Für immer mein - Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall

von: Joe Schlosser

Fuego, 2013

ISBN: 9783862871049 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Für immer mein - Bremen-Krimi: Mechthild Kaysers erster Fall


 

Anschließend saß Benjamin stundenlang am Fenster im zwölften Stock seines Hochhauses und starrte über die Stadt. Jetzt waren sie wirklich alle weg. Berta, die ihn nur benutzt hatte. Seine Mutter, die er innig geliebt und die ihn einfach im Stich gelassen hatte. Und nun sein Vater, der sich mit einem Schuss in den Kopf davongemacht hatte. Verluste war er sein ganzes Leben nun schon gewöhnt. Sie sollten ihn nicht mehr erschüttern. Sein Leben war nicht von Glück bestimmt; sein Wegbegleiter war das Leid. Das war ihm nun endgültig klargeworden. Und noch etwas anderes: Er wollte sein Leid nicht in sich hineinfressen. Er würde eines Tages davon etwas an alle zurückgeben. Er würde sich rächen.

Wut und die Lust zu töten stiegen zum ersten Mal in ihm hoch. Er fühlte sich stark, unglaublich stark, und war sicher, dass sich ihm niemand erfolgreich in den Weg stellen konnte. Wenn diese Wut losbrach, gab es für keinen ein Entrinnen. Mit einem aggressiven Ruck zog er den Koffer seines Vater unter dem Bett hervor. Sollte ihm doch ruhig noch etwas auf die geschundene Seele treten, dachte er aufgebracht. Er öffnete den Koffer und war völlig überrascht. Zu seinem Erstaunen lagen darin nicht irgendwelche Briefe und Ansichtskarten, sondern er war prall gefüllt mit Geldscheinen. Er klappte ungerührt den Koffer wieder zu. Dieses Geld wollte er nicht.

Am nächsten Tag mietete er ein großes Schließfach bei einer Bank auf dem Domshof und verstaute den Koffer dort.

Die einzelnen Berichte lagen bereit zur Verteilung auf dem Besprechungstisch der Mordkommission. Lediglich KHK Roder konnte noch nichts für alle kopieren, da er gerade erst direkt aus der Gerichtsmedizin gekommen war und mündlich berichten wollte.

Ayse Günher begann und erläuterte die Aussage von Thomas Brandt, dem Partyveranstalter, dem zuzutrauen war, dass er seine Veranstaltung „Tanz auf der Leiche“ genannt haben würde, wenn er von der Toten gewusst hätte. Alle anderen am Fundort Anwesenden waren bis jetzt eindeutig unverdächtig. Auch die personenbezogene EDV-Recherche hatte nichts zutage gebracht. Ayse erwähnte sicherheitshalber – den Hinweis ihrer Chefin nicht vergessend –, dass eine Beziehung Brandts zur Toten, ebenso wie bei den anderen, natürlich nicht ausgeschlossen werden konnte. Nach ihrer Identifizierung könnte sich noch einiges ergeben.

Heller machte es kurz und knapp. Der Immobilienmakler, der mit dem Verkauf der Halle beauftragt war, hatte diese schon lange nicht mehr in Augenschein genommen. Bis er Thomas Brandt das Gebäude für ein Wochenende vermietete. Heller erklärte, dass es dem Makler ziemlich unangenehm war, der Polizei Auskünfte zu geben, und vermutete, dass er die Miete von Brandt wahrscheinlich selbst in die Tasche gesteckt hatte, ohne die Eigentümer zu beteiligen.

Wenigstens stellte sich heraus, dass die Aussagen von Brandt mit denen des Maklers übereinstimmten. Und beide hatten bei ihrem Besichtigungstermin vor vier Wochen keine offene Grube mehr in Erinnerung.

„Das bedeutet, dass die Frau mindestens schon vier Wochen verschwunden sein muss“, stellte Mechthild Kayser fest und teilte das negative Ergebnis ihrer ersten Recherche in der Vermisstendatei mit. Dann erteile sie Roder das Wort.

