Seelenkuss - Unwiderstehlich romantische Dark Fantasy

von: Lynn Raven

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2013

ISBN: 9783641129699 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Seelenkuss - Unwiderstehlich romantische Dark Fantasy


 

3

Feiner Staub tanzte in den dünnen Lichtstreifen, die durch die schmalen Spalten in den Raum fielen, an denen die schweren Vorhänge zusammenstießen. Ein wenig erstaunt blinzelte Darejan in das Halbdunkel. Warum sperrte ihre Schwester die wärmenden Sonnenstrahlen aus dem Studierzimmer des vor einigen Mondläufen verstorbenen Hofmagicus aus, wenn dies doch der Raum war, in dem sie sich in letzter Zeit beinah häufiger aufhielt als in ihren eigenen Gemächern?

»Seloran, bist du hier?« Stille antwortete ihr. Darejan runzelte leicht die Stirn. Nun gut. Sie sollte in der Lage sein, die Kräuter für Nian auch ohne Selorans Hilfe zusammenzustellen. Mit energischen Schritten durchquerte sie den Raum und zog die Vorhänge mit einem Ruck beiseite. Sofort flutete warmes Gold durch die hohen Fenster und ließ die Wandtäfelung aus poliertem Jedraholz wie mattes Kupfer glänzen.

Heute Morgen war Nian bleich und schwach aufgewacht. Dunkle Ringe unter den Augen hatten das hübsche Gesicht der jungen Magd verunziert und sie war so matt und entkräftet gewesen, dass Darejan sie voller Sorge in ihre Kammer geschickt hatte, damit sie sich ausruhte. Sie hatte sogar den königlichen Heiler zu Nian befohlen. Während der Mann sich um die Magd kümmerte, hatte sie seinen Platz an Réfens Bett eingenommen.

Ein Herzanfall! Sie konnte es noch immer nicht glauben. Réfen stand gerade erst in seinem neunundzwanzigsten Jahreslauf. Sein blasses Gesicht auf den Kissen, die schwachen Atemzüge, unter denen seine Brust sich langsam hob und senkte – Réf war in seinem ganzen Leben noch nie ernsthaft krank gewesen, und ihn jetzt so sehen zu müssen, hatte ihr wehgetan. Dass ein Verband aus weichem Leinen um seinen Kopf geschlungen war, da er sich obendrein eine Wunde an der Stirn zugezogen hatte, als er bewusstlos zusammengebrochen und gegen eine Mauerkante geschlagen war, ließ ihn nur noch verletzlicher erscheinen. Sie machte sich immer noch Sorgen um ihn, obwohl der Heiler ihr mehrfach versichert hatte, dass Hauptmann Réfen sich nach ein paar Tagen strengster Bettruhe und anschließend mindestens einem Viertelmond Schonung wieder vollständig erholen würde. Auch wenn einige Adelige der Meinung waren, der Hauptmann der Garde sei kein angemessener Umgang für eine Prinzessin der Korun, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie Réfen gernhatte. Immerhin waren sie aufgewachsen wie Bruder und Schwester.

Der Heiler war schließlich mit der Nachricht zurückgekehrt, dass Nian an einer seltsamen Schwäche litt, die auch schon zwei von Selorans Pagen befallen hatte, für die er aber keinen Grund finden konnte. Entsprechend vermochte er nichts zu tun, außer den Betroffenen Ruhe zu verordnen. Und dann hatte der Kerl doch tatsächlich die Unverschämtheit besessen, sie aus Réfens Gemach zu werfen, da ihre Anwesenheit im Zimmer eines kranken und obendrein halb nackt im Bett liegenden Mannes seiner Meinung nach äußerst ungehörig sei. Halb nackt! Pah! Réf trug ein Hemd und war bis zum Kinn zugedeckt – und außerdem hatte sie ihn schon mehr als einmal mit bloßer Brust und nur in seiner Hose gesehen. Wäre da nicht Nians unerklärliche Schwäche gewesen, hätte sie sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Heiler eingelassen. So war sie unter Protest gegangen.

