Schattenhimmel - Roman

von: Nora Roberts

Heyne, 2020

ISBN: 9783641224998 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Schattenhimmel - Roman


 

Kapitel 1


Ein Sturm wütete. Er toste um sie herum mit wildem, windgepeitschtem Regen, knisternden Blitzschlägen, brüllendem Donnerrollen. Eine Zornesflut, die es zu unterdrücken galt, tobte in ihr, das wusste sie.

Sie würde heute Nacht den Tod bringen, mit ihrem Schwert, mit ihrer Kraft, mit ihren Befehlen. Jeder vergossene Tropfen Blut würde an ihren Händen kleben – dies war die Last der Führung, die es zu akzeptieren galt.

Dabei war sie noch keine zwanzig Jahre alt.

Fallon Swift berührte die Manschette an ihrem Handgelenk. Sie hatte sie geschnitzt aus einem Baum, den sie in einem Wutanfall vernichtet hatte, um sich immer daran zu erinnern, nie wieder etwas aus Zorn zu zerstören.

Darauf stand: Solas don Saol.

Licht für Leben.

Sie würde heute Nacht den Tod bringen, dachte sie noch einmal, doch sie würde dadurch anderen helfen zu leben.

Durch den Sturm betrachtete sie das Anwesen. Mallick, ihr Lehrer, hatte sie an ihrem vierzehnten Geburtstag zu einem ähnlichen gebracht. Doch während jenes verlassen gewesen war, lediglich der Gestank schwarzer Magie, die verkohlten Überreste der Toten und die ersterbenden Schreie der Gefolterten dort übrig geblieben waren, befanden sich in diesem hier mehr als sechshundert Menschen – zweihundertachtzig Mann Personal und dreihundertzweiunddreißig Gefangene.

Siebenundvierzig dieser Gefangenen waren ihren Informationen zufolge noch keine zwölf Jahre alt.

Sie hatte jeden Quadratzentimeter dieses Sammellagers – jedes Zimmer, jeden Korridor, jede Kamera, die komplette Alarmanlage – in ihrem Kopf. Sie hatte genaue Karten angefertigt und die Rettung monatelang geplant.

In den drei Jahren, seit sie begonnen hatte, ihre Armee aufzubauen und sie und ihre Familie ihr Zuhause verlassen hatten, um nach New Hope zu gehen, würde dies der größte Rettungsversuch ihrer Truppe sein.

Falls sie scheiterte …

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und beruhigte sie wie schon so oft. Sie wandte den Kopf und blickte ihren Vater an.

»Wir haben es im Griff«, sagte Simon zu ihr.

Sie seufzte. »Die Überwachungskameras verzaubern«, murmelte sie und übermittelte die Worte von Geist zu Geist an die Elfen, damit sie die Order weitergaben.

Diejenigen, die an den Bildschirmen saßen, würden nun nur mehr die Bäume, den Regen, den sumpfigen Boden sehen.

»Setzt die Alarmanlagen außer Kraft.«

Der Sturm tobte, während sie und andere Hexen den Zauber gewissenhaft ausführten.

Als das Alles-Klar durch die Reihen ging, ignorierte sie den stechenden Schmerz und gab den Befehl. »Bogenschützen, los.«

Die Wachen auf den Türmen mussten rasch und geräuschlos ausgeschaltet werden. Sie spürte, wie Tonia, die Anführerin der Bogenschützen, Freundin, Blut von ihrem Blut, einen Pfeil an die Sehne legte und schoss.

Mit einem konzentrierten Blick aus grauen Augen beobachtete sie, wie in den vier Türmen an den Ecken der Gefängnismauern Männer getroffen zu Boden gingen.

Sie rückte vor, deaktivierte mithilfe magischer Kraft die Elektrotore. Auf ihr Zeichen hin strömten Truppen durch die Öffnung, Elfen erklommen die Wände und Zäune, Gestaltwandler kämpften sich mit Zähnen und Klauen voran, Feen glitten auf lautlosen Schwingen vor.

Perfektes Timing, dachte sie, gedanklich mit Flynn, dem Elfenkommandeur, und Tonia sprechend. Sie würden die drei Türen gleichzeitig durchbrechen, und jeder Teamleiter würde seinen Truppen deren Aufgaben zuweisen – Zerstörung der Kommunikationskanäle, Ausschaltung der Sicherheitsanlagen, Übernahme des Waffenarsenals, Sicherung des Labors. Und vor allem ging es um den Schutz aller Gefangenen.

Nach einem letzten Blick auf ihren Vater, dem sie vollkommen vertraute und dessen Gesicht voller Mut und Entschlossenheit war, gab sie den Befehl.

Sie zog ihr Schwert, sprengte die Schlösser der Haupttüren, stürmte hinein, sprengte die zweiten Türen auf.

Irgendwo tauchte in ihren Gedanken das Gefängnis von Hatteras auf, die Visionen, die sie dort mit vierzehn Jahren gehabt hatte. So viel Ähnlichkeit.

Doch hier lebten Soldaten, griffen nach ihren Waffen. Gerade als Gewehrfeuer laut wurde, schlug sie zu, entflammte Waffen, die Hände verbrannten, mit Blasen überzogen, sodass Männer vor Schmerzen aufschrien. Sie schwang ihr Schwert, schwang ihren Schild, kämpfte sich voran.

Hinter den Stahltüren wurden Rufe, Stöhnen, Flehen laut, und sie spürte die Furcht, die schreckliche Hoffnung, die Qual und Verwirrung der Eingekerkerten.

