The Darkest London - Im Bann des Mondes

von: Kristen Callihan

LYX, 2014

ISBN: 9783802593161 , 420 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

The Darkest London - Im Bann des Mondes


 

1


London, 18. April 1883

Dreihundertsechsundsechzig Tage, zehn Stunden, fünfzehn Minuten und … Daisy warf einen Blick auf die herzförmige, goldene Uhr, die in der Mitte ihres Mieders baumelte. Es handelte sich um eine strategisch günstige Stelle, um den Blick auf ihren Busen zu lenken. Nun ja, es mochte vielleicht eine strategisch günstige Position sein, aber so die Uhrzeit zu erkennen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Das winzige Ziffernblatt wurde durch die schwankende Laterne der Kutsche immer wieder in den Schatten getaucht.

Aber Sekunden mussten nun ohnehin nicht mehr gezählt werden. Sie war frei. Daisy schaute nach draußen in den wabernden, grauen Nebel, der die Straßen von London verhüllte. Dreihundertsechsundsechzig Tage, zehn Stunden, fünfzehn Minuten und egal wie viele Sekunden waren eine ausreichend lange Trauerzeit um einen Mann, den man gehasst hatte. Auch wenn man mit diesem Mann verheiratet gewesen war. Insbesondere wenn man mit diesem Mann verheiratet gewesen war, korrigierte sie sich, während sie eine Falte aus ihrem himmelblauen Seidenrock strich. Himmelblau. Was für ein herrliches Wort. Es glitt schmeichelnd über ihre Zunge und kündete von Abenteuern und fremden Gefilden. Sie liebte die Farbe Himmelblau. Sie liebte Farben generell. Doch eine Zeitlang hatte sie auch Schwarz geliebt. Schwarz war ihre Flagge der Freiheit gewesen. Die Farbe hatte das symbolische Ablegen der Fesseln der Ehe und den Übergang in den Witwenstand, mit all seinen Freiheiten, gekennzeichnet.

Das Kapitel Schwarz war für Daisy jetzt abgeschlossen. Man sollte die Königin für ihre Beharrlichkeit in Sachen Trauer wirklich verwünschen, denn damit verdammte sie unzählige Witwen dazu, schuldbewusst ihrem Beispiel zu folgen. Andererseits war es natürlich ziemlich romantisch von ihr, und Romantik war etwas, das Daisy niemandem vorwerfen mochte. Doch für sie war ihr Trauerjahr abgeschlossen, und sie hatte ihre Pflicht und Schuldigkeit getan, um eventuellen Klatschmäulern keine Nahrung zu liefern. Jetzt war ihre Zeit gekommen.

Barnaby, ihr Kutscher, rief den Pferden etwas zu, und das Gefährt bog scharf in eine schmale Straße ein, die sie in die Zukunft führen würde. Geselliges Zusammensein, Unterhaltung, Lachen, Leben. An einen Ort, wo Frauen kein Schwarz trugen, außer sie wollten sich mit einer geheimnisvollen Aura umgeben. Keiner hatte sie je für geheimnisvoll gehalten … für verrucht vielleicht.

Plötzlich zog sich ihr Inneres so fest zusammen, dass sie anfing zu zittern. Einsamkeit und Angst drängten sie dazu, Barnaby den Befehl zur Umkehr zu geben. In ihrem Bett war es sicher und warm. Vielleicht war ihr ganzes Gerede ja nur Geschwätz gewesen. Vielleicht war die vergnügungssüchtige Daisy Margaret Ellis – sie weigerte sich, sich selbst Craigmore zu nennen – nichts weiter als ein Feigling …

»Warum schnappen wir nicht ein bisschen frische Luft?« Der Mann, der an Daisys Hals knabberte, lachte leise über seinen eigenen Scherz. ›Frische‹ Luft suchte man in London vergebens. Daisy unterließ es, die Augen zu verdrehen. Denn schließlich war es ein herrliches Gefühl, wie sich seine Lippen weich kreisend über ihre Haut bewegten. Es war sechs Jahre her, dass jemand sie leidenschaftlich berührt hatte. Er zupfte an ihrem Fleisch an der zarten Halsbeuge, und ein Beben ging durch ihren Körper, während sich ihre Brustspitzen erwartungsvoll aufrichteten. Wein strömte durch ihre Adern, erhitzte ihr Blut und hüllte ihre Welt in weiche, verschwommene Farben.

Um sie herum hatten auch andere Paare zueinander gefunden und drückten sich jetzt in den dunklen Nischen des überfüllten Stadthauses herum, um anderen Vergnügungen zu frönen. Männer, die nur darauf aus waren zu gewinnen, scharten sich um die Spieltische und nahmen die Frauen, die ihre Seiten zierten, kaum wahr. Ein paar Gäste tanzten zu der endlos spielenden Musik der Kapelle, die Alexis für den Abend verpflichtet hatte. Allerdings hatte Daisy ihre Gastgeberin Alex heute Abend noch gar nicht gesehen.

Alex, die auch gerade erst Witwe geworden war, hatte sich für ein Leben in der Demimonde entschieden. Der ton, so hatte Alex erklärt, wäre viel zu langweilig. Daisy gab ihr recht. Die feine Gesellschaft – der ton – hatte Daisy beinahe den Rücken gekehrt, als Craigmore gestorben war und ihr kaum etwas hinterlassen hatte. Bestimmt war der verdammte Kerl davon ausgegangen, dass sie elend und mittellos auf der Straße enden würde. Er hatte kaum etwas über die eigenen Mittel gewusst, die ihr zur Verfügung standen.

