorn der Götter auf alle herab, die seinen Worten zuwiderhandeln würden: Mögen eure Därme verfaulen an dem Tag, an dem ihr nicht gehorcht! Seine Stimme verband dabei Himmel und Erde, und die Krieger waren so erschrocken, dass sie ihre Waffen sinken ließen und sich vor dem Häuptling verbeugten. Seitdem ist der Kampf geächtet beim Volk der Moriori. Sobald auch nur ein Tropfen Blut fließt, greift Nunukus Gesetz. Niemand darf einen anderen verletzen oder gar töten.«

»Und das lernen wir von Kindheit an«, fügte Pourou hinzu, die eben, zwei silberne Fische in einem Korb, vom Bach zurückkam. »Es gilt für Mädchen und Jungen, Mann und Frau. Also bitte deine Schwester um Entschuldigung, Whano, und gib ihr später deinen Teil des Honigs als utu. Dann werden die Götter wohl nicht allzu streng über dich urteilen, sofern du dich nie wieder dazu hinreißen lässt, Blut zu vergießen.«

Whano nickte resigniert, obwohl es sie sicher hart ankam, ihrer Schwester auch noch eine Wiedergutmachung zahlen zu müssen. Kimi wusste nicht, ob ihre Mutter das kleine Mädchen überzeugt hatte, aber es würde nicht weiter widersprechen.

Nakahu blickte triumphierend, nahm die Entschuldigung der Jüngeren jedoch huldvoll an. Kimi beschloss im Stillen, der Kleinen von ihrer eigenen Honigration etwas abzugeben, wenn die Leckereien später verteilt wurden. Sie hatte Verständnis für Whano. Natürlich hätte das Kind warten müssen, bis seine Mutter Recht sprach. Bis dahin hätte Nakahu den Honig allerdings längst gegessen gehabt, und wenn es Kimi und Pourou nun nicht gelungen wäre, weiteren zu erbeuten, wäre Whano leer ausgegangen.

»Aber Tiere dürfen wir töten?«, fragte Whano und wies, wohl mit letztem Aufblitzen von Trotz, auf die toten Fische in Pourous Korb.

Die Weise Frau seufzte. »Tiere müssen wir töten, Tochter, sonst könnten wir selbst nicht überleben. Genau wie wir der Flachspflanze ihre Wurzeln rauben müssen und die Sprossen des Adlerfarns abschneiden und den Vögeln ihre Eier stehlen. Doch wir fragen um Erlaubnis und bitten die Geister um Verzeihung, bevor wir Leben nehmen.«

»Und wenn sie Nein sagen?«, erkundigte sich Whano.

Pourou lächelte. »Das tun sie nicht, solange wir nicht unersättlich sind. Die Götter lieben ihre Geschöpfe, sie wollen, dass wir alle leben. Wenn wir es allerdings übertreiben …«

Pourous Gesicht nahm...