Ein Sommer mit Debbie Macomber - 4 ganz unterschiedliche Geschichten

Ein Sommer mit Debbie Macomber - 4 ganz unterschiedliche Geschichten

von: Debbie Macomber

MIRA Taschenbuch, 2018

ISBN: 9783955769277 , 584 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Ein Sommer mit Debbie Macomber - 4 ganz unterschiedliche Geschichten


 

2. KAPITEL


Thomas Dancy wurde von einem Albtraum aus tiefem Schlaf gerissen. Er schlug die Augen auf und atmete durch. Ein Windhauch wehte durch das offene Schlafzimmerfenster, und ein voller Aprilmond warf kaltes Licht in den Raum.

Ich habe nur geträumt, sagte er sich. Es war immer derselbe Traum, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. Obwohl inzwischen dreißig Jahre vergangen waren, hatte er nichts an Intensität verloren. Thomas durchlitt jedes entsetzliche Detail – und wie stets erwachte er am selben Punkt, vor Angst und Entsetzen zitternd. Und jedes Mal fühlte er sich ungeheuer erleichtert, dass es nur ein Traum war. Wieder musste er sich klarmachen, dass das Schlimmste vorüber war. Er war einmal durch diese Hölle gegangen und hatte überlebt.

Thomas warf das Laken zurück und setzte sich in der Dunkelheit auf die Kante der dünnen Matratze, noch ganz benommen von den Nachwirkungen des Albtraumes. Selbst vollkommen wach, spürte er die Angst in allen Knochen.

Er hatte sehr viel verloren damals, Anfang der Siebziger. Bei Weitem der größte und schwerste Verlust waren seine Frau und seine Tochter gewesen. Doch der Traum hatte nichts mit ihnen zu tun.

Um seine Niedergeschlagenheit zu verscheuchen, stellte er sich Ginny und die kleine Raine bei seinem Abschied nach Vietnam vor. Ginny war sehr jung gewesen und wunderschön. Das Gesicht tränenüberströmt, hatte sie ihre kleine Tochter in den Armen gehalten. Abgesehen von allem anderen, was in den Jahren dazwischen schief gegangen war, konnte ihn dieses besondere Bild immer aufmuntern.

Sie war zum Flughafen gekommen, um ihn zu verabschieden, als er in einen Krieg zog, den er nicht verstand und den er nicht kämpfen wollte. Es hatte ihn fast umgebracht, seine Familie an jenem Tag zu verlassen, und am Ende war er es gewesen, der andere umbringen musste.

Das alte Schuldgefühl stieg in ihm hoch, und er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass seine Gedanken wieder diesen Weg gingen. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, als könnte er so die Reste des Traumes und alle damit einhergehenden Erinnerungen vertreiben.

Es funktionierte nicht.

Er begann wieder zu zittern, stand auf, ging zum Fenster und starrte in die Nacht. In einiger Entfernung sah er die Spiegelung des Mondlichtes auf dem glatten Wasser der Bucht. Er musste sich bewusst machen, dass der Krieg mit all seinen Gräueln weit hinter ihm lag.

Der Krieg verblasste in seinen Gedanken, stattdessen kamen Erinnerungen an Ginny zurück. Trotz der vielen vergangenen Jahre, und obwohl sie ihn verlassen hatte, liebte er sie immer noch. Er hatte sich hier, in El Mirador, ein neues Leben geschaffen, und er betrachtete Mexiko seit Langem als seine Heimat. Hier war er ein einfacher Mann und lebte ein einfaches Leben. Er war nie reich gewesen, und Geld hatte ihm nie besonders viel bedeutet. Ginny hatte das verstanden.

Ginny …

Ehe sein Traum in die Bilder und Geräusche eines brutalen Krieges übergewechselt war, hatte er seine Frau Ginny gesehen, wie sie mit zwanzig gewesen war. Sie war so real gewesen wie jetzt die Fensterbank unter seinen Fingern.

Sein Herz wollte überquellen, wenn er nur an sie dachte. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung auf dem Universitätscampus. Als jungfräulich und verklemmt hatte er sie abgetan. Aber das Klischee von Gegensätzen, die sich anziehen, hatte in ihrem Fall sicher gestimmt. Er hatte an die Ideale der Sechziger geglaubt – Studentenrevolte und Freiheit in allen Dingen –, sie verachtete Ideologien.

Zufällig besuchten sie dieselbe Englischvorlesung und saßen sich gegenüber. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Zurückhaltung zu überwinden. Ginny war eine Versuchung gewesen, der er nicht widerstehen konnte. Er hatte es nicht beabsichtigt, aber ehe er sich versah, war er in sie verliebt gewesen.

Und sie in ihn.

Ein schwaches Lächeln entspannte seine Gesichtszüge, als er an das erste Mal dachte, als sie miteinander geschlafen hatten. Ginny war noch unberührt gewesen. Obwohl er selbst reichlich Erfahrung gehabt hatte, war ihm an diesem Nachmittag klar geworden, dass er zum ersten Mal wirklich geliebt hatte. Die Ehrlichkeit dieser Liebe hatte ihn für immer verändert.

Er wollte sie heiraten, was nichts mit Anstand und Moral, aber alles mit seinem Herzen zu tun hatte. Sie trafen sich jeden Tag nach den Vorlesungen und gingen verrückte Risiken ein, um in seinem Zimmer oder ihrem zusammen sein zu können. Nachdem sie einmal miteinander geschlafen hatten, konnten sie nicht mehr darauf verzichten. Das gegenseitige Verlangen überlagerte alle Vernunft.

