Eisige Versuchung - Roman

von: Sandra Henke

Heyne, 2013

ISBN: 9783641088804

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Eisige Versuchung - Roman


 

Erstes Kapitel

Weißes Wunder

»Was zur Hölle ist das?« Shade Mallory bog auf Höhe des Bridgeport Reservoirs von der Sweetwater Road in einen Waldweg ein, wendete ihren Geländewagen und parkte an der Straße. Staunend neigte sie sich vor, spähte durch die Frontscheibe ihres SUV und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.

Sie sah es mit eigenen Augen und konnte es dennoch kaum glauben.

Um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, ließ sie das Seitenfenster herunter. Sie lauschte dem Rascheln des Herbstlaubes, lehnte sich heraus und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Wie viel Grad mochten es hier, wo sie stand, sein? Vielleicht fünfzehn?

Somit betrug es fünfzehn Grad mehr als auf der anderen Seite des Staudamms.

Am Morgen war Shade in einer kleinen Maschine von Los Angeles zum Bryant-Field-Flughafen geflogen, hatte sich dort einen Wagen gemietet und war zur Pension Wild Goose gefahren, um ihr reserviertes Zimmer zu beziehen. Ein langärmeliges T-Shirt hatte an diesem goldenen Oktobertag gereicht. Doch bei dem, was sie hier sah, war sie froh, ihre Skijacke auf den Rücksitz gelegt zu haben.

»Verrückt!« Fasziniert keuchte Shade. Dort hinter dem Bridgeport Reservoir schneite es. Und nur dort! Ein Vorhang aus dicken, träge zur Erde schwebenden Schneeflocken hüllte den Mount Jackson ein. Selbst der künstliche See am Fuße des Berges war zur Hälfte gefroren. Während sich hin und wieder das Wasser in der Nähe des Ufers, an dem die Sweetwater Road von Bridgeport zum Murphy Pond entlangführte, kräuselte, weil eine Forelle dicht unter der Oberfläche schwamm, bedeckte gegenüber eine Eiskruste die Randzone.

Shade rieb sich die Augen. Auf dieser Seite des Dammes, der den Walker River am Ostarm staute, herrschte noch Herbst, während der Winter den Mount Jackson bereits fest in der Hand hatte, als würde der Berg in einem anderen Landkreis als dem Mono County liegen.

»Das ist nicht normal!« Sie war im Mammuth Hospital Bridgeport geboren, hatte die ersten zehn Jahre ihres Lebens in der Sierra Nevada verbracht und kannte daher das Wetter im Tal aus erster Hand.

Ein Fremder, zudem wenn er aus dem fernen L.A. stammte, mochte den frühzeitigen Winterbeginn unter »Wetterkapriolen« verbuchen. Tsunamis an den Küsten Asiens waren keine Jahrhundertphänomene mehr. Die Erdbeben in Europa nahmen an Stärke zu. Immer mehr Tornados jagten über den Mittleren Westen der USA hinweg. Vulkanausbrüche auf Hawaii, auf Island und in Chile traten häufiger als zuvor auf. Da waren ein paar vorzeitige Schneeflocken nicht weiter beachtenswert, so schien es.

Shade konnte das Desinteresse ihrer Kollegen verstehen, aber ihre persönliche Erfahrung und ihr Bauchgefühl hatten sie dennoch hierhergeführt. »Wenn ihr das hier sehen könntet, würdet ihr eure Meinung ändern.«

Mühsam hatte sie ihre Vorgesetzte Socorro »Sonny« LaMotta dazu überreden müssen, sie ins Hochgebirge an der Grenze der Staaten Kalifornien und Nevada reisen zu lassen. Sonny hatte Shade zwei Tage zugestanden, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, aber diese gigantische Wolke, aus der es unablässig auf den Mount Jackson schneite, sicherte ihr mindestens eine ganze Woche zu.

Aufgeregt nahm sie ihre Kamera aus der Fototasche, die neben dem Koffer mit den Messgeräten auf dem Beifahrersitz lag, und schoss ein paar Bilder, um sie Sonny zu mailen, sobald sie zurück in der Pension wäre. An manchen Stellen wirkten die Schneeflocken wie ein weißer Perlenvorhang.

Shade legte den Fotoapparat weg, startete ihren Wagen und lenkte ihn auf die Sweetwater Road zurück. Neugierig fuhr sie schneller als erlaubt die Route 182 hoch bis zum Staudamm. Während sie noch überlegte, wie sie ihren Großeltern erklären sollte, dass sie nicht bei ihnen, sondern im Gasthof Wilde Goose übernachtete, parkte sie den SUV inmitten einer Winterlandschaft auf einem Pfad, den eigentlich nur die Ranger benutzen durften.

Natürlich bestand die Möglichkeit, sich gar nicht bei ihren Großeltern zu melden, aber das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem kannte in der kleinen Gemeinde fast jeder jeden. Shade hatte keine Ahnung, wie viele Menschen aktuell in Bridgeport lebten, aber es war bekannt, dass die Einwohnerzahl seit der Jahrtausendwende stetig zurückging. Zurzeit konnten es nicht mehr als sechshundert Einwohner sein. Womöglich wussten Maud und Albert Grimes, den alle in der Familie nur Baba nannten, jetzt schon, dass ihre Enkelin sich im Ort aufhielt.

