Hinter dem Regenbogen - Roman

von: Nadia Hashimi

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732523573 , 688 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Hinter dem Regenbogen - Roman


 

Kapitel Eins


Rahima


Shahla stand an unserer Haustür, deren grünes Metall an den Kanten rostete, und reckte den Hals. Als Parwin und ich um die Ecke bogen, sahen wir Erleichterung in ihren Augen. Wir durften nicht zu spät kommen, nicht schon wieder.

Parwin warf mir einen Blick zu, und wir beschleunigten unseren Schritt. Wir durften nicht rennen, es hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt, aber wir beeilten uns. Unsere Gummisohlen wirbelten Staub auf. Die Säume unserer Röcke flatterten um unsere Knöchel, und mein Kopftuch klebte am Schweiß auf meiner Stirn. Ich nahm an, Parwin ging es ähnlich, denn auch ihr Kopftuch war noch nicht weggeflogen.

Verdammt sollten sie sein. Es war ihre Schuld! Diese Jungs mit ihrem schamlosen Grinsen und den zerrissenen Hosen! Es war nicht das erste Mal, dass wir ihretwegen zu spät kamen.

Wir liefen an blauen, purpurnen und roten Türen vorbei. Farbflecken auf einer Lehmleinwand.

Shahla winkte uns zu sich.

»Beeilt euch!«, zischte sie entnervt.

Keuchend folgten wir ihr durch die Tür. Metall schlug gegen den Türrahmen.

»Parwin! Was soll das?«

»Tut mir leid, tut mir leid! Ich dachte nicht, dass das so laut ist.«

Shahla rollte mit den Augen, genau wie ich. Parwin schlug die Tür immer zu.

»Warum hat das überhaupt so lange gedauert? Seid ihr nicht durch die Gasse hinter der Bäckerei gelaufen?«

»Das ging nicht, Shahla! Da stand er

Wir hatten den Umweg über den Markt genommen und die Bäckerei gemieden, wo die Jungs herumlungerten und mit ihren Blicken den Khaki-Dschungel auskundschafteten, der unser Dorf war.

Neben Straßenfußball war das der liebste Sport der Jungs: Mädchen beobachten. Sie hingen draußen herum und warteten darauf, dass wir aus unseren Klassen kamen. Hatte ein Junge ein Auge auf ein bestimmtes Mädchen geworfen, schoss er zwischen den Autos und Fußgängern hindurch und nahm die Verfolgung auf. So machte er seinen Anspruch geltend. Das ist mein Mädchen, sagte er auf diese Weise. Hier ist nur Platz für einen Schatten. Heute stand Shahla, meine zwölfjährige Schwester, im Mittelpunkt dieser ungewollten Aufmerksamkeit.

Die Jungs meinten das selbstverständlich als Kompliment, doch den Mädchen machte es Angst, denn die Leute konnten denken, sie hätte diese Art von Aufmerksamkeit provoziert. Aber es gab hier auch wirklich nicht viele Möglichkeiten für die Jungs, sich zu amüsieren.

»Shahla, wo ist Rohila?«, flüsterte ich. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als wir auf Zehenspitzen ums Haus schlichen.

»Sie hat etwas zu essen zum Nachbarhaus gebracht. Madar-jan hat ein paar Auberginen für sie gekocht. Ich glaube, da ist jemand gestorben.«

Gestorben? Mir zog sich der Magen zusammen, und ich konzentrierte mich wieder darauf, Shahlas Fußstapfen zu folgen.

»Wo ist Madar-jan eigentlich?«, fragte Parwin leise und nervös.

»Sie bringt das Baby ins Bett«, antwortete Shahla und drehte sich zu uns um. »Also macht nicht zu viel Lärm, sonst merkt sie, dass wir erst jetzt nach Hause kommen.«

Parwin und ich erstarrten, und Shahla wurde kreidebleich, als sie unsere aufgerissenen Augen sah. Sie wirbelte herum. Madar-jan stand hinter ihr. Sie war durch die Hintertür gekommen und wartete nun auf dem kleinen, gepflasterten Hof hinter dem Haus.

»Eure Mutter weiß ganz genau, wann ihr Mädchen nach Hause kommt, und sie ist sich durchaus bewusst, was für ein Vorbild eure ältere Schwester für euch ist.« Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ihr verärgerter Tonfall sprach dieselbe Sprache.

Shahla ließ beschämt den Kopf hängen, und Parwin und ich versuchten, Madar-jans wütenden Blick zu meiden.

»Wo seid ihr gewesen?«, verlangte sie zu wissen.

Oh, wie gerne hätte ich ihr die Wahrheit gesagt!

Ein Junge, der das Glück hatte, ein Fahrrad zu besitzen, war Shahla gefolgt und hatte uns immer wieder umkreist. Shahla hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Als ich ihr zuflüsterte, dass er sie beobachtete, zischte sie mir zu, still zu sein, als würde es erst wahr, wenn man es laut aussprach. Bei seiner dritten Umkreisung kam er uns zu nah.

Der Junge hatte vor uns kehrtgemacht und radelte wieder auf uns zu. Er raste die staubige Straße hinunter und wurde erst langsamer, als er sich uns näherte. Shahla schaute ihn noch immer nicht an und verzog wütend das Gesicht.

»Parwin! Pass auf!«

Bevor ich Parwin aus dem Weg stoßen konnte, rollte unser Verfolger über eine Getränkedose, die auf der Straße lag. Er schwankte hin und her und riss dann den Lenker herum, um einem streunenden Hund auszuweichen. Das Fahrrad raste direkt auf uns zu. Der Junge riss Augen und Mund auf und kämpfte um sein Gleichgewicht. Dann streifte er Parwin und stürzte über die Stufen vor einem Laden für Trockenobst.