Davon überwältigt streckte sie einen Soldaten nieder, der zu seinem Funkgerät stürzte, zerschlug es mit ihrem Schwert, jagte einen Schockblitz durch das gesamte System.

Funken sprühten, Bildschirme wurden schwarz.

Stiefel schepperten auf metallenen Treppen, und Tod, noch mehr Tod, kam ihnen entgegen, während Pfeile die Luft durchschnitten. Eine Kugel schlug in Fallons Schild, sie schickte das Geschoss postwendend zu dem Schützen zurück und drehte sich der eisernen Tür zu, die jemand innerhalb des Gefängnisses hatte sichern können.

Sie sprengte die Tür auf, setzte zwei Feinde dahinter außer Gefecht und tötete einen dritten mit dem Schwert, während sie über die rauchenden Metallteile sprang und auf die nach unten führende Treppe zueilte.

Kriegsgeschrei folgte ihr. Ihre Truppen schwärmten aus, drangen überall ein – in die Kaserne, in Büros, einen Speisesaal, eine Küche, die Krankenstation.

Sie selbst stürmte mit ihren Leuten zu dem Labor mit seiner Schreckenskammer. Dort, noch eine Eisentür. Sie wollte eben mit ihrer Kraft ausholen, hielt dann jedoch im letzten Moment inne, da sie plötzlich etwas Dunkles spürte.

Magie, schwarz und tödlich.

Mit erhobener Hand stoppte sie ihre Begleiter, zwang sich zu Geduld und forschte nach. Stand da in voller Größe, in ihren von Elfen gefertigten Stiefeln, einer Lederweste und mit kurzem schwarzem Haar, der Blick durch ihre Kraft verschwommen.

»Tretet zurück«, befahl sie, schulterte ihren Schild, steckte das Schwert in die Scheide und legte die Hände an die Tür, die Schlösser, den Rahmen, das dicke Metall.

»Eine versteckte Sprengladung«, murmelte sie. »Wenn wir sie eindrücken, explodiert sie. Geht zurück.«

»Fallon.«

»Trete zurück«, sagte sie zu ihrem Vater. »Ich könnte sie abstellen, aber das würde zu lange dauern.« Sie hielt Schwert und Schild wieder vor sich. »In drei, zwei …«

Sie forcierte ihre Kraft, Licht gegen Finsternis.

Die Tür brach auf, spuckte Feuer, versprühte gezackte, flammende Metallteile. Splitter krachten auf ihren Schild, zischten vorüber und bohrten sich in die Wand hinter ihr, doch sie warf sich mitten in den Tumult.

Und sah den Mann, nackt, mit glasigen Augen, ausdrucksloser Miene, auf einen Untersuchungstisch gefesselt. Ein zweiter in einem Laborkittel zuckte zurück und kletterte so schnell er konnte die hintere Wand hinauf.

Sie schleuderte Kraft an die Decke, sodass der im Kittel zu Boden ging; gleichzeitig wich Simon dem Skalpell eines Dritten aus und erledigte ihn dann mit einem raschen Stich.

»Sucht nach weiteren«, ordnete Fallon an. »Konfisziert sämtliche Unterlagen. Zwei sichern diesen Teil ab, der Rest verteilt sich und stellt sicher, dass die Etage frei ist.«

Sie ging zu dem Mann auf dem Tisch. »Kannst du sprechen?«

Sie hörte seine Gedanken, bekam mit, wie er um Worte rang.

Sie haben mich gefoltert. Ich kann mich nicht bewegen. Hilf mir. Werdet ihr mir helfen?

»Wir sind hier, um zu helfen.« Sie steckte das Schwert ein und beobachtete seine Miene. Auf ihn konzentriert hielt sie die gedankliche Verbindung mit ihm.

»Hier drüben ist eine Frau«, rief Simon. »Unter Drogen, aufgeschnitten, aber sie atmet.«

Sie haben uns verletzt, wehgetan. Helft uns.

»Ja.« Fallon legte eine Hand auf eine der Fesseln, und sie öffnete sich. »Wie lange seid ihr schon hier?«

Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht. Bitte. Bitte.

Sie ging um den Tisch herum und befreite den Mann von der zweiten Fessel. »Hast du dich für die Finsternis entschieden, bevor oder nachdem du hierherkamst?«, fragte sie stumm.

Er bäumte sich auf, mit Häme im Blick, und versuchte, sie mit einem Blitz zu treffen. Sie schmetterte ihn mit ihrem Schild zurück und durchbohrte den Mann mit seiner eigenen Waffe.

»Das werden wir nun wohl nie mehr erfahren«, murmelte sie.

»Lieber Gott. Fallon.« Simon stand da, das Gewehr im Anschlag, die Frau hing schlaff über seiner Schulter.

»Ich musste auf Nummer sicher gehen. Kannst du einen Arzt für sie besorgen?«

»Ja.«

»Wir machen die restlichen Räume klar.«

Nachdem das getan war, stand fest, dass sie dreiundvierzig Gefangene transportieren mussten. Die restlichen würden sie begraben. Sanitäter rückten an, um die Verwundeten beider Seiten zu behandeln, und Fallon begann mit der mühsamen Überprüfung der in Zellen eingesperrten Gefangenen.

Einige, das wusste sie, waren womöglich so wie die im Labor. Andere waren vielleicht geistig gebrochen, und konnten deshalb ebenfalls gefährlich werden.

»Mach mal Pause«, sagte Simon zu ihr und drückte ihr eine Tasse Kaffee in die Hand.

»Bei einigen steht noch nicht alles fest.« Sie nahm einen Schluck und sah ihrem Vater ins Gesicht. Er hatte das...