Die Moorhexe - Horror-Roman

von: Wolfgang Hohlbein

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN: 9783838746425 , 417 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Die Moorhexe - Horror-Roman


 

 


Das Haus stand da, eingehüllt in eine Säule aus Dunkelheit, wie schwarz leuchtender, träger Nebel, ein kleines, böses, gedrungenes Etwas, dessen Konturen nicht ganz genau zu erkennen waren. Sie lösten sich auf in der Dunkelheit, die wie schwarze Säure war.

Sie rannte.

Es gab zwei Dinge, deren sie sich völlig bewusst war: das eine war, dass dies ein Albtraum war – was an sich schon ungewöhnlich genug war, denn wer weiß schon, dass er träumt, während er träumt? –, und das andere, dass dies kein gewöhnlicher Albtraum war. Er hatte begonnen als einer jener sinnlosen, durch und durch unlogischen Träume, in denen man läuft und läuft und läuft und doch nicht von der Stelle kommt, in denen das Böse hinter einem ist und man weiß, dass es einen erwischen wird, wenn man auch nur ein einziges Mal den Fehler begeht, sich herumzudrehen und es anzusehen, und ohne dass man in der Lage ist, die andere, weit beruhigendere Konsequenz zu begreifen, die sich aus diesem Gedanken ergibt: dass man nämlich in Sicherheit ist, wenn man sich ganz einfach nicht herumdreht.

Ja, so hatte er begonnen.

Aber dann war … etwas geschehen. Sie wusste nicht, was, aber sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es etwas gewesen war, das von außen kam; eine Störung aus dem Kosmos jenseits ihrer kleinen privaten Albtraumwelt, vielleicht etwas so Banales wie ein Geräusch irgendwo im Haus, die Berührung von Stefans Hand, der sich im Schlaf herumgedreht hatte. Sie lag da, begriff plötzlich, dass sie träumte, und wartete darauf, aufzuwachen, was normalerweise die logische Folgerung aus dieser Erkenntnis gewesen wäre.

Normalerweise.

Heute nicht.

Sie erwachte nicht, aber dafür veränderte sich irgendetwas im Szenario ihres Traumes. Es war ihr nicht möglich, die Veränderung in Worte zu fassen, nicht einmal in Gedanken, aber sie war da, sie sah sie, roch und hörte sie. Es war eine Veränderung im Ganzen, keine Details, ein sonderbarer, im ersten Moment eher verwirrender als angstmachender Effekt, als wäre die ganze Welt um ein winziges Stückchen mehr in die Richtung geglitten, in der der Wahnsinn und der Terror zu Hause waren. Sie war noch immer gerannt, noch immer getrieben von ihrer Albtraum-Furcht, die nichts von ihrem Schrecken verloren hatte, jetzt, nachdem sie wusste, was es war. Ganz im Gegenteil: sie wusste jetzt, dass der Terror hinter ihr war, der Tod oder Schlimmeres, der nur darauf wartete, dass sie stehenblieb und sich herumdrehte, aber sie wusste auch, dass es ihr gar nichts nutzen würde, sich nicht herumzudrehen. Der Schwarze Mann würde sie trotzdem kriegen, nur etwas später. So war sie weitergelaufen wie von Furien gehetzt, und endlich war das Haus vor ihr aufgetaucht: ein kleines, böses, gedrungenes Etwas, dessen Konturen nicht ganz genau zu erkennen waren. Sie lösten sich auf in der Dunkelheit, die wie schwarze Säure war, wie schwarz leuchtender, träger Nebel, ein Quader aus Schwärze, mit Furcht getränkt, der direkt aus der Hölle emporwuchs, wie ein Kokon aus Finsternis und Angst. Und noch immer rannte sie weiter, unfähig, stehen zu bleiben. Auch dieses Haus machte ihr Angst, aber sie war nicht halb so groß wie die Furcht vor dem namenlosen Schrecken hinter ihr. Sie spürte die Berührung der Dunkelheit auf der Haut, als sie in den Mantel der Schwärze eindrang, der das Haus umschloss.

Dann erkannte sie es.

Es war ihr Haus.

Und auch wieder nicht.

Auf unmöglich in Worte zufassende Weise war ihr dieses Haus gleichzeitig vertraut wie entsetzlich fremd, versprach es gleichzeitig Schutz wie etwas unbeschreiblich Böses, war es zugleich behütend wie drohend. Sie wollte stehenbleiben, aber sie konnte es noch immer nicht. Ihre Arme und Beine bewegten sich wie von selbst, gegen ihren Willen, und das Etwas war noch immer hinter ihr. Sie wusste nicht, was es war – niemand wusste es, obgleich es zahllose Opfer gefordert hatte, Hunderte, Tausende, vielleicht Hunderttausende von Menschenleben genommen hatte (wie viele Menschen waren einfach nicht mehr aufgewacht, und man hatte Herzschlag oder etwas ähnlich Unverfängliches auf ihren Totenschein geschrieben?). Denn es war die Art des Albtraum-Todes, denjenigen zu vernichten, der sich herumdrehte, um sein Gorgonenhaupt zu schauen. Aber sie hörte seine Schritte, ein schwerfälliges, feuchtes Platschen, immer ein ganz kleines bisschen schneller als ihre eigenen, seine Atemzüge, ein dumpfes, rasselndes Hecheln, spürte seine Nähe, seine düstere, ungemein böse Ausstrahlung, und sah einen entsetzlich verzerrten, verkrüppelten Schatten, der hinter ihrem eigenen heranwuchs und ganz langsam näher kam.

