Wicked Mafia Prince

von: Annika Martin

LYX, 2017

ISBN: 9783736305236 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Wicked Mafia Prince


 

1


Viktor

Die Mädchen bewegen sich in ihren Zimmern wie Tiere in Käfigen. Sie machen Sport, sie gehen auf und ab, sie hämmern gegen die Wände. Manche gestikulieren obszön in die Kameras. Andere geben sich umgänglich, vielleicht, weil sie glauben, das würde ihre Lage verbessern.

Ich bezweifle das sehr.

Auf die Jungfräulichkeit der Valhalla-Mädchen laufen insgesamt dreißig Feeds mit Auktionen. Ich verfolge sie auf neun Monitoren, die meisten davon sind noch einmal auf mehrere Bildschirme unterteilt. Ich habe sie in meiner neuen Wohnung auf Regalen vor dem Sofa aufgebaut, wie neun Fernseher.

Ich beobachte die Feeds nonstop, und während der wenigen Stunden, in denen ich schlafe, zeichne ich sie auf. Ich kann mir nicht erlauben, auch nur den kleinsten Hinweis zu übersehen. Mein Bruder und ich müssen herausfinden, wo sich dieser Ort befindet.

Der Laptop in der Mitte zeigt Tanechka, und nur Tanechka. Sie ist wie eine Nonne gekleidet. Sie wendet ihr Gesicht nie der Kamera zu, aber ich weiß, dass sie es ist. Ich werde moja Tanechka immer erkennen – meine Tanechka.

Unablässig betend. Tanechka wankt nie in ihrer zielgerichteten Konzentration. Sie scheint sich auf ein Heiligenbild zu konzentrieren, wie eine Nonne es tun würde. So eine unerbittliche Konzentration. So typisch Tanechka.

Die Nonnenverkleidung ist brillant. In den alten Tagen in Moskau hätten wir zusammen über so eine Verkleidung gelacht, sie genossen wie guten Wodka. Wenn ich mir das zu intensiv vorstelle, kommen mir die Tränen. Das ist okay. Der Schmerz fühlt sich gut an, denn der Schmerz verbindet mich mit ihr.

Schmerz war meine einzige Verbindung zu ihr in jenen dunklen Monaten, nachdem ich sie umgebracht hatte. Als ich ebenfalls sterben wollte.

Ich habe sie die steile Felswand der Darialschlucht hinuntergestürzt. Auf diese Weise haben meine Mafiabrüder und ich einige Verräter umgebracht, als wir dort im Süden mit den georgischen Gangs zusammengearbeitet haben. Die Tiere dort unten fraßen die Leichen und verstreuten ihre Knochen.

Das war vor zwei Jahren.

Und jetzt ist sie hier.

Meine Tanechka hat überlebt.

Ich kann den Sturm aus Freude und Ungläubigkeit gar nicht beschreiben, der in mir tobte, als ich sie zum ersten Mal auf dem Auktions-Feed sah. Sogar mit dem Rücken zur Kamera wusste ich, dass sie es ist.

Vor zwei Jahren hatte ich kein Vertrauen in sie. Ich hätte ihr glauben sollen, obwohl die ganze Welt und die Beweise mir etwas anderes sagten.

Jetzt habe ich eine zweite Chance bekommen, um sie zu kämpfen.

Ihr richtiger Name ist Tatiana, aber wir alle nennen sie Tanechka, und ich habe sie in die Schlucht gestürzt, und doch ist sie hier, außergewöhnlich wie eine Fackellilie. Ich werde ihr alles geben. Ich werde mein Innerstes nach außen kehren, um ihr meine Liebe, mein Schuldgefühl zu zeigen. Ich werde mir den Bauch aufschlitzen, wenn sie es will.

Für wen arbeitet sie jetzt? Was ist ihre Mission? Sie ist seit Wochen dort. Warum wartet sie? Wartet sie auf Unterstützung?

Was machst du, moja Tanechka?

Tanechka hat die Aufmerksamkeit vieler Bieter auf sich gezogen. Ihre Wange gleicht der eines Engels, und sie hat herrliches blondes Haar – es lugt unter dem schwarzen Kopftuch hervor, das sie unter dem Kinn verknotet hat, wie es die Nonnen in der Ukraine tragen. Zahlen auf dem Bildschirm unter ihrem Webcam-Feed zeigen das aktuellste Gebot. Der Betrag steigt täglich. Alle wollen die blonde Nonne haben, die nicht aufhört zu beten. Alle wollen ihr Gesicht sehen. Etwas Schönes zerstören.

Dreh dich um, Tanechka, denke ich.

Nicht dass ich eine Bestätigung bräuchte. Das hier ist niemand anderes als Tanechka.

Zu Hause in Moskau waren wir so tief miteinander verbunden, dass wir oft die gleichen Dinge dachten, und wenn nicht, dann reichte der geringste Hinweis, um die Gedanken des anderen lesen zu können. Menschen und Umgebungen konnten wir auf dieselbe Weise lesen.

Dreh dich um. Lass mich dein Gesicht sehen. Lass mich deine Augen sehen. Ich glaube, ich würde ihre Mission verstehen, wenn ich nur ihre Augen sehen könnte.

Aber nein, Tanechka bleibt mit ihrer unbeirrbaren Konzentration bei ihrem vorgetäuschten Gebet. Damals in Russland konnte sie ihren Blick stundenlang auf einen speziellen Hauseingang gerichtet halten, während sie auf ein Zeichen wartete, hindurchzugehen. Wie ein geschliffener Diamant war Tanechka. Sie konnte einen Hauseingang die ganze Nacht lang beobachten, wenn mir selbst schon lange die Augen zufielen.

