Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle am Lebensende - Eine Untersuchung bei Schweizer Ärztinnen und Ärzten zum Informations- und Sterbehilfeverhalten

von: Susanne Fischer

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2008

ISBN: 9783531909417 , 221 Seiten

Format: PDF

Kopierschutz: DRM

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Preis: 36,99 EUR

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Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle am Lebensende - Eine Untersuchung bei Schweizer Ärztinnen und Ärzten zum Informations- und Sterbehilfeverhalten


 

1 Arzt-Patient und Sterben (S. 12)

Die Medizinsoziologie setzt sich vorwiegend mit der Medizin als Institution, die Gesundheit wiederherstellt, auseinander. Fragen zur Sterbehilfe und zur Situation am Lebensende allgemein lässt sie weitgehend außer Acht (Knoblauch &, Zingerle, 2005, S. 11, Streckeisen, 2001, S. 67). Aus diesem Grund ist es verständlich, dass sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Sterbehilfe, insbesondere Konzepte und Theorien dazu, fast vollständig fehlen (Feldmann, 2002a). Wer den Fragekomplex Sterbehilfe untersuchen will, sieht sich somit gezwungen, auf Konzepte und Theorien aus benachbarten Forschungsgebieten sowie auf Ergebnisse aus empirischen Studien zur Sterbehilfe, die von Forschenden außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften durchgeführt wurden, zurückzugreifen.

Das vorliegende Kapitel geht auf Konzepte, Theorien, Studienergebnisse und empirische Evidenzen zur Arzt-Patienten-Beziehung sowie zum Sterben ein, bevor im nächsten Kapitel der Forschungsstand zur Sterbehilfe dargestellt wird.

1.1 Arzt und Patient

Mein Forschungsinteresse gilt primär dem ärztlichen Umgang mit Sterbehilfe und der Interaktion zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient, so dass es sich aufdrängt, zunächst die Arzt-Patienten-Beziehung zu untersuchen. Ausgangspunkt meiner Darlegungen bildet die klassische Arzt- und Patientenrolle nach Parsons (1952, 1964a, 1964b, 1964c).

Parsons Konzept der Rollenstrukturen dient in der vorliegenden Arbeit als theoretisches Modell, in das Teilfragestellungen eingebettet werden, wobei dieses Modell im Verlauf der Arbeit um zusätzliche Aspekte, die für den wissenschaftlichen Umgang mit Sterbehilfe von Bedeutung sind, erweitert wird.

Im Anschluss an Parsons klassische Arzt- Patienten-Beziehung, die teilweise als patemalistisch kritisiert wird (z.B. Scheibler et al., 2003), sollen einige der in den letzten Jahrzehnten empirisch feststellbaren Veränderungen in der Arzt-Patienten-Beziehung aufgezeigt werden sowie deren Gründe zur Sprache kommen. Diese Veränderungen äußern sich u.a. darin, dass die wissenschaftliche Literatur der Partizipation von Patientinnen und Patienten am Entscheidungsprozess sowie dem Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient wachsende Bedeutung beimisst (z.B. Charles, Gafni &, Whelan, 1997).

Daher werden im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels theoretische Modelle sowie Forschungsergebnisse zum Informationsverhalten sowie zum Entscheidungsprozess im Vordergrund stehen, wobei den Determinanten der Arzt-Patienten-Kommunikation besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diese Themenbereiche sind deshalb von Interesse, weil sich einige meiner Teilfragestellungen auf das Informationsverhalten gegenüber Sterbenden sowie auf die Rolle von Patientin/Patient, Ärztin/Arzt und Angehörigen bei Sterbehilfeentscheiden beziehen, in der Sterbehilfeforschung aber entsprechende Konzepte oder Forschungsergebnisse bisher weitgehend fehlen.

1.1.1 Die klassische Arzt- und Patientenrolle

Das klassische Konzept der Arzt- und Patientenrolle geht zurück auf Talcott Parsons (1902-1972), welcher als Hauptvertreter der strukturfunktionalistischen Handlungstheorie sowie als Begründer der Medizinsoziologie gilt (Parsons, 1952, 1964a, 1964b, 1964c, 1965a, 1965b, 1965c).

Ziel seiner Arbeit war es, eine einheitliche Theorie des menschlichen Handelns zu schaffen, wobei für ihn die Frage im Zentrum stand, wie soziales Handeln strukturiert sein muss, damit es für den Bestand einer Gesellschaft wichtige Funktionen erfüllen kann. Die strukturfunktionalistisch orientierte Theorie weist Professionen eine Rationalitätssteigerungsfunktion zu. Professionen werden als notwendiger Bestandteil modemer Gesellschaften gesehen, die diese funktionstüchtig erhalten, indem sie die für eine Gesellschaft wichtigen Werte verwalten (Parsons, 1965a).