Die Stimme der Jägerin

von: Thea Harrison

LYX, 2014

ISBN: 9783802592973 , 130 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 3,99 EUR

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Die Stimme der Jägerin


 

1


Die Tiefen


Claudia hatte nicht erkannt, dass es sich bei dem beträchtlichen Hügel auf dem Seitenstreifen des Highways um ein Lebewesen handelte. Nicht auf Anhieb.

Mit fast hundertachtzig Stundenkilometern fuhr sie auf der I-80W durch ein einsames Stück Nevada. Die Weiten der Wüste waren mit Flecken in Lindgrün, silbrigem Sandbraun, Gold und Beige übersät und von dunklen, schneebedeckten Bergen umringt. Der Himmel spiegelte das Land in riesigen Schwaden silbern umrandeter Wolken. Die windgepeitschte Stille war gewaltig, brutale Hitze strahlte von der durchdringend gelblichweißen Nachmittagssonne herab und stieg brodelnd vom Straßenbelag auf. Angeblich trafen sich in den Wüstenregionen der Erde die Dschinn zum Tanz.

Später hätte sie nicht mehr erklären können, warum sie angehalten hatte, um sich die Sache anzusehen. Sie war einfach einem Impuls gefolgt, auf die Bremse gestiegen und hatte gewendet. Auf dem Highway waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen, sie war das einzige Lebewesen weit und breit. Jedenfalls dachte sie das.

Claudias 1984er BMW kam neben der Erhebung zum Stehen. Beim näheren Hinsehen wurde ihr schwer ums Herz. Es war ein Hund, ein ungewöhnlich großer. Auch wenn sie sich mit Rassen nicht auskannte, war sie sicher, dass es sich um eine Haushund-Art handeln musste. Ein Wolf oder Kojote war es gewiss nicht. Der leblose Körper war muskulös, er hatte eine breite, kräftige Brust, einen langen, schweren und dennoch eleganten Knochenbau und einen stattlichen, wohlproportionierten Kopf. Der Hund hatte entsetzliche Verletzungen erlitten. Sein Hals war dick angeschwollen, sein dunkelbraunes und schwarzes Fell mit großen Schürfwunden übersät.

Claudia fragte sich, was er hier mitten in der Wüste machte. Hatte ihn jemand angefahren, oder war er ungesichert auf der Ladefläche eines Transporters mitgefahren und herausgefallen? Womöglich beides. Sie hoffte, dass er schnell gestorben war.

Eine seiner riesigen Vorderpfoten zuckte.

Noch bevor ihr Gehirn kapierte, was ihr Körper tat, rammte sie den Schalthebel des BMW in die Parkposition und griff nach ihrer Wasserflasche. Als sie aus dem Wagen stürzte, fiel die Abschirmung, die sie so mühsam aufgebaut hatte, von ihr ab. Sie durchschritt eine unsichtbare Barriere, um ganz in ihre Umgebung einzutauchen und mit ihr in Kontakt zu treten.

Neben dem Hund fiel sie auf die Knie. Von wegen »ungewöhnlich groß« – er war riesig. Sie wusste zwar nur wenig über Hunde, aber doch so viel, dass nur wenige Rassen eine solche Größe erreichten. Er war größer als ein Deutscher Schäferhund und zu schwer für eine Dänische Dogge, also musste es sich um eine andere Doggenart handeln. Verdammt, er war nicht nur am Leben, es sah sogar aus, als wäre er bei Bewusstsein. Sein keuchender Atem ging schnell und flach, die Zunge hing ihm aus dem offenen Maul. Die Augen hatte er geschlossen, und die Muskeln im Bereich der Augenhöhlen waren vor Schmerzen angespannt.

»Gütiger Himmel.« Der Wind, der über die kilometerweite Einsamkeit hinwegfegte, riss ihr die Worte von den Lippen und trug sie davon.

Vorsichtig schob sie dem Hund eine Hand unter den Kopf, hob ihn an und versuchte ihm ein wenig Wasser ins Maul zu träufeln. Er hatte gefährliche Beißerchen – kräftige weiße Zähne, so lang wie ihre Finger. Es war schwierig zu sagen, ob er das Wasser überhaupt bemerkte. Sie glaubte es nicht.

Claudia war ein wenig größer als die Durchschnittsfrau und wog zwischen siebzig und zweiundsiebzig Kilo. Der Hund war sicherlich um die Hälfte schwerer als sie, vielleicht hundert oder hundertzehn Kilo. Eine normale Menschenfrau hätte keine Chance gehabt, ein solches Gewicht auf den Rücksitz ihres Wagens zu hieven. Aber Claudia war keine normale Menschenfrau.

Sie besaß magische Energie, die sich in Form einer telekinetischen Gabe manifestierte, aber es war nur ein kleiner Funke, weshalb sie das, worauf sie diese Gabe anwenden wollte, stets berühren musste. Wenn jemand dicht genug bei ihr stand, brachte sie ein bisschen Telepathie zustande, und vielleicht reichte dieser Funke aus, um ein Anderland zu betreten – einen jener Orte voller Magie, die sich bei der Entstehung der Erde gebildet hatten, als Raum und Zeit Falten geworfen hatten. Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Sie wusste es nicht und hatte es nie ausprobiert.

In Sachen Telekinese war ihre magische Energie oder Begabung nicht besonders ausgeprägt, aber sie ermöglichte ihr ein paar ganz interessante Dinge. Zum einen könnte sie ihre körperliche Kraft steigern, sodass sie den Hund vielleicht auf den Rücksitz heben konnte. Allerdings waren seine Verletzungen so schwer, dass sie ihn bei dem Versuch wahrscheinlich umbringen würde.

