Die Welle: Bericht über einen Unterrichtsversuch, der zu weit ging. (Ein Buch, das vor rechter Propaganda und blindem Gehorsam warnt)

Die Welle: Bericht über einen Unterrichtsversuch, der zu weit ging. (Ein Buch, das vor rechter Propaganda und blindem Gehorsam warnt)

von: Morton Rhue

Ravensburger Buchverlag, 2009

ISBN: 9783473383894 , 186 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 6,99 EUR

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Die Welle: Bericht über einen Unterrichtsversuch, der zu weit ging. (Ein Buch, das vor rechter Propaganda und blindem Gehorsam warnt)


 

Laurie Saunders saß im Redaktionsbüro der Schülerzeitung der Gordon High School und kaute an ihrem Kugelschreiber. Sie war ein hübsches Mädchen mit hellbraunem Haar und einem fast immer währenden Lächeln, das nur schwand, wenn sie aufgeregt war oder an Kugelschreibern kaute. Das hatte sie in letzter Zeit ziemlich häufig getan. In ihrem Vorrat gab es keinen einzigen Schreiber mehr, der nicht am oberen Ende völlig zerbissen war. Immerhin war das allemal noch besser als Rauchen.

Laurie sah sich in dem kleinen Büro um, das mit Schreibtischen, Schreibmaschinen und Zeichenplatten voll gestopft war. Eigentlich sollte in diesem Augenblick an jeder Schreibmaschine jemand sitzen und Beiträge für die Schülerzeitung »Ente« ausbrüten. Auch Zeichner und Gestalter sollten an den Lichttischen hocken und die nächste Ausgabe vorbereiten. Tatsächlich war jedoch außer Laurie niemand im Raum. Das Problem bestand einfach darin, dass draußen ein herrlicher Tag war.

Laurie spürte, wie das Plastikröhrchen ihres Kugelschreibers zerbrach. Ihre Mutter hatte ihr prophezeit, eines Tages würde sie so heftig an einem Schreiber kauen, dass er zersplitterte. Und dann würde ein langer Plastiksplitter ihr in den Hals rutschen, und sie würde daran ersticken. Nur Mutter konnte auf so einen Gedanken kommen, dachte Laurie seufzend.

Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Von der laufenden Schulstunde blieben nur noch ein paar Minuten. Es gab keine Vorschrift, nach der irgendjemand während der Freistunden in der Redaktion arbeiten musste, aber alle wussten schließlich, dass die nächste Ausgabe der »Ente« in der kommenden Woche fällig war. Konnten die anderen denn nicht einmal auf Eis, Zigaretten und Sonnenbad verzichten, um wenigstens einmal eine Schülerzeitung pünktlich herauszubringen?

Laurie schob den Kugelschreiber in den Rücken ihres Ringbuchs und sammelte ihre Hefte für die nächste Stunde zusammen. Es war hoffnungslos! Seit drei Jahren gehörte sie nun zur Redaktion, und bisher war noch jede Nummer der »Ente« verspätet erschienen. Dass sie jetzt Chefredakteurin geworden war, änderte daran ganz und gar nichts. Die Zeitung wurde eben fertig, wenn auch der Letzte es geschafft hatte, sich um seine Arbeit zu kümmern.

Laurie schloss die Tür des Redaktionsbüros hinter sich und trat auf den jetzt menschenleeren Flur. Es hatte noch nicht geläutet. Nur am anderen Ende des Ganges waren ein paar Schüler zu sehen. Laurie ging an einigen Türen vorüber, blieb vor einem Klassenraum stehen und schaute durch das Fenster hinein.

Drinnen gab sich ihre beste Freundin, Amy Smith, ein kleines Mädchen mit dichten blonden Locken, die größte Mühe, die letzten Minuten von Mr Gabondis Französischstunde zu überstehen.