Ich weiß nicht, warum sie eine Nonnentracht trägt und so tut, als wäre sie eine Gefangene, deren Jungfräulichkeit zu Gebot steht, ein hilfloses Opfer. Tanechka ist keine Jungfrau und kein Opfer, abgesehen davon, dass ich sie getötet habe.

Obwohl es so scheint, als wäre sie nicht einmal damals ein Opfer gewesen. Es sollte mich eigentlich nicht überraschen, dass sie überlebt hat.

Sie ist undercover im Valhalla, also muss sie vorhaben, das Bordell auszuheben. Diesen abscheulichen Ort auszuheben ist genau das, woran auch mein Bruder Aleksio und ich arbeiten.

Aber mit wem ist Tanechka dort? Ist sie zur selbst ernannten Rächerin geworden? Oder ist eine andere Gang darin verwickelt, und Tanechka kundschaftet die Sache aus? Seit sechs Wochen ist sie an diesem Ort, der Gebotsliste nach zu urteilen.

Tanechka hatte Sexsklaverei nie gutgeheißen. Sie hätte es gehasst, so lange an einem solchen Ort zu bleiben. Es ist wirklich eigenartig, dass sie bleibt.

Valhalla ist die Haupteinnahmequelle unseres Feindes Bloody Lazarus. Er leitet die mächtigste Verbrecherdynastie Chicagos – eine Dynastie, die meinen Brüdern und mir gestohlen wurde. Wir haben vor, uns einen Großteil davon zurückzuholen, aber wir wollen nichts mit einem Ort wie Valhalla zu tun haben. Wir werden es nicht nur vernichten – wir werden tief in seine Versorgungskanäle eingreifen und jeden vernichten, der je damit zu tun hatte. Wir werden dieses Übel mit der Wurzel ausreißen, damit es nie wieder nachwachsen kann.

Bei der M-1 Challenge, einer russischen Mixed-Martial-Arts-Wettkampfreihe, wissen die besten Kämpfer ihre Gegner mit Körpertreffern zu schwächen, bevor sie zum K. o.-Schlag ansetzen. Einnahmequellen wie das Valhalla-Bordell zu zerstören ist ein Körpertreffer für Bloody Lazarus. Sobald er getroffen ist, setzen wir zum K. o. an.

Lazarus hat dabei geholfen, meine Eltern zu töten und mich von meinen Brüdern zu trennen. Ich war noch keine zwei Jahre alt, als er dabei half, mich von meiner Familie in Chicago fortzureißen und mich in ein Moskauer Waisenhaus zu stecken.

Ich wuchs ohne jedes Wissen darüber, wer ich war, und mit nur vagen Erinnerungen an mein Leben in Amerika auf. Ich dachte, sie wären nur Träume, diese Erinnerungen.

Mein älterer Bruder Aleksio hat mich erst letztes Jahr wiedergefunden. Kiro, unser kleiner Bruder – malenkij brat –ist immer noch da draußen, verloren. In Gefahr.

Ich konzentriere mich wieder auf Tanechka.

Um Valhalla zu vernichten, müssen wir es erst einmal finden. Meine Rolle ist es, mich als Kunde auszugeben, als Mann, der auf diese armen, gefangenen Mädchen bietet. Aleksio und ich haben beschlossen, dass ich eine der unbedeutenden Auktionen gewinnen soll. Wir haben uns ein dürres Mädchen ausgesucht, Nikki, auf das ich biete.

Wenn man bei Valhalla eine Auktion gewinnt, wird man mit verbundenen Augen hingebracht, um seinen Gewinn in Anspruch zu nehmen. Manche sagen, dass Valhalla nicht einmal in diesem Bundesstaat liegt, dass man dort hingeflogen wird, aber Aleksio und ich glauben, dass es hier in Chicago ist.

Valhalla hat ständig dreißig Auktionen am Laufen. Unter dem aktuellen Gebot gibt es einen Feed, auf dem man die Nachrichten lesen kann, die die Männer an die Laptops in den Zimmern der Mädchen schicken. Manche Mädchen schreiben in schlechtem Englisch zurück. Manche scheinen sogar ihr Englisch durch diese Unterhaltungen zu üben. Manche ignorieren die Nachrichten.

Tanechka ignoriert sie, aber sie sieht sie. Sie sind direkt in ihrem Blickfeld.

Sie spricht fließend Englisch. So haben wir uns kennengelernt. Tanechka und ich wurden wegen unserer Englischkenntnisse von der Führerschaft der Bratwa, den Anführern unserer Mafiagang, ausgewählt. Wir hatten als Killer zu arbeiten, wobei wir uns oft als Amerikaner ausgeben mussten. Wann immer wir zusammen waren, sprachen wir Englisch miteinander, oder Französisch. Ständig übten, schärften wir unsere Fähigkeiten.

Wir waren zwei strebsame Killer, Tanechka und ich.

Wenn ich doch nur ihr Gesicht sehen könnte, dann würde ich wissen, was sie im Valhalla tut und ob sie irgendetwas braucht.

Ich würde es nicht wagen, ihr eine Nachricht zu senden. Es gibt nichts Gefährlicheres, als wenn jemand versucht, dir bei einer Undercover-Mission zu helfen, wenn du keine Hilfe willst oder brauchst.

So schwer es auch fallen mag, aber sich einfach um seine eigenen Geschäfte zu kümmern ist die beste Hilfe, die man einem Undercoveragenten anbieten kann.

Also warte ich. Beobachte. Aber ein einziges Wort von ihr, ein einziges Zeichen, dass sie in Gefahr ist, und ich werde versuchen, schneller dort zu sein. Ich muss nur wissen, wo es ist.

Also halte ich nach Hinweisen Ausschau.

Meine falsche Identität für das Bieten auf Nikki ist Peter, ein deutscher Software-Ingenieur. Die...