Hybris - Thriller

von: Steffen Jacobsen

Heyne, 2018

ISBN: 9783641229320 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Hybris - Thriller


 

Batapora, Kaschmir, Indien

Was Batapora in den Augen Michael Sanders von den meisten anderen grenznahen Städten in Kaschmir unterschied, war das Bezirksgefängnis. Das für ihn hoffentlich das Ende einer vier Monate dauernden Menschenjagd durch das Land der großen Flüsse am Fuße des Himalaja bedeutete.

Er saß auf der Rückbank eines Range Rovers, an dessen vorderem Kotflügel die dänische Flagge flatterte, und beobachtete die Ortschaft in der Talsenke durch einen Feldstecher. Die typischen ein- und zweistöckigen Betonkästen mit Flachdächern, wie zufällig am Ufer eines träge dahinfließenden, braunen Flusses verteilt, ein Gewirr tief hängender Oberleitungen und Wäscheleinen, verwoben zu einem komplexen Netz zwischen den Häusern, überfüllte Gassen – und dazu diese Gedrungenheit jeglicher Bebauung vor der Kulisse des mächtigen Hindukusch.

Für ihn sahen alle Orte in Kaschmir gleich aus.

Michael zündete sich eine Zigarette an und überflog noch einmal das zerknitterte Telex, für das er den indischen Sekretär der dänischen Botschaft in Neu-Delhi bestochen hatte, weil er überzeugt gewesen war, dass es entscheidende Informationen enthielt. Danach hatte er dem indischen Sekretär weitere 10000 Rupien zugesteckt, damit er die Informationen dem übrigen Botschafts-Stab eine Woche vorenthielt und so schnell wie möglich dem Kommandeur des Gefängnisses seine Ankunft als Michael Berg ankündigte, chargé d’affaires danoise.

Das war zwei Tage her, und nun war er sich gar nicht mehr so sicher.

Er begegnete dem Blick seines Turban tragenden Chauffeurs im Rückspiegel, der eine gewisse Ungeduld ausdrückte. Der Chauffeur hatte seine Frau und die drei Kinder lange nicht mehr gesehen.

»Okay, Gurpal«, murmelte Michael, »fahren wir dort runter. Ich ertrage nur keine weitere …«

»Ich bin sicher, dass Batapora unser endgültiges Ziel ist, Sahib«, sagte der Chauffeur mit Nachdruck. »Ich habe diesen Ort schon einmal gesehen …«

»In einem Traum. Das sagst du immer, oh mächtiger Gurpal Singh, wenn wir auf einer holperigen Bergstraße stehen, an deren Ende du Shangri-La vermutest.«

»Irgendwo muss er schließlich sein«, warf Gurpal sehr vernünftig ein. »Kein lebender Mensch kann nirgendwo sein, Sahib Michael.«

»Vor vier Monaten hätte ich dir da noch zugestimmt, aber Silas Monell scheint genau dieses Kunststück zu gelingen. Oder ich bin schlicht und ergreifend nicht gut genug.«

»Sag so etwas nicht«, sagte Gurpal Singh entrüstet. »Lebe dein Leben nicht im Schatten gedachter Niederlagen.«

Michael zwinkerte dem Fahrer zu. Sie hatten sich vor einigen Jahren kennengelernt, als Gurpal Singh als Taxifahrer in Kopenhagen gearbeitet hatte. Er hatte Michael ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben geholfen, einen islamistischen Terroranschlag auf das Außenministerium zu verhindern. Für die Ehrenpension, die der dänische Staat ihm dafür gewährt hatte, war er in seine Heimat und zu seiner Familie zurückgekehrt.

Der Range Rover holperte die letzten Kilometer der unebenen Bergstraße hinunter, während Michael noch einmal besorgt seine Unterlagen überflog.

Es gab vier Fächer für verstorbene Gefangene in dem winzigen, überhitzten und klaustrophobischen Leichenschauhaus. In allen Ecken dampften Wasserlachen unter undichten Kühlrohren. Michael filterte den Gestank durch eine nicht angezündete Zigarette.

Stabsunteroffizier Hazari, der junge Gefängnisleiter, lächelte nachsichtig.

Der Offizier sah tadellos aus. Gepflegter, dichter Bart, unangreifbares Lächeln, schneeweißer Turban, blank polierter Ledergürtel mit Schulterriemen. An den Bügelfalten der Khakiuniform konnte man sich schneiden. Offenbar war der Gefängnisleiter ein wechselwarmes Wesen, da in seinem Gesicht nicht ein Schweißtropfen zu sehen war, während Michael seine Kleider auswringen konnte. Hazari gab seinem Quartiermeister ein Zeichen, worauf dieser das obere linke Fach öffnete, eine hydraulische Hebebühne unter die Öffnung schob und bis auf Brusthöhe hochpumpte. Als er die Bahre aus dem Fach auf den Lift zog, ließ die frische Welle Leichengeruch Michael einen Schritt zurücktreten und den Schlips lockern. Wieder betrachtete Hazari ihn mit seinem nachsichtigen Lächeln.