Er merkte lange vor Ginny, dass sie schwanger war. Als gute Katholikin hatte sie keine Verhütung betreiben wollen. Der Himmel wusste, er hatte wirklich versucht, sie nicht zu schwängern … doch Ginny umschlang ihn mit den Beinen, dass es ihn schier um den Verstand brachte. Und sie verhinderte, dass er sich rechtzeitig zurückzog. Gerade so, als hätte sie es darauf angelegt, dass es passierte.

Zu der Zeit mietete er ein Zweizimmerapartment abseits vom Campus. Ihr einziges Möbelstück war eine abgewetzte Matratze in einer Ecke. Das Kochen erledigten sie auf einer einzelnen Platte. Der Mangel an materiellen Dingen kümmerte sie jedoch wenig. Sie waren zu verliebt, sich deshalb Sorgen zu machen.

Ginnys konservative Familie war entsetzt über die äußerlichen Veränderungen an ihr, als sie in den Ferien mit ihm im Schlepp heimgekommen war. Ginnys Haar hatte bis zur Taille gereicht, und ihre Kleidung bestand aus weiten Blusen, bunten langen Baumwollröcken und Sandalen. Ihre Eltern mochten ihn nicht, umso weniger, als sie erfuhren, dass er ihre mit Auszeichnung von der Schule gegangene Tochter geschwängert hatte. Es überraschte ihn nicht, dass sie entschieden gegen eine Heirat waren. Zu den Dingen, die ihn in den folgenden Jahren belasteten, gehörte, dass er einen Keil zwischen Ginny und ihre Familie getrieben hatte.

Sie schrieben sich ihre Ehegelübde selbst, und auf Ginnys Drängen fanden sie einen mitfühlenden Priester, der die Zeremonie vollzog. Ihr Liebesleben war schon vorher wunderschön gewesen, doch nach der Heirat wurde es unglaublich.

Da er eine Frau zu versorgen hatte und ein Baby unterwegs war, sah er sich gezwungen, das College zu verlassen und eine Ganztagsstellung zu finden. Er hatte mal mit Medizin als beruflicher Laufbahn geliebäugelt, doch das war von Anfang an ein unwahrscheinlicher Traum gewesen. Sie wussten das beide. Außerdem hätte er das Medizinstudium nur mit einem Stipendium durchziehen können, und seine Noten waren schlechter geworden, seit er mit Ginny zusammen war. Trotzdem hätte er seine Ehe nicht gegen ein Vollstipendium an der besten medizinischen Fakultät des Landes eingetauscht.

Obwohl sie unter der Armutsgrenze lebten, waren sie rundum glücklich. Bei Lorraines Geburt war er so lange bei Ginny geblieben, wie der Doktor es gestattete. Es war die reine Hölle gewesen, sie im Kreißsaal allein zu lassen. Als die Schwester herauskam und ihm sagte, er habe eine Tochter, war er vor Glück in Freudentränen ausgebrochen.

Zwei Tage, nachdem Lorraine aus dem Krankenhaus gekommen war, ging er ins Rekrutierungsbüro der U.S.-Army, um in die Armee einzutreten. Es war nicht das, was er wollte, aber ihm blieb keine Wahl. Als er die Uniform anzog, hatte er keinen blassen Schimmer, was er verlieren würde.

Sein Albtraum handelte von Vietnam. Immer wieder erlebte er jenen Tag, als er David Williams in einem blutgetränkten Reisfeld gehalten und ihm beim Sterben zugesehen hatte. Er hatte nichts tun können, außer in Qualen zu schreien.

Er hatte Ginny von David geschrieben, doch Worte waren nicht genug, seinen Verlust auszudrücken. An jenem Tag war mehr als ein Freund gestorben. Ein Teil von Thomas Dancy war ebenfalls gestorben. Der junge Mann, der er gewesen war, der unschuldige Einundzwanzigjährige, der an die Macht der Liebe und der Güte glaubte, war ebenfalls auf diesem Reisfeld verblutet.

Er war in den Krieg gezogen als Junge, der versuchte, seine Familie zu ernähren, ohne zu ahnen, wie der Krieg einen Menschen veränderte. Nur Ginnys Liebe hatte ihm später geholfen, die Hässlichkeit jener langen Monate in Vietnam zu überwinden. In der Hälfte seiner Dienstzeit nutzte er einen Urlaub von der Truppe in Hawaii, um zu desertieren, und kehrte nie mehr in den Krieg zurück. Er verachtete, was aus ihm geworden war.

Die Army führte ihn fortan als Deserteur, doch Thomas wusste, dass seine Flucht ihm das Leben gerettet hatte. Er hätte den Verstand verloren, wenn er zurückgekehrt wäre. Eine Weile hatte er sich in San Francisco versteckt. Ginny war zu ihm gekommen, hatte ihm Liebe geschenkt und ihm seinen Verstand zurückgegeben. Bitterkeit und Hass waren allmählich schwächer geworden, bis er fast wieder normal empfand und die erlebten Gräuel zumindest verdrängen konnte.

Doch er fühlte eine moralische Verpflichtung, andere vor dem zu schützen, was er erlebt hatte. Anstatt nach Kanada zu fliehen, wie es viele vor und nach ihm taten, machte er es sich zur Aufgabe, für die Beendigung des Krieges zu arbeiten. Er trat einer Extremistengruppe bei und befreundete sich mit ihrem Anführer, José Delgado, dessen Familie in Mexiko lebte. Da Thomas nach vier Jahren Studium recht gut Spanisch sprach, bestand José darauf, dass sie seine Sprache benutzten, wenn sie über ihre Pläne redeten. Was als Vorsichtsmaßnahme begann, endete als Notwendigkeit.

“Thomas?”

Beim Klang seines Namens drehte er sich nur zögernd um.

“Wieder der Traum?”, fragte Azucena halblaut.

Er nickte nur, ohne zu erklären, dass seine...