Bedrohliche Verlockung

von: Jennifer Dellerman

beHEARTBEAT, 2016

ISBN: 9783732528004 , 312 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Bedrohliche Verlockung


 

»Das haben Sie alle richtig gut gemacht.«

Willow klatschte in die nassen Hände und lächelte ihrem zweiten Kurs an diesem Tag anerkennend zu. Wassertropfen spritzten in alle Richtungen. Die Teilnehmer, alle schon ältere Leute, sahen sie erleichtert und zufrieden an.

Den weniger Selbstbewussten gab sie noch ein zusätzliches Lob mit auf den Weg. Währenddessen dirigierte sie alle zum flacheren Ende des Schwimmbeckens, wo ihr Partner Tim stand und die Leute genau beobachtete, um einzugreifen, wo Hilfe nötig war. Erst als alle festen Boden unter den Füßen hatten und in Richtung Ausgang strebten, folgte Willow ihnen, nahm ihr riesiges Badetuch vom Haken und wickelte sich darin ein wie eine Mumie.

»Du hast sie heute härter rangenommen als sonst, Mary«, sagte Tim, der seine braunen Augen nicht von ihrem Körper abwenden wollte. Der Name erschreckte sie jedes Mal; daran musste sie unbedingt noch arbeiten. Vor drei Monaten hatte sie den Namen Mary Elizabeth Netts erhalten. Willow Irene Yancy galt als spurlos verschwunden, vermutlich tot.

Vorübergehend, sagte sie sich. Eines Tages würde sie ihren eigenen Namen wieder benutzen. Er fehlte ihr wirklich. Genauso wie die langen Haare. Ein sehnsüchtiges Gefühl überkam sie, als sie mit einer Hand durch ihre kurzen rotblonden Locken fuhr, die so geschnitten waren, dass ihr ein paar seidige Strähnen in die Stirn fielen. Der Stil ließ sie jünger aussehen. Eigentlich war sie vierundzwanzig, aber mit ihrem neuen, vorübergehenden Namen war sie praktisch so unschuldig wie ein Kind.

Oder eine Nonne. Also so, wie sie sich fast ihr Leben lang vorgekommen war. Schon früh hatte sie alles daran gesetzt, als Tänzerin Karriere zu machen. Das bedeutete, sie musste sich streng an einen Ernährungsplan halten und viel Sport treiben, von den Proben ganz zu schweigen, die ihr die letzten Kräfte raubten. Dank eines genau festgelegten Tagesablaufs, über den ihre Mutter gewissenhaft wachte, war für Willow kaum Freizeit geblieben. Jungs waren absolut kein Thema.

Ihre Mutter Heather Yancy hatte ihre Tanzkarriere aufgeben müssen, als sie schwanger wurde. Vor allem, nachdem klar war, dass sie ihr Kind allein großziehen musste, da ihr Freund sie verlassen hatte. Wegen einer anderen Tänzerin, die nicht schwanger war und damit auch nicht aus dem Leim gehen konnte.

Nach vielen Jahren und noch viel mehr Flaschen Scotch war Heather dann Ian begegnet, den sie heiratete und von dem sie ihre zweite Tochter Willow bekam.

Als sich herausstellte, dass die älteste Tochter Maggie keinerlei Anmut und Eleganz besaß, drängte ihre Mutter Willow in die Rolle der Tänzerin. Am Anfang hatte Willow das Tanzen geliebt, die Reaktionen ihres Körpers auf den Rhythmus der Musik, die Freude und die Hitze, die in ihren Adern pulsierte, wenn ihre Muskeln sich anspannten. Doch diese Liebe war unter den unmenschlichen Anforderungen an professionelle Tänzer gestorben. Auch ihre Mutter war gestorben, allerdings an den unzähligen Flaschen mit Scotch und Rum und anderem Hochprozentigen. Willow steckte damit in einer Sackgasse. Das Tanzen hatte seinen Reiz verloren, sie war nie aufs College gegangen und konnte nichts anderes vorweisen als einen Körper, den sie bis zur Perfektion beherrschte. Was sollte sie also sonst machen?

»Ähm … Mary? Stimmt was nicht?«, fragte Tim. Er hatte das Gesicht besorgt in Falten gelegt, was seinen Hundeblick noch mehr betonte.

Mit einem kurzen Blinzeln zwang Willow sich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Sie war keine Tänzerin mehr, und das war Segen und Fluch zugleich. Segen, weil sie außer sich selbst niemanden mehr zufriedenstellen musste. Fluch, weil die Umstände, die dazu geführt hatten, alles andere als angenehm gewesen waren.

Sie brachte ein flüchtiges Lächeln zustande. »Tut mir leid, ich war in Gedanken. Mir geht es gut, ich will mich nur abtrocknen gehen.« Und ein oder zwei Paracetamol einwerfen, damit die Schmerzen in ihrem Knie nachließen.

»Hmm«, machte Tim und sah intensiv auf ihre Beine. »Dein Knie macht dir wieder zu schaffen.« Es war nicht als Frage formuliert. Sein Kommentar sagte ihr, dass sie nach links geneigt dastand, um das rechte Knie zu entlasten. Das wiederum belastete ihre linke Hüfte, die ebenfalls etwas abgekriegt hatte. Beide Verletzungen wogen schwer genug, um zu verhindern, dass sie je wieder professionell tanzen würde.

Während ihrer Reha-Maßnahme in einer abgeschiedenen Einrichtung war Willow auf eine neue Leidenschaft gestoßen. Lehrerin für Wasser-Aerobic erschien vielleicht nicht jedem als ein erstrebenswerter Beruf, doch für Willow war es ein Wendepunkt in ihrem Leben – eine Gelegenheit, die Liebe zum Tanzen wiederzuentdecken und sie auf eine Weise anzuwenden, mit der anderen geholfen wurde. Manche brauchten sanfte Bewegungsübungen für die Gelenke, für andere – so wie sie selbst – diente es als Therapie nach einer Verletzung.

