Sonderpädagogik und Inklusion

von: Cornelius Breyer, Günther Fohrer, Walter Goschler, Manuela Heger, Christina Kießling, Christoph Ratz

Athena Verlag, 2013

ISBN: 9783898968324 , 286 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

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Preis: 19,99 EUR

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Sonderpädagogik und Inklusion


 

Andreas Möckel


Heilerziehung, Bildsamkeit und Inklusion in der Geschichte der Heilpädagogik

1 Vorbemerkung


Seit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN im Jahre 2006 stellt sich für die Erziehungswissenschaft auch die Fachdiskussion zur Geschichte der Heilerziehung neu dar.[1] Bisher war es so, wie Heinrich Hanselmann es 1932 in seiner Antrittsvorlesung sagte.

»So geht denn ziemlich vom Beginn unseres Volksschulwesens an bis in unsere Zeit jener breiten Heerstraße der Bildung ein schmaler Pfad parallel, dem man den sehr mißverständlichen Namen Heilpädagogik gegeben hat« (Hanselmann 1932, 2).

Wenn man von der Forderung der Inklusion ausgeht, muss sich das insofern radikal ändern. Es muss in Zukunft eine viel stärkere gegenseitige Empathie aufgebracht werden als bisher. Immer wieder sprachen sich Pädagogen in den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern in Schulen aus. Trotzdem bildete sich der »schmale Pfad« Heilpädagogik heraus. Jetzt soll die Konsequenz daraus gezogen werden, dass Heilerziehung Pädagogik ist »und nichts anderes«.[2]

Elmar Heinz Tenorth und Sieglind Ellger-Rüttgardt legen diesen Befund in einem Bericht über die Ergebnisse eines groß angelegten Forschungsprogramms zur »Geschichte und Wirksamkeit von Ideen im Europa der Neuzeit« nahe (Raphael/Tenorth 2006). Sie fassen die Geschichte der Heilerziehung seit der Aufklärung mit Hilfe des Begriffes der »Bildsamkeit« (Tenorth 2006; Ellger-Rüttgardt 2008).[3] Die Ursprünge der Heilpädagogik lassen sich als Ursprünge der Pädagogik verstehen (Möckel 1988, 24 f.). Heilpädagogik kann zeigen, wo Erziehung ihren Sitz im Leben hat. Ob das auch mit dem Begriff einer Idee der Bildsamkeit zu leisten ist, hängt davon ab, wie »Bildsamkeit« verstanden wird.

Tenorth bietet eine dreigeteilte Periodisierung der Geschichte der Heilerziehung an. Die erste Phase beginnt in der Aufklärung, und zwar mit der Wirkung der Idee der Bildsamkeit. Tenorth zeigt das an den ersten Instituten für den Unterricht und die Erziehung taubstummer und blinder Kinder auf. Die zweite Phase setzt er mit dem Beginn der »Selbstdestruktion« der Idee der Bildsamkeit an. Die dritte Phase, so kann man hinzufügen, beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee der Bildsamkeit macht sich in den Forderungen von Integration und Inklusion neu geltend.[4]

Ich will zunächst Tenorths Gedanken der Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit referieren und dann diese These diskutieren.

2 Die Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit


Tenorth sieht in der ersten Phase der Heilerziehung ein wirksames System am Werk. Die Natur des Kindes und die Erfindungsgabe der Erzieher, beide verklammert durch die Idee der Bildsamkeit, waren ein wirksames System, das jedoch bewusst sein musste, wenn es wirksam bleiben sollte. Der Systemcharakter der heilerzieherischen Methoden sei jedoch zerfallen, und die »Einheit einer antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten Technologie« habe sich aufgelöst (Tenorth 2006, 513). An die Stelle der in der ersten Phase der Heilerziehung erfolgreichen »Antizipation einer besseren Zukunft« (ebd.) seien »die Klassifikation der schlechten Gegenwart des Klienten« (ebd.) und eine berufsständische »professionelle Technik« (ebd.) getreten.

Die Pädagogen, wen immer Tenorth damit meint (Universitätsprofessoren, Dozenten der Lehrerseminare, höhere Schulverwaltungsbeamte, Taubstummen- und Blindenlehrer, Lehrer für geistig behinderte Kinder) hörten Mitte des 19. Jahrhunderts auf, sich an der Idee der Bildsamkeit auszurichten und bezogen sich mehr und mehr auf Medizin, Psychologie und Psychiatrie. Sie orientierten sich nach der ersten, innovativen Phase in der Fortentwicklung der Profession der Heilpädagogik an den »Erfahrungen mit der Technologie« (ebd.) und stützten sich auf die Wirksamkeit der gefundenen und erfundenen heilpädagogischen Methoden in der Gehörlosen- und in der Blindenerziehung. Sie orientierten sich ferner an den »Veränderungen im Verständnis der Natur des pädagogischen Klienten« (ebd.).

Die Folge davon war, dass die Pädagogen und Sonderpädagogen aus der Idee der Bildsamkeit nicht das Hilfsmittel bezogen, um den neuen anthropologischen Sichtweisen von Medizin, Psychologie und Psychiatrie kritisch zu begegnen und den Primat der Bildsamkeit zu behaupten. Tenorth spricht an dieser Stelle von der »Selbstdestruktion des ursprünglichen Anspruchs von Bildsamkeit« (ebd.). Dieser Anspruch zur Begründung und Kontrolle des pädagogischen Handelns sei preisgegeben worden. Im »Diskurs der Pädagogen« ließen diese die »hypothetische Anthropologie« fallen und wandten sich stattdessen medizinischen, psychologischen und psychopathologischen Vorstellungen zu (ebd.).