Während sie an den fleckigen und zerkratzten Arbeitstisch unter einem der Fenster trat, schlüpften ihre Finger, ohne dass sie es bemerkte, unter ihre weiten Gewandärmel und rieben gedankenverloren über die hauchdünne Oberfläche ihrer Unterarmflossen. Ebenso wie die drei zu beiden Seiten des Halses schräg nach hinten aufwärtslaufenden Kiemennarben, die bei den Frauen ihres Volkes weniger stark ausgeprägt waren als bei den Männern, waren sie ein Erbe ihrer Vorfahren, die vor unzähligen Jahresläufen im Meer gelebt hatten. Sie reichten vom Handgelenk bis zum Ellbogen hin, liefen schräg nach obenhin aus und waren mit silbrigregenbogenfarben glänzenden Schuppen bedeckt, die sich ein kleines Stück auf die Haut zu beiden Seiten des Flossenansatzes fortsetzten. Als ihr bewusst wurde, wohin ihre Finger sich wieder verirrt hatten, zog sie die Hände hastig aus den Ärmeln. Die meisten adeligen Korun verbargen ihre Unterarmflossen unter eleganten Stulpen aus zartem Stoff, weil es als liederlich galt, wenn ein Mann die Unterarmflossen einer Frau sah – oder am Ende gar berührte. Darejan hatte diese Enge an den Unterarmen nie ertragen und sich die Stulpen heruntergezogen, sobald ihre Kinderfrau nicht hingesehen hatte. Was eigentlich ein filigranes, zartes Gewebe sein sollte, war deshalb bei ihr an den Rändern ausgefranst und mit schillernden Schuppen bedeckt, die sich an unzähligen kleinen Narben gebildet hatten, sodass ihre Unterarmflossen beinah so prächtig schimmerten wie die eines Mannes. Zugleich waren sie umso empfindsamer geworden, weshalb sie die eleganten Stulpen noch weniger ertrug. Wenn man nach den Maßstäben ihres Volkes ging, war das ein schwerer Makel für eine junge Frau – ein Makel, den auch der Umstand nicht aufwiegen konnte, dass sie die Schwester der Königin war. Mit einem Seufzen verdrängte sie die traurigen Gedanken und ließ ihren Blick über die ordentlich aufgereihten Tiegel, Töpfchen, Phiolen und kleinen Fläschchen vor sich schweifen. Auf dem Boden neben dem Tisch stand sogar eine hohe, mit Wein gefüllte Amphore, um eine Rezeptur auch mit etwas Stärkerem als Wasser ansetzen zu können. Erstaunlich, wie beinah übertrieben sorgfältig Seloran seit einiger Zeit das Studierzimmer, das gleichzeitig als Laboratorium diente, aufgeräumt hielt. Früher hatte es regelmäßig so ausgesehen, als sei ein Windgeist durch die Regale und über die Tische gefegt, wenn ihre Schwester hier einige Stunden verbracht hatte. Darejan strich sich eine Strähne aus der Stirn, drehte die lange schwarzsilberne Pracht zu einem Rosschweif zusammen, den sie im Nacken zu einem Knoten schlang, trat zu dem Schrank, hinter dessen geschliffenen Glastüren sich die kostbaren Folianten befanden, aus denen sie selbst unter Meister Fanerens Anleitung ihre ersten Elixiere zusammengestellt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen studierte sie die Titel auf den Buchrücken, bis sie fand, was sie suchte. Sie zog den schweren ledergebundenen Band hervor, legte ihn auf den Tisch, schlug die Seite auf, auf der die Rezeptur für Nians Medizin verzeichnet war, und machte sich an die Arbeit. Sehr schnell hatte sie die Ingredienzien bereitgestellt und begann, die Zutaten abzumessen.

Es war eine unbewusste Bewegung, mit der sie irgendwann den schweren Folianten ein Stück zur Seite schob, um etwas mehr Platz zu haben. Ein Scharren ließ sie den Kopf heben, sie sah einen wachsversiegelten Tiegel und eine tönerne Flasche mehr als eine Armlänge entfernt am Rand des Tisches schwanken, dann kippen. Ohne nachzudenken, hob sie die Hand, um den Fall der Gefäße mit ihrer Magie zu verhindern – und vergaß, dass sie es nicht mehr vermochte. Tiegel und Flasche zerbrachen mit einem misstönenden Krachen auf dem steinernen Boden, eine farblose Flüssigkeit lief in eine andere, fahlrote hinein und beinah im gleichen Atemzug schlugen Flammen empor. Einen Moment lang starrte sie erschrocken auf das brennende Gemisch, das träge über die Steine rann und schließlich hungrig nach einer Truhe aus altem, rissigem Holz und dem schweren Vorhang leckte, hinter dem diese halb verborgen stand. Wieder bewegte sich ihre Hand, ohne dass sie sich dessen richtig bewusst wurde – wieder ohne dass etwas geschah. Für einen kurzen Augenblick spürte sie nur Verzweiflung und Enttäuschung. Noch vor nur ein paar Tagen hätte es nicht mehr als dieser kurzen Geste bedurft, um das Feuer zu ersticken. Oder um zu verhindern, dass Tiegel und Flasche über die Tischkante kippten. Aber jetzt … Wie konnte sie sich noch länger eine Hexe nennen, wenn sie noch nicht einmal mehr in der Lage war, ein kleines Feuer mit Magie zu löschen. Der Geruch von brennendem Stoff riss sie aus ihrer Erstarrung. Hastig packte sie die Amphore und erstickte die Flammen unter einem Schwall Wein. Qualm stieg aus dem Vorhang auf. Die glänzende Feuchtigkeit versickerte in den Rissen des Deckels … Mit einem Fluch fiel sie auf die Knie und wischte hastig an dem Holz herum. Was auch immer in dieser Truhe war: Hoffentlich war nicht genug Wein hineingelangt, um es zu verderben! Seloran würde einen Vollmond kein Wort mit ihr sprechen, wenn sich darin irgendetwas Wichtiges befand, das jetzt ruiniert war. Ein letztes Zögern, dann sah sie sich nach etwas um, mit dem sie das altertümliche Schloss der Truhe öffnen könnte. Schließlich griff sie nach dem schmalen Dolch, den sie am Gürtel trug. Réfen hatte es ihr oft genug gezeigt, als sie noch Kinder gewesen waren. Tatsächlich schnappte der Bügel einen Moment später mit einem Knirschen auf und Darejan hob den Deckel der Truhe, fuhr mit der Hand über die Innenseite. – Alles war trocken. Erleichtert stieß sie die Luft aus, doch dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel das breite Rinnsal, das in den Ritzen und Löchern einer zerbrochenen Bodenplatte am Fuß der Kaminmauer versickerte. Nein! Die Sveti! In erschrockener Eile kroch sie zu den schadhaften Steinen hin und zwängte mühsam die Finger in die Spalten, um sie aus dem Boden zu lösen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass sie sich die Haut aufschürfte und die Nägel einriss. Die Sveti vertrugen keine Feuchtigkeit! Und eine kleine Gruppe der pelzigen Tiere lebte unter der zerbrochenen Steinplatte und in der Kaminmauer dahinter. Meister Faneren hatte die etwa handgroßen Geschöpfe mit dem Hornkamm, der sich von ihren schmalen Drachenschnauzen bis zur Spitze ihres...