KHK Roder sprach in einer kühlen, distanzierten, aber konzentrierten Art, die nicht ein einziges Anzeichen einer Gefühlsregung erkennen ließ. Er spulte die nackten Fakten, die er aus der Leichenschau mitgenommen hatte, monoton herunter. Demnach war die tote Frau etwa fünfzig Jahre alt, wahrscheinlich Anfang fünfzig. Sie schien eine Deutsche zu sein. Ihre Haare waren frisch blond gefärbt. Ihr Gebiss war bis auf eine Brücke, die einen fehlenden Backenzahn ersetzte, vollständig. Organisch war die Nichtraucherin auf den ersten Blick gesund gewesen. Roder machte hier eine Pause, um die Aufmerksamkeit bei den anderen noch einmal zu steigern, denn jetzt kam er zu etwas, das sie am Fundort nicht erkennen konnten.

„Ihre Brüste sind geöffnet und verkleinert worden. Des weiteren wurde ihr Bauchfett durch eine Fettabsaugung, einer Liposuction, verringert. Beide aus der Schönheitschirurgie bekannten Eingriffe wurden aber unprofessionell durchgeführt. Von Sülzen bezeichnete die Arbeitsweise als grob und stümperhaft.“

„Und die Todesursache?“ unterbrach ihn Ayse Günher ungeduldig.

Roder blickte sie vorwurfsvoll an. Als wenn er etwas vergessen würde. Blödes Weibstück, dachte er, musste sich nun neu sammeln und nachdenken, wie er seinen Bericht fortsetzen sollte. „Bislang geht von Sülzen davon aus, dass sie an einem starken Stromschlag verstorben ist. Eine entsprechende Verletzung ist ebenfalls an ihrer Bauchdecke zu erkennen gewesen. Eine abschließende Auskunft ist dies aber nicht. Von Sülzen legt sich erst nach Abschluss der Organuntersuchungen fest. Ihr kennt ihn ja.“

Mechthild Kayser machte sich wie alle anderen Notizen, zog ihren Stuhl heran, um aufrechter zu sitzen, und fragte an Roder gewandt: „Und? Gibt es noch weitere Ansätze für Ermittlungen?“ Sie war wie immer ungeduldig.

„Ja, sicher!“ erwiderte Roder. „Sie hatte eine Vorliebe für Klamotten aus den sechziger, vielleicht siebziger Jahren.“ Er beschrieb die Kleidung der Toten. Alle Kleidungsstücke stammten ausschließlich und original aus dieser Zeit. Die Etiketten waren zum großen Teil zwar schon verblasst, aber Schnitte und Materialien ließen keinen Zweifel zu.

„Und zum Teil waren sie ihr eine Nummer zu klein.Vielleicht wollte sie sich deshalb von ihrem überschüssigen Fett befreien“, mutmaßte Roder zum ersten Mal. „Und sie war im Gesicht vollständig geschminkt. Die Fingernägel waren sorgfältig lackiert! Im Grunde genommen war sie festlich gekleidet. Sie trug ein blaues Paillettenkleid. So, als wenn sie ausgehen wollte.“

Asye Günher unterbrach Roder erneut. „Wo kriegt man denn heute noch diese Klamotten her?“

Jetzt fuhr Mechthild Kayser dazwischen. „Moment! Spinnen können wir später.“ Sie war verärgert über Ayses vorlaute Art und pochte energisch mit den Fingern auf die Tischplatte. „Jetzt soll Roder erst mal alles auf den Tisch legen. Also bitte weiter, und keine Unterbrechungen mehr!“

