Versuchung pur

von: Nora Roberts

Heyne, 2013

ISBN: 9783641121204

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Versuchung pur


 

1. KAPITEL

»Wenn ich etwas hasse«, murmelte Eden, »dann sechs Uhr in der Früh.«

Die Morgensonne strahlte durch die dünnen Vorhänge ins Blockhaus. Sie malte Muster auf den Holzboden, auf das Bettgestell aus Metall und auf Edens Gesicht. Laut hallte das Läuten des Weckers in ihrem Kopf nach. Auch wenn sie dieses schrille Klingeln erst seit drei Tagen kannte – Eden hatte bereits eine inbrünstige Abneigung dagegen entwickelt.

Einen fantastischen Moment lang vergrub sie das Gesicht unter dem Kopfkissen und träumte sich in ihr großes Himmelbett. Die feine Bettwäsche roch nach Zitrone, ganz leicht nur, ein Hauch. Die Vorhänge in dem luftigen, in Pastellfarben gehaltenen Schlafzimmer waren gegen die aufdringliche Morgensonne fest zugezogen, und frische Blumen versüßten mit ihrem Duft die Luft.

Doch dieser Kissenbezug hier roch nach Federn und Desinfektionsmittel.

Mit einem leisen Fluch schleuderte Eden das Kissen zu Boden. Der Wecker hatte inzwischen sein aufdringliches Schrillen eingestellt, dafür hörte man jetzt das aufgeregte Krächzen der Krähen. Aus der Hütte direkt gegenüber ertönte laute Rockmusik. Mit schläfrigem Blick sah Eden zu, wie Candice Bartholomew schwungvoll aus ihrem schmalen Feldbett sprang.

»Guten Morgen!« Ein strahlendes Lächeln zog auf Candys vorwitziges Elfengesicht. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch den leuchtend roten Haarschopf und zerzauste ihn dabei nur noch mehr. Für Eden bestand Candys Wesen hauptsächlich aus Energie. »Was für ein wunderschöner Tag!«, verkündete sie mit bester Laune und reckte sich ausgiebig in ihrem Rüschenbabydoll.

Eden gab nur einen unverständlichen Laut von sich. Sie streckte die nackten Beine unter dem Bettzeug hervor und setzte sich auf. Als ihre Füße den Holzboden berührten, gratulierte sie sich im Stillen zu dieser erstaunlichen Leistung.

»Wenn du so weitermachst, fange ich noch an, dich zu hassen«, brummelte sie schlaftrunken. Mit geschlossenen Augen strich sie sich das wirre blonde Haar aus dem Gesicht.

Candy grinste und stieß die Tür auf, um frische Morgenluft ins Zimmer zu lassen. Dann drehte sie sich um und musterte die Freundin. In der frühen Sommersonne wirkte Eden fein und zerbrechlich. Das helle Haar fiel ihr in Stirn und Wangen, die Lider waren geschlossen. Ihre schmalen Schultern sackten zusammen, bevor sie ausgiebig gähnte.

Candy hielt sich mit Kommentaren weise zurück. Sie wusste, dass Eden ihre eigene Begeisterung für den Sonnenaufgang keineswegs teilte.

»Die Nacht kann doch unmöglich schon vorbei sein!«, murmelte Eden jetzt gerade. »Ich bin doch eben erst ins Bett gegangen.« Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte einen hellen Teint, ihre Wangen waren leicht rosig. Ihre Nase war klein, und die Nasenspitze zeigte ein wenig aufwärts. Wäre da nicht der volle, großzügige Mund, hätte man ihr Gesicht als kühl und aristokratisch bezeichnen können.

Candy machte noch ein paar tiefe Atemzüge an der offenen Tür, dann schloss sie sie wieder. »Du brauchst nur eine Dusche und einen Kaffee, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Die erste Woche im Camp ist immer die schlimmste, das weißt du doch.«

Eden richtete große dunkelblaue Augen auf Candy. »Du hast gut reden! Du bist ja auch nicht in Giftefeu gefallen.«

»Juckt es noch?«

»Ein bisschen.« Edens schlechtes Gewissen regte sich. Es gab keinen Grund, ihre üble Laune an der Freundin auszulassen. Und so versuchte Eden sich an einem Lächeln. Sofort wurden ihre Gesichtszüge nachgiebig und weich, die Augen, der Mund, sogar die Stimme. »Es ist ja auch das erste Mal, dass wir die Leiterinnen des Camps sind und nicht die Camper.« Noch einmal gähnte sie mit offenem Mund, dann stand sie auf und zog den Morgenmantel über. Die Luft war erfrischend, aber auch eiskalt. Eden wünschte, sie könnte sich daran erinnern, was sie mit ihren Pantoffeln angestellt hatte.

»Versuch’s mal unter dem Bett«, schlug Candy vor.

Eden beugte sich vor und schaute nach. Tatsächlich, da waren sie. Bestickte pinkfarbene Seidenpantöffelchen, wenig geeignet für ein Feriencamp. Aber irgendwie war es Eden nicht lohnenswert erschienen, sich andere zu besorgen.

Das Anziehen der Pantoffeln lieferte ihr immerhin den passenden Vorwand, sich wieder zu setzen. »Meinst du wirklich, fünf aufeinanderfolgende Sommer in Camp Forden haben uns ausreichend auf das hier vorbereitet?«

Candy hatte mit ihren eigenen Zweifeln zu kämpfen. Sie verschränkte die Hände. »Hast du jetzt etwa Bedenken, Eden?«

Weil sie das Zögern in Candys sonst immer so quicklebendiger Stimme hörte, schob Eden die eigenen Unsicherheiten beiseite. Schließlich hatten sie beide ein sowohl finanzielles als auch emotionales Interesse daran, dass das neu gegründete Camp Liberty ein Erfolg wurde. Herumzujammern würde sie sicherlich nicht dorthin bringen.