»Bei Allah!«, rief Parwin, die ganz aus dem Häuschen war. »Schaut nur! Es hat ihn glatt umgehauen!«

»Glaubst du, er ist verletzt?«, fragte Shahla. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als hätte sie nie etwas Erschütternderes gesehen.

»Parwin, dein Rock!« Mein Blick war von Shahlas besorgtem Gesicht zu Parwins zerrissenem Saum gewandert. Die Drähte, mit denen der Junge die alten Speichen repariert hatte, hatten sich in Parwins Kleid verfangen, als er sie gestreift hatte.

Sofort brach Parwin in Tränen aus – es war ihre neue Schuluniform. Wir wussten, wenn Madar-jan das unserem Vater erzählte, dann mussten wir daheim bleiben und durften nicht mehr in die Schule gehen. Es wäre nicht das erste Mal.

»Warum schweigt ihr alle, wenn ich euch etwas frage?«, verlangte Madar-jan zu wissen. »Habt ihr denn gar nichts zu eurer Verteidigung zu sagen? Erst kommt ihr zu spät, und dann seht ihr auch noch aus, als hättet ihr Hunde durch die Straßen gejagt!«

Shahla hatte schon oft für uns gesprochen und sah verzweifelt aus, und Parwin war wie immer ein Nervenbündel, sie fummelte nur an ihrem Kleid herum. Dann, bevor ich überhaupt wusste, was ich eigentlich sagen wollte, hörte ich plötzlich meine eigene Stimme.

»Madar-jan, es war nicht unsere Schuld! Da war dieser Junge auf dem Fahrrad, und wir haben ihn ignoriert, aber er ist immer wieder zurückgekommen, und ich habe ihn angeschrien. Ich habe ihm gesagt, er sei ein Dummkopf, wenn er nicht den Weg nach Hause kennt.«

Parwin konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Madar-jan funkelte sie tadelnd an.

»Ist er euch zu nahe gekommen?«, fragte sie und drehte sich zu Shahla um.

»Nein, Madar-jan. Ich meine, er war ein paar Meter hinter uns. Er hat kein Wort gesagt.«

Madar-jan seufzte und legte die Hände an die Schläfen.

»Schön. Macht, dass ihr reinkommt, und setzt euch an die Hausaufgaben. Wir werden ja sehen, was euer Vater dazu sagt.«

»Du wirst es ihm sagen?«, rief ich entsetzt.

»Natürlich werde ich es ihm sagen«, antwortete Madar-jan und schlug mir auf den Po, als ich an ihr vorbei ins Haus ging. »Wir haben noch nie etwas vor eurem Vater verheimlicht, und wir fangen jetzt nicht damit an!«

Während wir in unsere Hefte kritzelten, unterhielten wir uns darüber, was Padar-jan wohl sagen würde, wenn er nach Hause kam. Da hatte Parwin eine Idee.

»Ich glaube, wir sollten Padar sagen, dass unsere Lehrerinnen von diesen Jungs wissen und dass sie schon Ärger bekommen haben. Sie werden uns nicht mehr belästigen«, schlug sie eifrig vor.

»Parwin, das wird nicht funktionieren. Was willst du denn sagen, wenn Madar-jan Khanum Behduri fragt, ob das stimmt?« Shahla war wie immer die Stimme der Vernunft.

»Nun, dann sagen wir eben, dass es dem Jungen leidgetan hat und dass er versprochen hat, uns nie mehr zu belästigen. Oder dass wir uns einen anderen Schulweg suchen werden.«

»Schön, Parwin. Sag du ihm das. Ich bin es ohnehin leid, ständig für euch zu sprechen.«

»Parwin wird gar nichts sagen. Sie spricht nur, wenn niemand zuhört«, erklärte ich.

»Wirklich lustig, Rahima. Du hältst dich wohl für besonders tapfer. Mal sehen, ob du auch noch so mutig bist, wenn Padar-jan nach Hause kommt«, schmollte Parwin.

Und ich war in der Tat keine sonderlich tapfere Neunjährige mehr, als wir Padar-jan schließlich gegenüberstanden, im Gegenteil. Verzweifelt versuchte ich, meine Gedanken hinter meinen geschürzten Lippen zu verstecken, doch das blieb nicht unbemerkt. Zu guter Letzt beschloss Padar-jan, uns wieder aus der Schule zu nehmen.

Wir bettelten und flehten ihn an, uns wieder gehen zu lassen. Eine von Parwins Lehrerinnen, eine Freundin von Madar-jan aus Kindertagen, kam sogar in unser Haus und versuchte, mit unseren Eltern zu reden. In der Vergangenheit hatte Padar-jan stets nachgegeben, doch diesmal nicht. Er wollte zwar, dass wir in die Schule gingen, doch er war um unsere Sicherheit besorgt. Und was sollten die Leute denken, wenn sie sahen, wie die Jungs seine Töchter durch die Straßen jagten?

»Hätte ich einen Sohn, dann würde all das nicht passieren! Verdammt nochmal! Warum nur haben wir ein Haus voller Mädchen? Nicht eins, nicht zwei … nein … fünf!«, rief er dann immer, und Madar-jan konzentrierte sich auf ihre Hausarbeit, während die Last der Enttäuschung auf ihren Schultern ruhte.

Und zurzeit war Padar-jan noch launischer als sonst. Madar-jan ermahnte uns stets, leise und respektvoll zu sein. Sie erzählte uns, Padar-jan seien viele schlimme Dinge passiert und das mache ihn sehr wütend. Sie sagte, wenn wir uns gut benehmen...