Die Hebebühne sackte unter dem in ein grob gewebtes, gebügeltes Laken gewickelten Leichnam bis auf Kniehöhe herunter. Am unteren Ende ragten ein paar knochige, weiße Füße heraus. Michael studierte das Stück Pappe, das mit Bindfaden an den großen Zeh des Verstorbenen geknotet war. Darauf war das heutige Datum notiert, aber kein Name.

»Er ist heute gestorben?«

»Frühmorgens, Mr. Berg. Der junge Mann ist erst vor drei Tagen verhaftet worden und hat sich geweigert, uns über seinen Namen oder seine Nationalität aufzuklären.«

Mit der Miene eines Zauberkünstlers zog der Quartiermeister das Laken von der Leiche. Michael schloss die Augen in einer Art erschöpften Triumphes. Er war sich seiner Sache augenblicklich sicher. Gurpal und er mussten nicht mehr weitersuchen.

Er schlug die Augen wieder auf und sah sich den abgemagerten, jungen Mann genauer an. Der Mund war ein schwarzes Loch, es fehlten mehrere Zähne. Der Tote trug diverse primitive Tätowierungen, Reminiszenzen an die Hippiekultur: Vögel, Kompassrosen, Friedenszeichen, Regenbogen und Sterne. Seine Iris hatte dieselbe Farbe wie seine Nägel, der schüttere, blonde Bart reichte bis zum Brustbein, das Haar war in dreckigen, blonden Dreadlocks verfilzt. Sein Körper war übersät von blauen, blutunterlaufenen Einstichstellen, am stärksten in der Leiste, an den Handgelenken und in den Ellenbeugen. Der Hals lag in einer unnatürlichen Stellung, und ein bläulicher Streifen zog sich von einem Ohr zum anderen. Er hatte die typisch gekrümmte Nase der Familie und eine breite, vorgewölbte Stirn, vom Tod hervorgehobene Gesichtszüge.

Der Form halber blätterte Michael einen Stapel Fotografien durch, ohne das Gesicht des Toten aus den Augen zu lassen.

»Weshalb wurde er verhaftet?«

Hazari lächelte.

»Vorrangig, weil er am örtlichen Gymnasium Rohopium verkauft hat. Danach, weil er kein gültiges Visum oder eine Arbeitsgenehmigung hatte. Wir können nicht tolerieren, dass diese Abendländer unsere Jugend auf die schiefe Bahn bringen, Mr. Berg.«

»Natürlich nicht. Hatte er Geld bei sich?«

»Wir haben ein paar Rupien gefunden. Er wohnte in einem alten Fiat ohne Reifen und Nummernschilder, und es dürfte einige Zeit her sein, dass er eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hat. Das ist sehr tragisch, Mr. Berg, aber bei Weitem nicht das erste Mal, dass wir einen dieser jungen Globetrotter verhaften. Aus unerfindlichen Gründen übt unser Land eine magnetische Anziehungskraft auf jüngere Abendländer aus.«

»Drogenabhängige, meinen Sie?«

Hazari sah unangenehm berührt aus. Er wollte nicht voreingenommen wirken, vermutete Michael.

»Well, vielleicht suchen sie so etwas wie geistige Reinigung in den Ashrams und Kommunen. Aber oft enden sie hier bei uns. Genau dort.«

Der Stabsunteroffizier zeigte auf das leere Fach in der Wand, das bei Michael die Assoziation einer Einbahnstraße ins Jenseits hervorrief.

»Wie auch immer. Er hatte keinen Pass bei sich, wenn ich es richtig verstanden habe?«

Michael presste die Worte mühsam in die dicke Luft.

Leise knarrend wippte Hazari in seinen blanken, braunen Stiefeln auf und ab.

»Wenn sie Hepatitis haben und kein Blut mehr spenden dürfen, ist der nächste Schritt in der Regel, ihren Pass an einen pakistanischen Zwischenhändler zu verkaufen. Die stehen in bestimmten islamischen Netzwerken hoch im Kurs, die international agieren. IS, al-Qaida, Boko Haram. Suchen Sie es sich aus.«

Hazari drehte sich um und zeigte auf eine Wand, an der mehrere Kacheln fehlten.

»Hundertfünfzig Kilometer westlich von hier liegt Abottabad, Mr. Berg. Osama bin Laden war viele Jahre sozusagen unser direkter Nachbar. Wir befinden uns in einer Art chronischer Belagerung von Pakistan.«

Michael sah auf seine Uhr.

»Verstehe. Was ist heute Nacht passiert?«

»Es ist ihm offenbar gelungen, seine Decke mit den Zähnen zu zerreißen. Die Stoffstreifen hat er zu einem Seil geflochten, es ans Gitter geknotet und sich erhängt. Bei der Morgenrunde war er bereits eine Weile tot.«

Im jungenhaften, glatten Gesicht des Offiziers hatte sich ein bewundernder Ausdruck ausgebreitet.

»War er alleine?«, fragte Michael.

»Wir können unseren Inhaftierten bedauerlicherweise keine Einzelzellen anbieten, Mr. Berg«, antwortete Hazari ernst. »Wir sind hier nicht in Dänemark, wissen Sie.«

»Er war also nicht alleine?«, wiederholte Michael seine Frage.

»War er nicht, nein.«

»Warum hat niemand Alarm geschlagen oder versucht, ihm zu helfen?«

Zu diesem...