Nein, sie konnte nicht stehen bleiben. Sie konnte nur weiterlaufen, weiter auf dieses so vertraute und gleichzeitig so entsetzlich fremde Haus zu, das vor ihr liegt, eingehüllt in einen Mantel aus wabernder Finsternis, ein schwarzes Fachwerkhaus, geronnene Schwärze und das Knochenweiß des Todes, kalt und abweisend, wie ein böses Omen, sie kann nur laufen und hoffen und beten, dass sie schneller als das DING hinter ihr ist.

Völlig außer Atem und fast verrückt vor Angst stolpert sie weiter, weiter auf das Haus zu, dessen Fenster ihr mit einem Male wie große ausgelaufene Augenhöhlen erscheinen. Die Tür schwingt auf, kurz bevor sie sie erreicht, sie rennt weiter, taumelt hindurch und fällt auf die Knie, und das dumpfe Geräusch, mit dem die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, geht fast im rasenden Hämmern ihres eigenen Herzschlages unter. Aber sie ist in Sicherheit. Hier drinnen kann ihr nichts geschehen, denn das Haus wird sie beschützen, es ist ihr Haus, ihre Heimat, ein Teil ihres Selbst und …

Als sie aufsieht, begreift sie, wie entsetzlich sie sich getäuscht hat.

Dies ist nicht ihr Haus. Es hat so ausgesehen, von außen, und es gibt auch hier drinnen noch eine vage Ähnlichkeit, aber was immer es ist, es ist nicht ihr Haus.

Dann begreift sie, aber sie weiß auch im selben Moment, dass dieses Begreifen zu spät kommt: Das DING dort draußen war nicht die wahre Gefahr. Es war ein Köder, eine Schimäre, die sie hierher gelocktgejagthat, und dieses Haus, dieses Etwas, das so aussieht wie ihr Haus, ist die eigentliche Falle. Eine Falle, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Aus schreckgeweiteten Augen sieht sie sich um, starrt in die gewaltige, kuppelförmige Halle, die sich vor ihr ausdehnt. Alles ist so, wie es sein sollte, aber ins Gigantische vergrößert und wie aus schwarzverchromtem blitzenden Stahl gehämmert: Da ist der (verchromte) Korridor, die drei (eisernen) Türen, die uralte Bauerntruhe (aus Stahl), die Treppe nach oben (mit zwei Meter hohen Stufen). Der Boden ist so glatt, dass sie beinahe stürzt, als sie aufzustehen versucht. Ihre Schritte und ihr Atem verursachen unheimliche, klackende Echos auf dem schwarzen Chrom. So muss es sein, wenn man tot ist, denkt sie. Vielleicht ist sie tot. Aber nein, das ist sie nicht, und das, was hier auf sie gewartet hatnoch immer wartet –, ist viel schlimmer als der Tod.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, hört sie das Geräusch der Tür. Sie dreht sich herum, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sie aufschwingt, mit einem entsetzlichen, metallischen Quietschen, ein Schmerzensschrei aus einer Kehle aus Stahl.

Dann sieht sie den Mann. Er steht ganz plötzlich da, tritt nicht etwa aus den Schatten oder wächst aus dem Boden, sondern ist einfach da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Er ist kein Fremder. Für den Bruchteil eines Herzschlages, bevor sein Gesicht zu brennen beginnt, erkennt sie ihn, und sie ist überrascht, dass ausgerechnet er es ist. Dann schießt Feuer aus seinem Haar, seiner Kleidung und seinem Fleisch, weiße und rote und gelbe Flammen hüllen ihn ein, verwandeln ihn in eine lebende Fackel, die langsam auf sie zugeht.

Sie taumelt zurück, weicht dem Griff der brennenden, zuckenden, schwarz werdenden Hände im letzten Moment aus. Sie will schreien, aber sie kann es nicht, sondern taumelt weiter, bis sie gegen die Wand prallt. Der brennende Mann geht an ihr vorüber, so dicht, dass sie die entsetzliche Hitze der Flammen spürt, die ihn einhüllen. Ganz kurz kann sie sein Gesicht sehen, durch den Vorhang aus Feuer hindurch. Da ist kein Schmerz in seinen Augen, nur Zorn, ein uralter, unstillbarer Zorn, Hass auf alles Lebende, Denkende, Fühlende, auf alles, was glücklich sein kann.

Der brennende Mann geht weiter. Seine Schritte hinterlassen lodernde weiße Fußabdrücke auf dem Boden, eine Spur aus Feuer. Das Prasseln der Flammen bricht sich unheimlich an den Wänden, als er auf die Treppe zugeht.

Eine Weile steht sie einfach reglos da, unfähig, sich zu rühren, unfähig, wegzulaufen, zu schreien, irgendetwas zu tun, sieht dem brennenden Mann zu, wie er die Treppe erreicht und hinaufgeht, eine Spur aus brennenden Tümpeln hinter sich lassend. Dann, auf der obersten Stufe, bleibt er stehen, dreht sich herum, hebt die Hand, seine entsetzliche, halbverkohlte Hand, und winkt ihr zu, und wieder werden sich die Flammen vor seinem Gesicht für einen winzigen Moment teilen; sie wird den Hass in seinen Augen sehen, diese ungeheuerliche, unendliche Bosheit. Trotzdem, wie von einem fremden, viel stärkeren Willen besessen, wird sie auf die Treppe zugehen, und mit einem Male ist auch sie so groß wie dieses Haus, sie wird wachsen, bis alles...