Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark - Bd. 11

von: David Weber

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838745831 , 557 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark - Bd. 11


 

.I.


Grauwallberge,
Provinz Gletscherherz,
Republik Siddarmark

In dicht gewebten, eisigen Schleiern fiel Schnee. Der Wind, der die Flocken miteinander verwebte, war beißend scharf. Unablässig pfiff er über die dicke Schneedecke, die das Land bedeckte, und schien an den himmelhohen Berggipfeln zu rütteln. In der Eiseskälte warfen diese blaue Schatten auf weiße Schneedünen.

Für einen nichts ahnenden Besucher mochte die Schneedecke fest wirken und dazu einladen, sie zu betreten. Wahlys Mahkhom aber war in den Grauwallbergen geboren und aufgewachsen. Er wusste genau, wie gefährlich es hier war. Zornig und dennoch zu allem entschlossen, spähte er durch die Rauchgläser seiner Schneebrille. Ihm knurrte der Magen. Mahkhom war an winterliches Wetter gewöhnt, sogar hier oben in den Grauwallbergen. Trotzdem kroch die Eiseskälte durch den fellbesetzten Parka und die dicken Handschuhe, fraß sich in jeden Muskel und Knochen. Selbst bei besseren Wetterbedingungen reichte in diesen Bergen im Winter nur ein einziger unachtsamer Moment, und man war verloren. Aber die Bedingungen waren weit davon entfernt, ›besser‹ genannt werden zu können. Wie ein Dämon Shan-weis verschlang der Winter in Gletscherherz jede Wärme, alle Energie, und Nahrungsmittel waren schwerer zu finden denn je. Sonderlich ergiebig waren die hochgelegenen Weiden und felsigen Äcker der Provinz noch nie. Bislang allerdings hatte es in den Lagerhäusern immer noch genug gegeben, dass selbst Jäger wie Mahkhom den Winter überstehen konnten. Dieses Jahr war es anders. Sämtliche Lagerhäuser waren niedergebrannt worden: Was die eine kriegführende Partei übrig ließ, vernichtete zur Vergeltung die andere. Zudem waren die Felder in diesem Jahr mit so viel Schnee bedeckt wie seit Menschengedenken nicht mehr. Es war, als hätte der Allerhöchste selbst beschlossen, die Unschuldigen ebenso zu strafen wie die Schuldigen. Es gab Momente, in denen Mahkhom sich fragte, ob im nächsten Jahr überhaupt noch jemand lebte, um neue Feldfrüchte anzubauen. Diese Momente kamen sogar häufiger, als er sich selbst gegenüber einzugestehen wagte.

Seine Zähne klapperten wie die Kastagnetten einer Tänzerin aus dem Tiefland. Er zog seinen Schal ein Stück höher. Seine Mutter hatte ihm diesen Schal gestrickt – vor vielen, vielen Jahren. Nun schlang Mahkhom ihn ein wenig dichter um die Schneemaske, die fast sein ganzes Gesicht verdeckte. Der Hass in seinen Augen wurden noch unerbittlicher, kälter, viel kälter noch als der eisige Winter. Denn Mahkhom ging durch den Kopf, dass seine Mutter ihm nie wieder einen Schal stricken würde – und wer die Schuld daran trug.

Vorsichtig hob Mahkhom den Kopf, blickte sich prüfend um. Doch seine Gefährten waren mit den Bergen ebenso vertraut wie er selbst. Es war gut, dass sie sich unter den weißen Tüchern verborgen hielten, die die Männer für genau diese Zwecke mitgenommen hatten. In harter, rachsüchtiger Befriedigung fletschte Mahkhom die Zähne. Schon schlugen sie nicht mehr so heftig aufeinander. Auf Schneeschuhen hatten seine Gefährten und er den weiten Weg bis hierher zurückgelegt. Unfassbar anstrengend war der Marsch gewesen, vor allem weil die Verpflegung so knapp war. Sie wussten natürlich alle, dass es beinahe schon unverantwortlich war, ohne hinreichende Vorräte einen solchen Marsch anzutreten. Aber wie sollte ein Mann sich mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgen, wenn er dabei in die Augen seines hungernden Kindes blickte? Diese Frage konnte Mahkhom nicht beantworten – noch nicht, zumindest. Und eigentlich wollte er es auch gar nicht tun müssen. Nein. Niemals.