Aber Shade konnte nicht bei ihnen wohnen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass Kid Boyd mit seinen Eltern im Haus nebenan gelebt hatte. Es würde schon schwer genug werden, ihre Großeltern zu besuchen. Selbst nach all den Jahren spürte Shade einen Stein im Magen, wenn sie nur an Kid dachte. Sie war fest davon ausgegangen, dass Mr. und Mrs. Boyd wegziehen würden, nach dem, was vorgefallen war, aber das hatten sie zu Shades Überraschung nicht getan. Bei jedem Besuch stahl sie sich an ihren Fenstern vorbei und hoffte, sie nicht auf der Straße zu treffen. Immer wenn sie mit Maud und Albert zusammensaß, hatte sie den Eindruck, dass alle es tunlichst vermieden, das Gespräch auf Kid zu lenken, auch ihre Eltern oder Nachbarn, wenn diese den Treffen beiwohnten. Besuche bei ihren Großeltern liefen stets verkrampft ab.

Kid Boyd hing wie ein Damoklesschwert über Shades Kopf, wenn sie in Bridgeport weilte. Ein Grund mehr, weshalb sie nie lange blieb und rasch nach L.A. zurückreiste.

Ein weiterer waren die Abgeschiedenheit und das Kleinbürgertum. Sie nahm ihre Wollmütze und schaute in den Rückspiegel. Vorsichtig zog Shade sie an, wusste aber jetzt schon, dass ihre kurzen schwarzen Haare, an denen sie am Morgen kunstvoll so lange herumgezupft hatte, bis sie aussahen, als käme sie frisch aus dem Bett, später am Kopf kleben würden. Seufzend schob sie einige Strähnen unter die Mütze. Am Vortag hatte sie sich ihren Schopf rot getönt, aber er hatte die Farbe nicht intensiv genug angenommen, sodass er nur rötlich schimmerte. Sie befeuchtete ein Papiertaschentuch und wischte unter ihren Augen entlang, weil ihr schwarzer Kajal verschmiert war.

»Kriegsbemalung«, so nannte ihr Dad es, wenn sie sich übermäßig schminkte. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Warum war sie ausgerechnet am Vortag auf die Idee gekommen, sich ihre Stachelfrisur blutrot zu färben? Am Morgen hatte sie doppelt so viel Wimperntusche wie üblich aufgetragen und ihr größtes Augenbrauenpiercing – eine Banane mit einem Gecko aus Titan, der über ihre Stirn zu laufen schien – ausgewählt.

»Um zu rebellieren wie ein bockiger Teenager.« Sie schnaubte und löste den Gurt. »Wieso musstest du unbedingt herkommen, wenn du eine solche Abneigung empfindest?«

Wie ein Verbrecher, der an den Tatort zurückkehrte. Stöhnend massierte Shade ihren Nacken. Sie war verspannt, nicht nur vom Fliegen, sondern auch, weil sie wieder einmal schlecht geschlafen hatte. Nachts hielt das Rauschen des Verkehrs, das die Großstädter nicht einmal wahrnahmen, sie oft stundenlang wach.

Es wurde langsam kalt im Wageninneren. Shade zog ihre Skijacke an und murmelte vor sich hin: »Das ist deine Chance, Mallory, nutze sie! Lass dich nicht von deiner Angst kontrollieren, sondern kontrolliere deine Angst!«

Wie vor zwei Jahren, als ein Mann sie nachts in eine Seitengasse gedrängt und ihre Geldbörse verlangt hatte. Obwohl er ein Messer in der Hand hielt, hatte sie weit ausgeholt und ihn mit ihrer Laptop-Tasche geschlagen. Aus Wut oder Panik, sie wusste es selbst nicht, hieb sie ihm die Tasche mit den Weinflaschen über den Kopf, was ihn endgültig zu Fall brachte. Danach lief sie weg – aus Furcht, aber auch, weil es ihr unangenehm war, den Cops gegenüber zuzugeben, dass sie so viel Alkohol bei sich trug. Nach diesem schrecklichen Erlebnis besuchte sie einen Selbstverteidigungskurs und gab es augenblicklich auf, ihre Schlafprobleme mit Spirituosen zu bekämpfen.

Als Kind war sie stundenlang durch die Wälder in Bridgeport gestreift. Oft mit Kid zusammen. Seitdem sie jedoch nach L.A. gezogen war, war sie nur in den Wald gegangen, wenn ihr Job es verlangte.

»Sonny!«, fiel es Shade wieder ein. Sie musste ihre Chefin dringend anrufen und einen ersten Bericht erstatten. Aber erst wollte sie ein Stück weit den Hügel hochmarschieren und von einer Anhöhe inmitten des Schnees ein Foto von dem sonnigen Tal schießen.

»Tief durchatmen! Du willst schließlich endlich bessere Jobs zugeteilt bekommen.« Sie wickelte ihren Schal eng um ihren Hals, hängte sich die Kamera um und zog ihre Handschuhe an.

Shade war froh gewesen, als Socorro LaMotte ihr die Stelle gegeben hatte, denn sie hatte zwar ihr Meteorologie-Studium abgeschlossen, aber ihre Noten ließen zu wünschen übrig. Monatelang war sie Klinken putzen gegangen, hatte sich sogar in Seattle und Florida beworben. Vergeblich. Allein in ihrem Studienjahr waren die meisten Absolventen weitaus besser gewesen als sie. Wahrscheinlich hatte Sonny sie nur eingestellt, weil sie billig gewesen war und sie jemanden für die unwichtigen Aufgaben brauchte. Damit musste Shade leben.

Ein Jahr lang war ihr das egal gewesen,...