Sie dachte an ihre.40er Glock. Die Pistole lag im Kofferraum, zusammen mit ihrem Koffer und der Campingausrüstung. Sie kannte die Wirkung einer gut gezielten Kugel, im Guten wie im Schlechten. Ein Schuss, ein Toter, wie der Scharfschütze in ihrer Einheit zu sagen gepflegt hatte. In diesem Fall wäre es ein Akt der Gnade gewesen, den Hund von seinem Elend zu erlösen. Der Tod konnte nur besser sein als dieses langsame, einsame Dahinsiechen in der Wüste.

Ja, vielleicht wäre es das Gnädigste gewesen, ihn zu erschießen, und doch wehrte sich alles in ihr gegen diesen Gedanken. Sie schob den Unterkiefer vor. Wenn das Tier nicht starb, würde sie dafür sorgen, dass es … mit einem scharfen Blick stellte sie fest, dass der Hund männlich und unkastriert war. Es war ein Er. Sie würde dafür sorgen, dass er Hilfe bekam.

Nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte, handelte sie schnell. Sie durchwühlte ihre Segeltuchtaschen mit den Campingutensilien im Kofferraum, bis sie die Bodenplane fand. Diese faltete sie so zusammen, dass der Hund darauf liegen konnte und noch genug Platz blieb, um die Ecken anzufassen. Dann legte sie die Plane neben dem Hund auf den Boden.

Die nächsten zehn Minuten kamen ihr vor wie ein zweijähriger Kampfeinsatz. Die Qualen des Hundes waren wie ein Schwerefeld, das sie an sein Leid kettete. In winzigen, stechenden Körnchen peitschte ihr der Wind sengend heißen, weißen Sand ins Gesicht und auf die nackten Arme. An den Wundrändern hatte der Sand eine Kruste gebildet, doch als Claudia den Hund bewegte, öffneten sich die Wunden wieder. Leuchtend rotes Blut trat hervor und troff über die hellen Elfenbein- und Goldtöne des verkrusteten Sands. Normalerweise sahen diese beiden Farben wunderschön nebeneinander aus.

Mit wahllosen aufmunternden Worten redete sie auf den Hund ein und trainierte ihr umfangreiches Vokabular an Schimpfwörtern, während sie ihre Bein- und Rückenmuskulatur sowie ihre Telekinese bis an die Schmerzgrenze belastete. Endlich schaffte sie es, ihn auf die Plane und dann auf den Rücksitz zu schieben.

Im schlimmsten Moment öffnete der Hund die Augen und sah sie an. Die Intelligenz und der grelle Schmerz in seinem Blick bohrten sich wie Speere in Claudias Herz. Als sie endlich wieder auf den Fahrersitz sank, musste sie sich die Hände abwischen und die Augen reiben, bevor sie wieder klar genug sehen konnte, um den Motor anzulassen.

Der Hund war nicht gestorben.

Keine zwei Minuten später tauchte hinter ihr mit Blaulicht ein Streifenwagen der County Patrol auf.

Claudia hielt am Straßenrand an, ließ das Fenster herunter und schob sich ihre Ray-Ban in die Haare, während sie einen grauhaarigen Mann in einer kurzärmligen braunen Uniform auf ihren Wagen zukommen sah. Gute Laune und Freundlichkeit hatten ihre Spuren in seinem scharf geschnittenen, lächelnden Gesicht hinterlassen. Mit einer Hand stützte er sich auf ihrer Tür ab.

»Sie haben da einen ziemlich gut gepflegten Motor unter der Haube«, sagte er. »Ich habe Sie mit zweihundert Sachen erwischt.«

Sie reichte ihm ihren New Yorker Führerschein und die Fahrzeugpapiere. Das Foto auf dem Führerschein zeigte eine hagere, sportliche, vierzigjährige Frau mit glatten, aschblonden, schulterlangen Haaren, grünen Augen, eleganten Gesichtszügen und einer leicht schiefen Nase, die sie sich damals in Kandahar gebrochen hatte. Der Blick des Mannes wanderte von dem Führerschein zu ihrem Gesicht.

Sie sagte: »Wie Sie sehen, bin ich nicht aus dieser Gegend, und ich habe einen schwer verletzten Hund auf dem Rücksitz. Können Sie mir sagen, wie ich zur nächsten Tierklinik oder zum nächsten Tierarzt komme? Oder noch besser, können Sie vorausfahren und den Strafzettel anschließend ausstellen?«

Mit flinken dunklen Augen sah der Mann auf den Rücksitz. Claudia konnte eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck beobachten. »Gehört das Tier Ihnen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hab ihn vor ein paar Kilometern am Straßenrand gefunden.«

Er blickte auf ihr schmutz- und blutverschmiertes T-Shirt und die Cargo-Hose. »Haben Sie ihn allein in den Wagen gekriegt?«

»Ja.«

»Wie haben Sie das geschafft?«

Die Haut um ihre Lippen spannte sich. »Adrenalin, schätze ich.«

Mit ernstem Blick sah er ihr in die Augen. »Vielleicht wäre es am humansten, wenn ich ihn erschieße.«

Er hatte die Hand schon auf die Waffe gelegt. Etwas in Claudia wurde kalt und starr. Ihre Hände krampften sich um das Lenkrad. Rückblickend war es eine dumme Idee gewesen, ihre Waffe im Kofferraum zu verstauen.

»Vielleicht.« Sie achtete darauf, dass ihre Stimme sanft und gleichmäßig klang. »Der Gedanke war mir auch schon gekommen. Aber das wäre nicht fair. Er hat viel durchgemacht, um es bis hierher zu schaffen. Und...