Er kauerte sich wieder in das Loch, das er in den Schnee gegraben hatte, und türmte dann mit beiden Händen rings um sich kleine Wälle aus Schnee auf, um besser vor der Kälte geschützt zu sein. Dann spähte er zu dem Pfad hinüber, der sich wie eine riesenhafte Schlange durch die Berge zog. Eher wie der Kadaver einer Schlange, dachte Mahkhom. Anderthalb Tage lang hatten seine Gefährten und er schon geduldig gewartet. Jetzt lief ihnen die Zeit davon: Wenn das Zielobjekt, auf das sie warteten, nicht bald auftauchte, müssten sie ihre Mission abbrechen. Dieser Gedanke ließ es glutheiß vor Zorn in Mahkhoms Magen brodeln, die plötzliche Hitze dort ein drastischer Gegensatz zu der Eiseskälte der Berge. Mahkhom stellte sich seinem Zorn ganz bewusst. In diesem Winter hatte er zu oft erleben müssen, wie hassgeschürte Entschlossenheit und schierer Starrsinn allzu viele Männer geradewegs in den Tod geführt hatten. Aber Mahkhom selbst weigerte sich schlichtweg zu sterben. Es gab noch viel zu viele, die er mit in den Tod nehmen wollte.

Mahkhom hatte keine Ahnung, wie viel Grad gerade herrschten, obwohl es auf Safehold bemerkenswert präzise Thermometer gab – ein Geschenk der Erzengel, die Mahkhoms ganze Heimatwelt erschaffen hatten. Für Mahkhom spielte die genaue Temperatur allerdings keine Rolle. Er brauchte auch nicht zu wissen, dass er sich hier neuntausend Fuß über Normalnull befand, auf einem Planeten, dessen Achsenneigung elf Grad mehr betrug und dessen Durchschnittstemperatur sieben Grad geringer war als die eines Planeten namens Terra. Diesen Namen hatte Mahkhom ohnehin noch nie gehört. Er brauchte nur zu wissen, dass ein einziger unachtsamer Moment ausreichte, um …

Mahkhom erstarrte, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Dann wieder: etwas bewegte sich im Halbdunkel des steilwandigen Passes, schwer zu erkennen. Mahkhom wagte kaum zu atmen. Augenblicklich beherrschte ihn statt brodelndem Zorn ruhige Wachsamkeit. Konzentriert und reglos war er, ungleich eisiger und unerbittlicher als die Berge, die ihn umgaben.

Was immer sich dort bewegte, es kam näher. Schließlich konnte der Jäger erkennen, dass es eine ganze Reihe weißgekleideter Männer waren. Mühselig schleppten sie sich auf Schneeschuhen voran. Es waren genau solche Schneeschuhe, die auch neben Mahkhoms Versteck im Schnee vergraben waren. Die Hälfte der Männer trugen so schwere Lasten, dass sie sich kaum noch aufrecht halten konnten. Begleitet wurde die Gruppe von nicht weniger als sechs Schlitten, vor die man Eisechsen gespannt hatte. Mahkhoms Augen blitzten befriedigt auf, als er die Schlitten sah: Das war der Beweis, dass die Informationen zutrafen, die man ihnen zugespielt hatte.

