Sharpes Zorn

von: Bernard Cornwell

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838724669 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Sharpes Zorn


 

KAPITEL 1


In Cadiz war man nie weit vom Meer entfernt. Sein Geruch war stets präsent und fast so stark wie der Gestank des Abwassers. Wenn auf der Südseite der Stadt ein starker Wind aus Richtung Süden wehte, dann brachen sich die Wellen an der Seemauer und Gischt schlug gegen die geschlossenen Fenster an der Promenade. Nach der Schlacht von Trafalgar hatten eine Woche lang Stürme die Stadt heimgesucht, und die Böen hatten die Gischt bis zur Kathedrale getragen und die Gerüste an ihrem unfertigen Turm eingerissen. Die Wellen hatten Cadiz förmlich belagert, und Treibgut der versenkten Schiffe war in die Straßen gespült worden, später dann auch Leichen. Doch das war vor sechs Jahren gewesen, und jetzt kämpfte Spanien auf derselben Seite wie Großbritannien. Allerdings war Cadiz das Einzige, was von Spanien übrig geblieben war. Der Rest des Landes wurde entweder von Frankreich beherrscht oder hatte überhaupt keine Regierung. Guerilleros trieben sich in den Bergen herum, und auf den Straßen herrschte Armut. Spanien war ein trauriger Ort.

Februar 1811. Nachts. Wieder einmal tobte sich ein Sturm über der Stadt aus, und riesige Wellen brachen sich an der Seemauer. Der Beobachter konnte die Schaumexplosionen in der Dunkelheit sehen, und sie erinnerten ihn an den Pulverdampf von Geschützen. Und die Gewalt des Wassers war genauso unberechenbar. Gerade wenn man glaubte, die Wogen hätten ihr Pulver verschossen, da schlug das Wasser hoch über den Kai, und der Wind schleuderte die Gischt wie Kartätschenkugeln gegen die weißen Mauern der Stadt.

Der Mann war ein Priester. Padre Salvador Montseny trug eine Soutane, einen Umhang und einen breiten schwarzen Hut, den er bei dem Wind festhalten musste. Padre Salvador war ein großer Mann, Mitte dreißig und ein leidenschaftlicher Prediger von schwermütigem, aber gutem Aussehen, der jetzt im Schutze eines Torbogens wartete. Er war weit weg von zu Hause. Sein Heim lag im Norden, wo er als ungeliebter Sohn eines verwitweten Advokaten aufgewachsen war, der Salvador auf eine kirchliche Schule geschickt hatte. Er war Priester geworden, weil er nicht gewusst hatte, was er sonst hätte werden sollen, doch nun wünschte er, er hätte sich für das Soldatenleben entschieden. Und Padre Salvador glaubte, er wäre ein guter Soldat geworden, doch das Schicksal hatte ihn stattdessen aufs Meer geführt. Er war Kaplan an Bord eines spanischen Schiffes gewesen, das bei Trafalgar von den Briten erbeutet worden war, und in der Dunkelheit über ihm tobte wieder die Schlacht. Das Geräusch war das Krachen und Reißen der großen Leinenplanen, die die halb fertige Kuppel der Kathedrale schützen sollten. Im Wind klang das wie Kanonendonner. Die Planen, das wusste Padre Salvador, waren einst die Segel der spanischen Kriegsflotte gewesen, doch nach der Schlacht von Trafalgar hatte man den wenigen Schiffen, die sich noch nach Hause hatten schleichen können, die Segel abgenommen. Damals war Padre Salvador in England gewesen. Die meisten spanischen Gefangenen hatte man rasch an Land gesetzt, doch Padre Salvador war der Kaplan eines Admirals gewesen, und diesen hatte er dann auch in das feuchte Landhaus in Hampshire begleitet, wo er im Sommer den Regen und im Winter den Schnee auf den Weiden gesehen und zu hassen gelernt hatte.

Und er hatte dort auch Geduld gelernt, und in Geduld übte er sich auch jetzt. Sein Hut und der Mantel waren völlig durchnässt, und ihm war kalt, doch er rührte sich nicht. Er wartete einfach nur. Padre Salvador hatte eine Pistole im Gürtel, aber er nahm an, dass das Zündpulver ohnehin zu nass war, als dass er sie hätte einsetzen können. Doch das war egal, denn er hatte noch ein Messer. Padre Salvador schloss die Hand um den Griff, lehnte sich an die Wand und sah einen weiteren Brecher am Ende der Straße. Die Gischt rauschte an einem Fenster vorbei, dessen Läden nicht geschlossen waren. Dann hörte Padre Salvador Schritte.

Ein Mann rannte von der Calle Compania in seine Richtung. Padre Salvador wartete weiter. Er war nur ein Schatten inmitten anderer Schatten, und er sah, wie der Mann zu der Tür gegenüber ging. Sie war unverschlossen. Der Mann ging hinein, und der Priester folgte ihm rasch und stieß die Tür im selben Augenblick auf, da der Mann sie hinter sich schließen wollte. »Gracias«, sagte Padre Salvador.

Sie standen in einem gewölbten Durchgang, der auf einen Hof führte. In einer Nische flackerte eine Laterne, und als der Mann sah, dass Padre Salvador ein Priester war, wirkte er erleichtert. »Wohnen Sie hier, Padre?«, fragte er.

»Ich bin hier, um jemandem die Letzte Ölung zu erteilen«, antwortete Padre Salvador und schlug sich das Wasser von der Soutane.