Im vergangenen Jahr hatte Laurie bei Mr Gabondi Französisch gehabt, und das war so ziemlich das Langweiligste gewesen, was sie bisher in der Schule erlebt hatte. Mr Gabondi war ein kleiner, stämmiger, dunkelhaariger Mann, der selbst an den kältesten Wintertagen immer zu schwitzen schien. Im Unterricht sprach er extrem leise und so monoton, dass es selbst eifrige Schüler einschläfern konnte. Obwohl der Stoff, den er unterrichtete, nicht besonders schwer verständlich war, konnte kaum jemand die allernötigste Aufmerksamkeit aufbringen.

Als sie jetzt sah, wie ihre Freundin sich abmühte, dem Unterricht zu folgen, fand Laurie, dass Amy nun wirklich eine kleine Aufheiterung verdient hätte. Deshalb stellte sie sich so ans Fenster, dass zwar Amy, nicht aber Mr Gabondi sie sehen konnte, schielte wild und zog eine entsetzliche Grimasse. Amy reagierte zunächst darauf, indem sie die Hand vor den Mund legte, um das Lachen zu unterdrücken. Laurie verzog abermals das Gesicht. Amy wollte nicht hinschauen, musste dann aber doch wieder den Kopf umdrehen, um zu sehen, was Laurie jetzt zu bieten hatte. Laurie führte ihr berühmtes Fischgesicht vor: Sie schob die Ohren nach vorn, schielte kreuzweise und öffnete und schloss zugleich den Mund wie ein Karpfen. Amy gab sich so große Mühe, nicht zu lachen, dass ihr bereits die Tränen über die Wangen liefen.

Es war Laurie klar, dass sie das Grimassenschneiden einstellen musste. Es machte Spaß, Amy zu beobachten. Man konnte sie leicht zum Lachen bringen. Wenn Laurie jetzt noch etwas vorführte, würde Amy wahrscheinlich vom Stuhl fallen und sich zwischen den Tischen auf dem Boden wälzen. Doch Laurie konnte einfach nicht widerstehen. Sie kehrte der Tür den Rücken zu, um die Spannung noch etwas zu erhöhen, verzerrte Mund und Augen und fuhr wieder herum.

Unter der Tür stand ein sehr zorniger Mr Gabondi. Hinter ihm wurden Amy und ihre ganze Klasse fast hysterisch. Laurie sperrte den Mund auf. Doch ehe Gabondi noch schelten konnte, läutete die Glocke, und die Schüler drängten an ihm vorbei. Amy hielt sich die vom Lachen schmerzenden Seiten. Während der Lehrer sie düster anstarrte, gingen die beiden Mädchen Arm in Arm zu ihrer nächsten Klasse; sie waren viel zu atemlos, um noch zu lachen.

In dem Klassenraum, in dem er Geschichte unterrichtete, beugte sich Ben Ross über einen Projektor und bemühte sich, einen Film in das Gewirr von Zahnrädern und Linsen einzufädeln. Es war schon sein vierter Versuch, und er hatte es immer noch nicht geschafft. Verzweifelt fuhr er sich mit den gespreizten Fingern durch das braunwellige Haar. Sein Leben lang hatten ihn Geräte und Maschinen nur verwirrt: Filmprojektoren, Autos, sogar Selbstbedienungstankstellen machten ihn hilflos.

Er hatte sich selbst nie erklären können, warum er in dieser Hinsicht so ungeschickt war, und wenn irgendetwas Handwerkliches oder Mechanisches anfiel, überließ er es Christy, seiner Frau. Sie unterrichtete an der Gordon High School Chorgesang und Musik, und zu Hause war sie für alles zuständig, was Handfertigkeit erforderte. Scherzhaft behauptete sie manchmal, man könne Ben nicht einmal zutrauen, eine Glühbirne richtig einzuschrauben, was er jedoch als stark übertrieben zurückwies. Er hatte in seinem Leben schon eine ganze Reihe von Glühbirnen ausgewechselt, und soweit er sich erinnern konnte, waren nur zwei dabei zerbrochen.