Roder freute sich über die Zurechtweisung seiner Kollegin. Seit Ayse mit der Chefin befreundet war, nahm sie sich für seinen Geschmack zuviel heraus. Man musste jede Gelegenheit wahrnehmen, sie daran zu erinnern, dass er als Kaysers Stellvertreter auch ihr Vorgesetzter war. Er setzte mit einem hämischen Lächeln in Ayses Richtung wieder an. „Die für die chirurgischen Eingriffe eingesetzten Instrumente und Geräte waren professioneller Herkunft. Neben den üblichen Instrumenten für die Brustöffnung wurde für die Fettabsaugung eine sogenannte Vakuumpumpe eingesetzt. Dabei gibt es verschiedene Vorgehensweisen, bei denen eine bestimmte Flüssigkeit eingespritzt wird, die das Fettgewebe so verändert, dass es anschließend mit dieser Pumpe abgesaugt werden kann. Dazu werden Kanülen unter die Bauchdecke geschoben. Es wurden auf jeden Fall keine ganz feinen Kanülen verwendet.“ Roder brauchte dringend eine Zigarette, aber im Besprechungszimmer herrschte Rauchverbot. Er wollte sich beeilen, zum Ende zu kommen. „Die Schnitte an den Brüsten wurden, nachdem auch hier Fettgewebe entfernt wurde, nicht vernäht, sondern es wurden nur die Wundränder zusammengezogen und mit einem weißen Gewebeklebeband verklebt. Das war keine medizinisch zulässige Methode, da das Klebeband nicht steril ist, sondern Heimwerkerart, wie von Sülzen das bezeichnete. Also auf gar keinen Fall professionell.“ Roder räusperte sich. Sein Kratzen im Hals verlangte nach einem Nikotinschub. „Ach ja: Den Zeitpunkt des Todeseintritts konnte von Sülzen noch nicht für uns relevant eingrenzen. Obwohl wir dank der Ermittlungen von KK Heller wissen, dass die Leiche mindestens vier Wochen in der Grube lag, passen die festgestellten Zersetzungsspuren nicht zu diesem Zeitraum. Aber in der Tat war es so, wie von Sülzen schon am Fundort bemerkte: Die Tote war in einem Plastiksack eingeschweißt gewesen, dem vorher die Luft entzogen wurde. Wie bei einem Vakuumschweißgerät für den Haushalt, mit dem man Lebensmittel länger haltbar machen kann. Von Sülzen versucht über von ihm entwickelte Tabellen bald Genaueres sagen zu können.“

„Also, was haben wir?“ fragte Mechthild Kayser in die Runde.

„Eine tote Frau nach einer misslungenen Schönheitsoperation“, vermutete Ayse, „die nicht von einem Arzt oder einem Arzt ohne entsprechende Ausbildung durchgeführt wurde.“

„Warum sollte man zu solch einem Pfuscher gehen?“ fragte Mechthild.

„Weil’s billiger ist!“ warf Heller mit einem Grinsen ein. „Geiz ist geil!“

Roder schüttelte angewidert den Kopf. Er hasste Hellers lockere Sprüche und unangebrachten Beiträge und kam lieber wieder ernsthaft auf den Punkt zurück. „Vielleicht wusste sie auch gar nicht, dass ihr Operateur keine Ahnung hatte. Das würde dafür sprechen, dass es ein zugelassener Arzt war. Vielleicht ein Hausarzt, der auch mal ein bisschen nebenbei verdienen wollte. Sie vertraut ihm, und er tötet sie versehentlich.“

Heller wollte seine unpassende Äußerung wiedergutmachen und wechselte schnell zu einem anderen Ermittlungsansatz. „Wenn sie nur Kleidung aus den Sechzigern trug, ist das doch so was wie ein Tick. Soviel gibt es doch davon nicht mehr, und irgendwoher muss sie die doch haben.“

Mechthild Kayser ahnte schon, was die Brainstorming-Runde einbringen würde. Während sich noch alle austauschten, war sie schon dabei, Kästchen und Pfeile auf einen Bogen Papier zu bringen und wollte jetzt Aufträge verteilen. Erst einmal musste sie mit den jetzt vorliegenden Erkenntnissen...