»Ach, die arme Frau da oben.« Der Mann bekreuzigte sich. »Das ist wahrlich eine furchtbare Nacht.«

»Wir haben schon Schlimmeres überstanden, mein Sohn, und auch das wird vorübergehen.«

»Natürlich«, sagte der Mann. Er ging in den Hof und die Treppe zum Balkon im ersten Stock hinauf. »Sind Sie Katalane, Padre?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ihr Akzent, Padre.« Der Mann holte seine Schlüssel aus der Tasche, schloss die Tür auf, und der Priester schien sich an ihm vorbeidrängen zu wollen, um die Treppe in den zweiten Stock hinaufzusteigen.

Der Mann öffnete seine Tür und fiel dann nach vorn, als Padre Salvador sich plötzlich umdrehte und ihm einen Stoß versetzte. Der Mann stürzte zu Boden. Er hatte ein Messer und versuchte es zu ziehen, doch der Priester trat ihm hart unters Kinn. Dann flog die Tür zu, und sie waren im Dunkeln. Padre Salvador kniete sich auf die Brust des gestürzten Mannes und hielt ihm das Messer an die Kehle. »Keinen Laut, mein Sohn«, befahl er, tastete unter dem Mantel seines Opfers nach dem Messer und warf es in den Flur. »Du wirst nur sprechen«, fuhr er fort, »wenn du gefragt wirst. Dein Name ist Gonzalo Jurado?«

»Ja.« Jurados Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Hast du die Briefe der Hure?«

»Nein«, antwortete Jurado und quiekte, als Padre Salvadors Klinge die Haut an seinem Hals ritzte.

»Es wird dir wehtun, wenn du lügst«, sagte der Priester. »Hast du die Briefe?«

»Ich habe sie, ja!«

»Dann zeig sie mir.«

Padre Salvador ließ Jurado aufstehen und blieb dicht bei ihm, als Jurado in ein Zimmer ging, das zur Straße hin lag, auf der der Priester gewartet hatte. Stahl ließ einen Feuerstein Funken schlagen, dann wurde eine Kerze entzündet. Nun konnte Jurado seinen Angreifer deutlich sehen, und er glaubte, es mit einem verkleideten Soldaten zu tun zu haben, denn das Gesicht wollte einfach nicht zu einem Priester passen. Es war finster, die Augen gnadenlos. »Die Briefe stehen zum Verkauf«, erklärte Jurado und schnappte dann nach Luft, als Padre Salvador ihm in den Magen schlug.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nur sprechen, wenn ich dich etwas frage«, sagte der Priester. »Und jetzt zeig mir die Briefe.«

Der Raum war klein, aber gemütlich. Es war offensichtlich, dass Jurado Luxus zu schätzen wusste. Zwei Sofas standen einem leeren Kamin gegenüber, über dem ein Spiegel mit goldenem Rahmen hing. Der Boden war mit Teppichen bedeckt, und an der Wand hingen drei Gemälde nackter Frauen. Unter dem Fenster stand ein Sekretär, und dort schloss der verängstigte Mann nun eine Schublade auf und holte einen Stapel Briefe heraus, die mit einem schwarzen Band zusammengebunden waren. Den legte er dann auf den Sekretär und trat einen Schritt zurück.

Padre Salvador schnitt das Band auf und breitete die Briefe auf der mit Leder bezogenen Schreibfläche aus. »Sind das alle?«

»Alle fünfzehn«, antwortete Jurado.

»Und die Hure?«, verlangte Padre Salvador zu wissen. »Hat sie auch noch welche?«

Jurado zögerte. Dann sah er das Messer des Priesters im Kerzenschein funkeln. »Sie hat noch sechs.«

»Sie hat sie behalten?«

»Ja, Padre.«

»Warum?«

Jurado zuckte mit den Schultern. »Fünfzehn reichen doch, oder? Vielleicht kann sie die anderen ja später verkaufen. Oder vielleicht mag sie den Mann ja immer noch. Wer weiß? Wer versteht schon die Frauen? Aber …« Er wollte gerade eine Frage stellen, doch dann bekam er Angst, wieder geschlagen zu werden.

»Sprich weiter«, forderte Padre Salvador ihn auf und nahm sich willkürlich ein paar Briefe.

»Woher wissen Sie überhaupt von diesen Briefen? Außer den Engländern habe ich niemandem davon erzählt.«

»Deine Hure ist zur Beichte gegangen«, antwortete Padre Salvador.

»Caterina? Sie hat gebeichtet?«

»Das macht sie jedes Jahr einmal«, erklärte Padre Salvador und überflog einen Brief, »und zwar immer am Namenstag ihrer Schutzheiligen. Sie ist in die Kathedrale gekommen, hat Gott von ihren vielen Sünden erzählt, und ich habe ihr in seinem Namen die Absolution erteilt. Wie viel willst du für die Briefe?«

»Dreihundert englische Guineas«, antwortete Jurado. »Es sind fünfzehn Briefe, und ich will zwanzig pro Stück.« Allmählich kehrte sein Selbstbewusstsein zurück. Er hatte stets eine geladene Pistole in der obersten Schublade. Jeden Tag prüfte er den Hahn und mindestens einmal im Monat das Pulver. Und seine Angst war inzwischen weit genug abgeklungen, dass er verstand, dass es sich bei Padre Salvador tatsächlich um einen Priester handelte – einen Furcht erregenden Priester zwar, aber immer noch ein Mann Gottes. »Wenn Sie spanisches Geld vorziehen, Padre«, fuhr er fort, »dann gehören die Briefe für dreizehnhundert Real Ihnen.«

»Dreizehnhundert Real?«, erwiderte Padre Salvador gedankenverloren. Er las gerade einen der Briefe. Er war auf Englisch geschrieben, doch das bereitete dem Priester keine Probleme, das hatte er in Hampshire gelernt. Der Verfasser des Briefes war über...