Während seiner bisherigen Tätigkeit an der Gordon High School – Ben und Christy unterrichteten dort seit zwei Jahren – war es ihm gelungen, seine handwerkliche Ungeschicklichkeit nicht demonstrieren zu müssen. Auf jeden Fall war sie hinter seinem Ruf zurückgetreten, ein ganz ausnehmend tüchtiger junger Lehrer zu sein. Bens Schüler sagten, er sei so sehr bei der Sache, sei selbst an seinen Themen so beteiligt und interessiert, dass es ganz unmöglich sei, nicht auch davon gefesselt zu werden. Er sei einfach »ansteckend«, sagten sie und meinten damit, dass er sie wirklich anzusprechen verstand.

Die anderen Lehrer im Kollegium waren über Ben Ross eher geteilter Meinung. Manche waren von seiner Energie, seinem Einsatz und seiner Kreativität beeindruckt. Sie sagten, er vermittle seinen Schülern ganz neue Blickwinkel, zeige ihnen nach Möglichkeit immer die praktischen, für die Gegenwart bedeutenden Aspekte der Geschichte. Behandelte man politische Systeme, teilte er die Klasse in politische Parteien ein. Wurde ein berühmtes Gerichtsverfahren besprochen, ließ er Ankläger, Verteidiger, Zeugen und Richter durch Schüler darstellen. Andere Lehrer waren skeptischer. Einige behaupteten, er sei einfach jung, naiv und übereifrig; nach ein paar Jahren werde er sich beruhigt haben und seine Klassen auf die »richtige« Art behandeln – viel lesen, wöchentliche Prüfungen, Schülervorträge. Andere sagten nur, ihnen gefalle es nicht, dass er in der Klasse nie Anzug und Krawatte trage, und zwei oder drei Kollegen gaben einfach zu, dass sie neidisch auf ihn seien.

Wenn es aber etwas gab, worauf ganz gewiss kein anderer Lehrer neidisch zu sein brauchte, dann war es Bens völlige Unfähigkeit, mit Filmprojektoren umzugehen. So klug er sonst auch sein mochte: Jetzt kratzte er sich nur den Kopf und betrachtete ratlos das Zelluloidgewirr in dem Gerät. In wenigen Minuten musste seine Oberstufenklasse kommen, und er hatte sich schon seit Wochen vorgenommen, ihr diesen Film zu zeigen. Warum gehörte zur Lehrerausbildung eigentlich kein Kursus über das Vorführen von Filmen?

Ross rollte den Film auf die Spule zurück. Sicher gab es in der Klasse irgendeinen audio-visuellen Zauberkünstler, der den Apparat blitzschnell in Gang bringen konnte. Er ging an seinen Tisch zurück und griff nach einem Stapel Hausarbeiten, die er den Schülern zurückgeben wollte, ehe sie den Film anschauten.

Die Noten unter den Arbeiten hätte man vorhersagen können, dachte Ben, als er sie noch einmal durchging. Laurie Saunders und Amy Smith hatten wie gewöhnlich ihr Sehr Gut, dann gab es den breiten Durchschnitt und zwei misslungene Arbeiten: die eine von Brian Ammon, einem erstklassigen Footballspieler – er schien Gefallen an schlechten Noten zu finden, obwohl Ben wusste, dass der Junge intelligent genug war, um Besseres zu leisten. Der zweite Misserfolg stammte von Robert Billings, dem ständigen Versager in der Klasse. Ross schüttelte den Kopf. Dieser Robert Billings war wirklich ein Problem.

Die Glocke läutete zum Ende der Stunde. Ben hörte Türen schlagen und die Schüler durch die Gänge strömen. Es war seltsam, dass Schüler die Klassen immer blitzschnell verließen, zum Beginn der nächsten Stunde aber im Schneckentempo kamen. Insgesamt betrachtet, war Ben überzeugt, dass die High School für die Schüler heute weit angenehmer sei als zu seiner Zeit, aber es gab doch einiges, das ihn störte. Da war zum Beispiel die völlige Gleichgültigkeit der Schüler, was die Pünktlichkeit...