Die Schwester - Roman

von: Joy Fielding

Goldmann, 2016

ISBN: 9783641189525 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Schwester - Roman


 

KAPITEL 1

Gegenwart

Es war noch nicht mal acht Uhr am Morgen, und schon klingelte das Telefon. Selbst bei geschlossener Badezimmertür und laufender Dusche konnte sie den markanten Drei-Glocken-Klingelton erkennen, der ein eingehendes Ferngespräch ankündigte. Sie beschloss, ihn zu ignorieren, weil es wahrscheinlich sowieso nur ein Telefonverkäufer oder die Presse war. Beide Alternativen waren widerwärtig, aber wenn sie die Wahl hätte, würde Caroline sich für den Telefonverkäufer entscheiden. Telefonverkäufer waren bloß auf ihr Geld aus. Die Presse wollte ihr Blut. Auch nach all der Zeit noch.

Fünfzehn Jahre morgen.

Sie hielt den Kopf unter den heißen Strahl und spürte, wie der Schaum des Shampoos über ihre geschlossenen Augen und Wangen floss. Das konnte nicht stimmen. Wie konnten fünfzehn Jahre endloser Tage und schlafloser Nächte so schnell vergangen sein? Sie hätte gedacht, dass wenigstens die öffentliche Neugier inzwischen abgeflaut wäre. Aber wenn überhaupt, war dieses Interesse mit jedem weiteren Jahrestag eher noch größer geworden. Seit Wochen riefen Reporter an, manche aus so weit entfernten Ländern wie Australien und Japan: Wie war ihr Leben heute? Gab es irgendwelche neuen Spuren? Irgendwelche neuen Männer? Vielleicht einen weiteren Selbstmord? Hatte sie noch Hoffnung, ihre Tochter jemals wiederzusehen? Galt sie für die Polizei immer noch als Verdächtige im Fall des verschwundenen Kindes?

Nur dass Samantha kein Kind mehr sein würde. Sie war kaum zwei Jahre alt gewesen, als sie in einem mexikanischen Luxusresort spurlos aus ihrem Bettchen verschwunden war, während ihre Eltern, wie die Presse zu berichten wusste, »sich mit Freunden in einem Restaurant in der Nähe amüsiert hatten«. Heute wäre ihre Tochter siebzehn.

Vorausgesetzt, dass sie noch lebte.

Und um einige der Fragen zu beantworten: Es gab keine neuen Spuren; sie hatte die Hoffnung nie aufgegeben; es war ihr mittlerweile egal, was die Polizei von ihr dachte; und ihr Leben wäre sehr viel besser, wenn die Geier von der Presse sie verdammt noch mal endlich in Ruhe lassen würden.

Mit gesenktem Kopf griff sie nach oben, um die Dusche abzudrehen, und stellte befriedigt fest, dass das aufdringliche Klingeln aufgehört hatte. Ihr war klar, dass es nur ein vorübergehender Aufschub sein würde. Wer immer angerufen hatte, würde es wieder versuchen. Das war immer so.

Sie trat auf den geheizten grau-weißen Marmorboden ihres Badezimmers, wickelte sich in einen weißen Frotteebademantel und wischte mit einer Hand einen Streifen in den beschlagenen Spiegel über dem doppelten Waschbecken. Sie starrte in die müden grünen Augen einer sechsundvierzigjährigen Frau mit feuchtem braunen Haar, kein Vergleich zu der reservierten Schönheit mit dem gehetzten Blick, die die Zeitungen zum Zeitpunkt von Samanthas Verschwinden beschrieben hatten, wobei sie es irgendwie geschafft hatten, die Worte reserviert und Schönheit hässlich und anklagend klingen zu lassen. Um den zehnten Jahrestag herum war aus der Schönheit eine auffällige Erscheinung geworden, reserviert hatte sich in distanziert verwandelt. Und im vergangenen Jahr hatte ein Reporter sie noch weiter degradiert, zu einer immer noch attraktiven Frau mittleren Alters. Es war ein nachlässiges Kompliment, aber trotzdem vernichtend.

Egal. Daran hatte sie sich gewöhnt.

Caroline rubbelte ihre Kopfhaut kräftig mit einem weißen Handtuch ab und sah ihre neue Frisur schlaff um ihr Kinn hängen. Der Frisör hatte versprochen, dass sie mit einem Bob jünger aussehen würde, doch er hatte ihr feines Haar falsch eingeschätzt, das sich einfach nicht in Form bringen ließ. Caroline atmete tief durch und dachte, dass die Zeitungsartikel sie morgen wahrscheinlich als »die ehemals attraktive Mutter des vermissten Kindes Samantha Shipley« bezeichnen würden.

Spielte es überhaupt eine Rolle, wie sie aussah? Wäre sie, die Rabenmutter, in den Augen der öffentlichen Meinung weniger schuldig – der Vernachlässigung ihres Kindes, des Mordes –, weil sie nicht mehr so attraktiv war wie zu der Zeit, als ihre Tochter verschwunden war? Damals hatten die Medien ihr alles vorgeworfen, vom Schnitt ihrer Wangenknochen bis zur Kürze ihrer Röcke, vom Glanz ihres schulterlangen Haars bis zur Farbe ihres Lippenstifts. Selbst die Aufrichtigkeit ihrer Tränen war angezweifelt worden; eine Boulevardzeitung hatte bemerkt, dass ihre Wimperntusche bei einer Pressekonferenz seltsamerweise unversehrt geblieben war.