Dummerweise warf die Kleiderordnung Fragen auf, die sie nicht beantworten wollte, weshalb sie auch das Becken immer erst verließ, wenn alle Teilnehmer gegangen waren. Nur wenige Leute kannten den Grund für ihre Verletzungen. Tim gehörte nicht dazu. Willow wusste sein Sorge zu schätzen, aber seine Neugier, mehr über die Ursachen für ihr Leiden zu erfahren, wurde immer lästige.

Behutsam stellte sie sich wieder gerade hin. »Ein bisschen. Aber mit einer Tablette bin ich gleich wieder fit.«

Tim sah sie enttäuscht an. »Wirst du mir irgendwann mal die ganze Geschichte erzählen? Die wahre Geschichte?«

Wohl kaum. »Es ist nicht wichtig.«

»Das ist es sehr wohl, Mary.« Sie versuchte, bei ihrem falschen Namen nicht zu zucken. Und genauso war sie bemüht, nicht allzu ungeduldig zu reagieren. »Denn es hat psychologische Folgen. Das zertrümmerte Knie an sich ist schon schlimm genug, aber was ich von deiner Hüfte gesehen habe … Ehrlich, für mich sieht das so aus, als hätte sich etwas Scharfes tief ins Fleisch eingeschnitten.«

Eine Kugel, die ein Stück Knochen herausgerissen hatte. Aber das sagte sie ihm nicht.

Willow kämpfte gegen den gallebitteren Geschmack im Mund und gegen die verhasste Erinnerung an den quälenden Schmerz. Sie hoffte, dass ihr dieser innere Kampf nicht anzusehen war, als sie mit ruhiger, sanfter Stimme sagte: »Die Vergangenheit ist vorbei, Tim. Ich möchte darüber weder reden noch nachdenken. Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich jetzt gerne abtrocknen und umziehen, bevor ich zu meinem Treffen mit Jade muss.«

Jade Lambert war die Frau im Rathaus, die sich um die Bäder kümmerte, und sie war zugleich Willows Chefin. Sie war eine umgängliche Frau Mitte fünfzig, die bei Krisen die Ruhe bewahrte. Sie war in Erster Hilfe, Herz-Lungen-Wiederbelebung und im Umgang mit dem Defibrillator ausgebildet. Sie war so etwas wie ein Fels in der Brandung; Willow würde dieser Frau ihr Leben anvertrauen. Denn Jade – deren wahren Namen sie nicht kannte – und sie saßen beide im gleichen Boot. Aber während Jades neues Leben unwiderruflich war, hoffte Willow, irgendwann in ihr altes Leben zurückzukehren.

Tim setzte zum Reden an, hielt inne und sagte dann: »Okay, wie du meinst. Aber denk dran, dass du was isst, bevor du die Tablette schluckst.«

Als hätte er sich angesprochen gefühlt, knurrte in dem Moment ihr Magen. »Mein leerer Bauch ist dir schon einen Schritt voraus.« Willow grinste ihn an und versuchte, seinen hitzigen Blick zu ignorieren. Sein unerwünschtes und beharrliches Interesse an ihr machte ihrem Nervenkostüm zu schaffen. Und ihre Nerven waren durch das erzwungene Exil und die schlaflosen Nächte schon mehr als überstrapaziert. »Dann bis später.«

»Ja, bis Freitag«, erwiderte Tim, während sie zügig in Richtung Damenumkleide ging, um sich seinen Blicken zu entziehen.

Willow zog sich in die Umkleide zurück und ging zu ihrem Spind. Alles würde besser sein, wenn sie erst mal mit Jade gesprochen hatte. Vor allem in Verbindung mit dem Burger und den Fritten, die ihr wegen ihrer strikten Diät lange Zeit verwehrt geblieben waren, die jetzt aber im Chili’s ein Stück die Straße hinunter auf sie warteten.

Wie automatisch drehte sie das Zahlenschloss. In Gedanken war sie schon bei der Dusche, um sich das Salz aus dem Pool von der Haut zu spülen. Und dann ein schöner, saftiger Hamburger! So konzentriert war sie auf die kommenden Ereignisse, dass sie ein paar Mal blinzeln musste, ehe sie begriff, was sie da in ihrem Spind sah.

Am obersten Haken hing ein neues Paar hellrosa Spitzenschuhe, wie sie sie seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte, vom Tragen ganz zu schweigen. Als erste Reaktion verkrampften sich ihre Zehen vor Entsetzen über die Erinnerung, längere Zeit en pointe, also auf den Zehenspitzen zu stehen.

Ihre nächste Reaktion war ein ungläubiges Kopfschütteln. Was zum Teufel sollte denn das?

Ein kleiner gelber Zettel war an einem der Schnürriemen befestigt. Darauf stand in gekritzelter Schrift: Fehlen sie dir? Du jedenfalls hast mir gefehlt.

Sie wich einen Schritt zurück und landete unsanft auf der weißen Kunststoffbank, von denen etliche vor den Spinden verteilt standen. Ihre Hüfte protestierte bei dieser heftigen Bewegung. Ihr Herz raste wie wild, während sie sich in dem schmalen, länglichen Raum umsah. Gegenüber den Spinden waren die Toiletten, die Türen der vier leeren Kabinen standen offen. Auch die Plastikvorhänge der beiden Duschkabinen waren aufgezogen. Am anderen Ende hing ein großer Spiegel, davor zwei Waschbecken. Hinter dieser Wand lag der Zugang zum Pausenraum für das Personal, sodass man auch...