Er machte sich nicht die Mühe, nach seinen Kameraden Ausschau zu halten, die rings um ihn, im Schnee halb vergraben, in Deckung lagen. Die anderen Männer, die in den dichten, immergrünen Hainen etwa eine halbe Meile bergab bereitstanden, hätte Mahkhom ohnehin nicht sehen können. Doch er wusste, wo sie waren. Er wusste auch, dass sie bereit waren, so wachsam wie er selbst. Die Sorglosen, die Unbekümmerten und die Unbesonnenen waren längst tot. Wer jetzt noch lebte, hatte harte Lektionen lernen müssen, so geschickt er als Jäger und Fallensteller auch sein mochte. Und ebenso wie Mahkhom selbst mussten auch seine Gefährten noch entschieden zu viele andere Männer töten, um jetzt aus Torheit selbst zu sterben.

Kein Bergarbeiter und kein Fallensteller könnte sich jemals die kostspieligen Feuerwaffen aus dem Tiefland leisten. Hätten sie die Waffen selbst irgendwie finanzieren können, waren Schießpulver und Kugeln doch viel zu teuer. Ja, selbst für eine Armbrust mit Stahlsehne wurde ein unfassbar hoher Preis verlangt: mehr als zwei ganze Monatseinkommen eines Steigers. Andererseits konnte eine ordentlich gepflegte Armbrust mehreren Generationen gute Dienste leisten. Mahkhom hatte seine Waffe vom Vater ererbt, so wie dieser von seinem Vater. Die erforderliche Munition konnte man sich selbst herstellen. Nun rollte sich Mahkhom, verborgen unter seinem weißen Tuch, lautlos auf den Rücken und streifte die Überhandschuhe ab. Die Waffe an den Stiefeln stabilisiert betätigte er mit beiden Händen die Winde, um die Sehne zu spannen. Er ließ sich Zeit, denn in Eile war er wahrlich nicht. Die Karawane aus Trägern und Eisechsen würde noch beinahe eine Viertelstunde brauchen, um den Punkt zu erreichen, an dem man sie am leichtesten erwischen könnte. So unbequem es auch sein mochte, hier eng zusammengekauert die Waffe zu spannen: Es war immer noch deutlich besser, als sich aufzurichten. Man konnte viel zu leicht gesehen werden … und damit wäre der Feind vorgewarnt.

Endlich hatte Mahkhom die Sehne gespannt. Er vergewisserte sich, dass sie auch wirklich hinter der Sperrklaue eingerastet war, und löste die Winde wieder von der Waffe. Dann rollte er sich erneut auf den Rücken und legte einen massigen Bolzen mit quadratischem Kopf auf die Sehne. Konzentriert richtete Mahkhom die Armbrust aus, spähte durch das Lochvisier. Beobachtete. Wartete. Sein Herz wurde so kalt wie der eisige Wind hier oben, während die Gestalten näher und näher kamen.

Einen kurzen Moment lang, tief unter der Oberfläche seiner ihm bewussten Gedanken, beschäftigte ihn noch etwas anderes: Der Mann, der Mahkhom noch vor drei oder vier Monaten gewesen war, sah voller Entsetzen, was auf diesem hochgelegenen, eisigen Bergpfad schon bald geschehen würde. Jener andere Wahlys Mahkhom, der noch eine Familie gehabt hatte, wusste ganz genau, dass viele jener Männer dort vorn ebenfalls Familien hatten. Er wusste, dass jene Familien ebenso verzweifelt auf die Nahrungsmittel auf den Schlitten warteten, wie die Familien, die Mahkhom selbst zurückgelassen hatte: Sie kauerten sich dicht um die Feuerstellen in den armseligen, behelfsmäßigen Hütten, die ihnen Zuflucht boten, nachdem man allen Häusern ihres Dorfes den roten Hahn aufs Dach gesetzt hatte. Jener andere Wahlys Mahkhom kannte Hunger und Leid – und er wusste, dass der Tod schon bald die Frauen und Kinder der Männer dort vorn holen würde, wenn Mahkhoms heutiges Tagwerk erst einmal...