Daisy musterte den Mann, der vor ihr stand. Ein wohl gestalteter, junger Mann, dem noch eine gewisse Schlaksigkeit anhaftete. »Frische Luft wäre herrlich.«

Eine matte Trägheit bemächtigte sich ihrer, als sie sich an ihn lehnte. Er roch nach Tabak, teurer Wolle und jungem Mann. Sein fester Körper fühlte sich wundervoll an. Was spielte es da noch für eine Rolle, dass sie seinen Namen vergessen hatte?

Sein Arm lag um ihre Schultern, als er sie durch das Gewirr der endlosen Flure führte. Die Gaslampen flackerten. Blauer Qualm und heiße Körper erzeugten einen Dunst, der alles nur noch verschwommen erkennen ließ.

Daisy stolperte und sein Griff wurde fester. »Vorsicht. Nicht langlegen. Noch nicht.«

Die Bemerkung war wirklich schlagfertig gewesen. Sie verdrängte den Gedanken. Sie wollte nicht denken … nur fühlen.

Lachend stürmten sie durch die Hintertür nach draußen. Daisy atmete die feuchtkalte, nach Kohlenstaub riechende Luft ein und sah die nassen Steinplatten im Mondschein schimmern, ehe ihr Begleiter sie gegen die Wand drückte. Efeuranken raschelten an ihrem Ohr, als er sich über sie beugte und seinen Mund grob auf ihre Lippen presste. Daisy gab dem Druck nach und ignorierte den damit einhergehenden Schmerz, während sie auf das Einsetzen der Lust wartete … dieses so schwer fassbare Vergnügen, an welches man sich so gut erinnern konnte, während man das Empfinden selbst verloren hatte. Seine Zunge schob sich kalt und groß zwischen ihre Lippen. Durfte eine Zunge sich kalt anfühlen?

Wolkenfetzen rasten über den Himmel, und das helle Rund des Mondes strahlte auf, sodass die düstere Gasse wie in blaues Tageslicht getaucht schien. Daisy sah zum Mond auf, während die Hände ihres Liebhabers über ihren Körper nach unten glitten und ihre Röcke hoben, während sein Atem heiß und feucht über ihren Busen strich. Als seine suchende Hand anfing, sie zu befummeln, spannte Daisys Körper sich an. Das war es doch, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. Sechs Jahre lang hatte sie in der Hölle gelebt und darauf gewartet, begehrt zu werden, als eine begehrenswerte Frau betrachtet zu werden und nicht wie etwas Verabscheuungswürdiges.

Verführerin, Sinnbild der Fleischeslust. Du wertlose Hülle, deren einziger Nutzen darin besteht, die Sünde des Mannes in sich aufzunehmen.

Wut vermengte sich mit Abscheu. Vergiss Craigmore, er ist tot. Seine Reden können dich nicht mehr berühren. Gib dich den Freuden hin. Doch diese verflogen, während der Wind sich drehte und ihre nackten Arme in eisige Kälte hüllte. Puh, es stank … irgendwie merkwürdig nach klebrig süßer Verwesung und Kupfer vermengt mit Dreck. Der Geruch jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Leise fing sie an, sich zu wehren. Hier konnten sie viel zu leicht gesehen werden, und davon abgesehen wollte sie es auch gar nicht mehr.

»Ganz ruhig, Süße.« Raue Finger glitten über ihre Schenkel.

»Ich will wieder rein.«

»Entspann dich«, sagte er.

Sie versuchte, ihn wegzudrücken. »Rein.«

»Versuch ich ja«, meinte er lachend.

Sie drehte den Kopf, um sich ihm zu entziehen, und ihr Blick erhaschte etwas links von seiner Schulter. Graue Seidenröcke, deren Säume im Wind flatterten, ein ausgestreckter, blasser Arm, der um Hilfe zu flehen schien, das Funkeln von Diamanten an einem weißen Hals, große Augen mit gebrochenem Blick. Und Blut … so viel Blut, das im Mondlicht schwarz schimmerte. Daisys Verstand versuchte, den Anblick, der sich ihren Augen bot, zu erfassen und ihm einen Sinn zu geben. Alex. Alex’ aufgerissener Leib. Und etwas, das sich über Alex beugte, das Gesicht in den Eingeweiden vergraben hatte und so wirkte, als würde es an dem Körper schnüffeln. Ein Schrei erstarrte in Daisys Kehle – so kalt und fest, dass sie ihn nicht herausbrachte. Entsetzen breitete sich in ihr aus und gab ihr die Kraft, ihren Liebhaber wegzustoßen.

»Was zum Teufel soll das?«, fragte er.

Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen, während sie nach vorn taumelte. Ihr Begleiter drehte sich um. Als hätte man ihm etwas zugerufen, hob das Geschöpf den Kopf. Blut tropfte von seinem Kinn, und Daisy schrie. Knurrend erhob es sich auf die Hinterbeine, die so lang wie die eines Menschen waren. Ihr Galan wich taumelnd zurück und brüllte vor Angst, als das Monster angriff.

Daisys Kopf prallte gegen die Backsteinmauer. Etwas Heißes, Nasses spritzte ihr über Wange und Hals. Ein schwerer Leib stürzte zuckend und um sich schlagend auf sie und drückte sie auf den harten Boden. Und dann waren da nur noch die Schreie, Schrei um Schrei reinen, unverfälschten Entsetzens. Sie schlugen wie eine Woge über ihr zusammen, raubten ihr den Verstand und zogen sie nach unten in die kühle Umarmung der Dunkelheit.

Nicht weit entfernt …

Sechs Huren, bei denen er sechsmal versagt hatte, würden auch den zuversichtlichsten Mann schließlich die Flinte ins Korn werfen lassen. Man konnte durchhalten, aber irgendwann war es...