Ihr Ehemann hatte nur einen Bruchteil der Gehässigkeit abbekommen, der sich Caroline ausgesetzt sah. Bei all seiner Attraktivität hatte Hunters gutes Aussehen etwas Harmloses, was ihn weniger zur Zielscheibe gemacht hatte. Während Carolines angeborene Schüchternheit unglücklicherweise oft distanziert wirkte, ließ Hunters Extrovertiertheit ihn zugänglich und offen erscheinen. Er wurde als ein Vater porträtiert, der kaum die Fassung bewahren konnte und sich an seine ältere Tochter Michelle klammerte, ein pausbäckiges Kind von fünf Jahren, während seine Frau stocksteif neben ihnen stand, abgesondert und allein.

Nirgendwo wurde erwähnt, dass es Hunter gewesen war, der darauf bestanden hatte, dass sie an dem Abend ausgingen, obwohl die engagierte Babysitterin nicht erschienen war. Oder dass er Mexiko kaum eine Woche nach Samanthas Verschwinden verlassen hatte, um zu seiner Anwaltskanzlei in San Diego zurückzukehren. Auch der sprichwörtliche Tropfen nicht, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, der letzte Verrat, der ihre Ehe endgültig zum Scheitern verurteilt hatte.

Aber natürlich war das auch ihre Schuld gewesen.

»Alles meine Schuld«, sagte Caroline zu ihrem Spiegelbild, zog den Föhn aus der Schublade unter dem Waschbecken, richtete ihn auf ihren Kopf wie eine Pistole, schaltete ihn ein und blies den Strom heißer Luft direkt in ihr Ohr.

Beinahe gleichzeitig ging das Klingeln wieder los. Ein langer, gefolgt von zwei kurzen Tönen, die ein weiteres Ferngespräch ankündigten. »Hau ab«, rief sie in Richtung Schlafzimmer, dann: »Oh verdammt.« Sie schaltete den Föhn aus, marschierte ins Schlafzimmer und schnappte das Telefon vom Nachttisch neben ihrem großen Doppelbett, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht einmal flüchtig auf die Morgenzeitung zu gucken, die auf ihrem ungemachten Bett lag. »Hallo.«

Stille, gefolgt von einem Besetztzeichen.

»Na super.« Sie legte das Telefon wieder in die Schale, während ihr Blick unerbittlich von der Titelseite der Zeitung angezogen wurde. Neben der alljährlichen Wiederaufbereitung grausamer Fakten und schäbiger Andeutungen, der lüsternen Aufzählung aller Details – Ehebruch! Selbstmord! Wahre Geständnisse! – prangte ein großes Foto ihrer zweijährigen Tochter Samantha, die aus ihrem Bettchen zu ihr hochlächelte, neben einer Zeichnung, wie ihre Tochter heute aussehen könnte. Caroline sank mit weichen Knien aufs Bett, als das Telefon erneut klingelte. Sie riss es aus der Schale, noch bevor der erste Ton verklungen war. »Bitte. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«

»Ich nehme an, du hast die Morgenzeitung gesehen«, sagte eine vertraute Stimme. Sie gehörte Peggy Banack, Leiterin des Marigold-Hospizes, einer Einrichtung für Sterbende mit zwölf Betten im Herzen von San Diego. Peggy war seit dreißig Jahren Carolines beste Freundin, seit fünfzehn Jahren ihre einzige.

»Ließ sich kaum vermeiden.« Wieder kämpfte Caroline gegen den Impuls an, auf die Titelseite zu schielen.

»Die Arschlöcher schreiben jedes Jahr dasselbe. Alles okay mit dir?«

Caroline zuckte die Achseln. »Glaub schon. Wo bist du?«

»Auf der Arbeit.«

Natürlich, dachte Caroline. Wo sollte Peggy an einem Montagmorgen um acht Uhr sonst sein?

»Hör mal, tut mir leid, dass ich dich damit behelligen muss«, sagte Peggy, »gerade heute …«

»Was ist?«

»Ich hab nur überlegt … Ist Michelle schon losgefahren?«

»Michelle ist bei ihrem Vater. Sie ist häufig dort, seit das Baby …« Caroline atmete tief ein, um nicht zu würgen. »Sollte sie heute Morgen arbeiten?«

»Wahrscheinlich ist sie auf dem Weg.«

Caroline nickte und wählte die Nummer von Michelles Handy, sobald sie sich von Peggy verabschiedet hatte. Selbst jemand so selbstzerstörerisch Eigensinniges wie ihre Tochter konnte nicht so dumm sein, gerichtlich verordnete Sozialstunden zu schwänzen.

»Hi, hier ist Micki«, hauchte ihre Tochter so tonlos, dass Caroline ihre Stimme kaum erkannte. »Hinterlassen Sie eine Nachricht.«

Nicht einmal ein »bitte«, dachte Caroline, ärgerte sich über den Spitznamen Micki und fragte sich, ob ihre Tochter ihn gerade deswegen benutzte. »Michelle«, sagte sie spitz, »Peggy hat gerade angerufen. Offenbar bist du zu spät für deine Schicht. Wo bist du?« Sie legte auf, atmete tief durch und rief dann Hunters Festnetznummer an, fest entschlossen, nicht gleich das Schlechteste anzunehmen. Vielleicht hatte der Wecker ihrer Tochter nicht geklingelt. Vielleicht war ihr Bus verspätet. Vielleicht trat sie in diesem Moment durch die Eingangstür des Hospizes.

Vielleicht schläft sie aber auch mal wieder nach einer Partynacht ihren Rausch aus, meldete sich ungebeten die Stimme der Realität. Vielleicht hatte sie auch ein paar Gläser zu viel getrunken, bevor sie sich ans Steuer ihres Wagens gesetzt hatte, ohne sich um ihre Verurteilung wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss und den...