Sie schüttelte den Kopf, ging zu Candy und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich bin einfach nur ein hoffnungsloser Morgenmuffel. Lass mich schnell unter die Dusche springen. Dann bin ich auch bereit, mich unseren siebenundzwanzig Campern zu stellen.«

»Eden.« Candy hielt sie auf, bevor sie die Badezimmertür hinter sich schloss. »Es wird klappen. Für uns beide. Ich weiß es.«

»Ja, davon bin ich auch überzeugt.« Doch kaum hatte sie die Tür geschlossen, lehnte Eden sich mit dem Rücken dagegen. Jetzt, da sie allein war, konnte sie es zugeben: Sie hatte eine Heidenangst. Ihren letzten Cent und ihre letzte Hoffnung hatte sie in die sechs Blockhütten, die Ställe und den Speisesaal von Camp Liberty gesteckt. Was verstand Eden Carlbough aus Philadelphia schon von der Leitung eines Sommercamps für Mädchen? Gerade genug, um sich selbst in Angst und Schrecken zu versetzen.

Wenn sie versagte – würde sie dann die Scherben aufsammeln und weitermachen können? Gäbe es dann überhaupt noch Scherben zum Aufsammeln? Zuversicht und Selbstvertrauen, das war es, was hier gebraucht wurde, sagte sie sich, als sie sich in die enge Duschkabine zwängte. Dann drehte sie das Wasser auf; den Hahn, auf dem »Heiß« stand, sogar bis zum Anschlag. Lauwarm tröpfelte das Wasser aus dem Duschkopf. Zuversicht und Selbstvertrauen, sagte Eden sich erneut, fröstelnd unter dem kümmerlichen Strahl. Sowie ein dickes Bündel Banknoten und eine ganze Wagenladung Glück.

Sie griff nach der Seife und begann sich zu waschen. Ein feiner Duft stieg ihr in die Nase. Die parfümierte französische Seife war eines der wenigen Dinge, die sie sich noch gönnte. Vor einem Jahr hätte sie wahrscheinlich gelacht, hätte man zu ihr gesagt, dass sie einmal ein Seifenstück als Luxus betrachten würde.

Vor einem Jahr.

Eden drehte sich, damit das schnell abkühlende Wasser auch ihren Rücken erreichte. Vor einem Jahr wäre sie um acht Uhr morgens aufgestanden, hätte in aller Ruhe eine prasselnde heiße Dusche genommen, dann Frühstück mit duftendem Kaffee und frischem Toast und vielleicht noch luftigen Rühreiern. Gegen zehn wäre sie dann zur Bibliothek gefahren, zu ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Danach hätte sie sich zum Lunch mit Eric im französischen Edelrestaurant Deux Cheminées getroffen. Schließlich hätte sie am Nachmittag dem Museum ihre Dienste zur Verfügung gestellt oder Tante Dottie bei einer ihrer vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen geholfen.

Die schwierigste Entscheidung des Tages wäre gewesen, ob sie das rosa Seidenkostüm oder doch lieber das elfenbeinfarbene Leinenensemble anziehen sollte. Sie hätte einen geruhsamen, friedlichen Abend zu Hause verbracht. Oder sie wäre zu einer der eleganten Dinnerpartys in Philadelphia eingeladen gewesen.

Kein Druck. Keine Probleme. Aber vor einem Jahr hatte ihr Vater ja auch noch gelebt.

Mit einem leisen Seufzer wusch Eden sich die Seife von der Haut. Der feine Duft haftete an ihr, auch als sie sich mit den eher zweckdienlichen als flauschigen Handtüchern des Camps abtrocknete.

Als ihr Vater noch lebte, da hatte sie Geld als etwas betrachtet, das lediglich dazu da war, um ausgegeben zu werden. Damit war sie aufgewachsen. Sie war dazu erzogen worden, ein Menü zu planen – nicht dazu, es zu kochen. Sie war dazu erzogen worden, einen Haushalt zu führen – nicht zu putzen.

Sie hatte eine sorgenfreie und glückliche Kindheit verbracht. Sie war bei ihrem verwitweten Vater aufgewachsen, in der zeitlosen Eleganz der Carlbough-Villa in Philadelphia. Es hatte immer hübsche Kleider gegeben und Debütantinnenbälle, Teegesellschaften und Reitstunden. Der Name Carlbough war ein altehrwürdiger Name, ein respektierter Name. Das Vermögen der Carlboughs war schlicht immer da gewesen.

Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten.

Jetzt nahm sie keine Reitstunden mehr, sondern unterrichtete sie. Und sie jonglierte mit Zahlen, in der unsinnigen Hoffnung, dass eins und eins vielleicht doch mehr als zwei ergab.

Mit dem rauen Handtuch wischte Eden den beschlagenen kleinen Spiegel über dem ebenso kleinen Waschbecken sauber. Mit einer Fingerspitze nahm sie etwas von der Gesichtscreme. Einen halben Tiegel hatte sie noch, der würde den Sommer über halten müssen. Wenn sie diesen Sommer durchhielt, würde sie sich zur Belohnung einen neuen Topf kaufen.

Als Eden aus dem Bad kam, war die Blockhütte bereits leer. So, wie sie Candy kannte – was man nach zwanzig Jahren Freundschaft sicher sagen konnte –, war der Rotschopf längst zu den Mädchen gegangen. Wie mühelos ihre Freundin sich doch den Umständen angepasst hat, dachte...