»Der Raum der Möglichkeiten, den die Pädagogen antizipieren und für die Gestaltung ihrer eigenen Welt nutzen können, verändert sich, nicht mehr die hypothetische, sondern die gegebene Welt und ein anderes Bild der Natur regieren die Konstruktion der pädagogischen Realität« (ebd., 514).

Das ist ein harter Vorwurf; denn er besagt, dass die Heilerzieher aufhörten, pädagogisch innovativ zu denken. Tenorth erläutert sein Urteil über die beginnende Phase der Dekonstruktion an zwei Beispielen. Das eine ist die Taubstummenerziehung nach den Aufsehen erregenden Anfängen. Sie habe sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen nationalistisch eingefärbten Methodenstreit verloren, ohne die eigene Praxis kritisch zu befragen. Es seien eher »statuspolitische Kämpfe« (ebd.), in deren Rahmen die eigenen Wahrnehmungen und Vorstellungen – und die Versprechen der anderen – bewertet und bestimmt worden seien. Daneben sei auch die Entwicklung der Methode durch die zunehmende Professionalisierung bedingt. Taubstumme und blinde Lehrer wurden aus dem Berufsstand der Taubstummen- und Blindenlehrer hinausgedrängt. Tenorth weist auf die großen Vertreter der Pioniergeneration hin, die von den ihnen anvertrauten gehörlosen oder blinden Kindern selbst lernten. Die Debatte über die »Idiotenerziehung« im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das zweite Beispiel Tenorths. Er spricht von »Selbstkritik ohne methodisch präzise Zurechnung der Erfahrungen« (ebd., 515).

Die einseitige Bevorzugung der sog. »deutschen Methode« (der »lautsprachlichen« Bildung Taubstummer) belege den Wandel in den Grundannahmen, und Tenorth zitiert Friedrich Diesterweg, der gegen Friedrich Moritz Hill gewandt zu bedenken gab, nur »fortgesetzte Versuche« könnten entscheiden, ob die Gestenmethode oder die Sprachausbildung besser sei. Es wäre, so zitiert Tenorth Diesterweg, »übrigens nicht das erste Mal, dass die Pädagogen mehr gewollt haben, als sie hätten wollen sollen« (ebd.). Tenorths Schlussfolgerung:

»Diesterwegs Argumente belegen nicht nur die Skepsis gegenüber einer pädagogischen Technologie und Ambition, er ruft in Erinnerung, dass ›lange Erfahrung und fortgesetzte Versuche‹ zwar vorlagen, aber nicht verarbeitet waren, er läutet zugleich den zweiten Referenzkontext für den Wandel der aufklärerischen Erfindung des universalen Bildsamkeitskonzepts ein, nämlich das sich ändernde Verständnis von ›Natur‹« (ebd., 516).

Die skeptische Mahnung Diesterwegs zeige den Wandel der Heilerziehung im Kontext der Psychologie an, die sich ihrerseits veränderte und empirisch wurde. Diese Wendung der Psychologie habe »zur systematischen Reduktion der pädagogischen Idee der Bildsamkeit« geführt (ebd.). Diesterwegs Kritik weise schon darauf, dass es der Zeit darauf angekommen sei, die »Anlagen« empirisch und psychologisch zu identifizieren, um das pädagogisch Mögliche zu erfahren. Diesterweg, wie bereits Herbart, akzeptiere die Psychologie als Instanz, die zeigen könne, wo die »Grenzen der Bildsamkeit« lägen.

»Anders als die pädagogischen Innovateure um 1800 verlagert er mit diesem Denken über die Natur als ›Anlage‹ die Anstrengung des Pädagogen von der ›Erfindung‹ und der Technologie weg zur Diagnose und Beobachtung des Gegebenen hin« (ebd.).

Nicht allein die Pädagogik der Taubstummen, die gesamte Theorie und Praxis der Heil- und Sonderpädagogik schließe sich damit bald nach 1850 bis weit in das 20. Jahrhundert hinein an ein Verständnis der Natur des Kindes und des Behinderten, das primär auf die Diagnostik der gegenwärtigen Lernlage setze und in subtiler Klassifikation der Anlagen und der gegebenen Natur des Lernenden die eigenen Handlungsoptionen begründe. Bildsamkeit bleibe zwar die »Theorie des Zöglings«, wie Wilhelm Dilthey gesagt habe, »die Individualität« des Zöglings werde aber nicht mehr emphatisch gesehen und als Entwurf einer besseren Zukunft verstanden, sondern begrifflich mit größter Distanz formuliert. Gut pädagogisch gelte zwar immer noch die Prämisse, dass sich die Individualität erst »im unmittelbaren Vollzug der Erziehung« erweisen müsse. Das geschehe jetzt aber nicht mehr »konstruierend, sondern die Natur beobachtend, nicht mehr sie antizipierend, sondern konstatierend« (ebd.).

Die wesentliche Referenzliteratur, aus der »der Pädagoge im Allgemeinen und auch der Pädagoge der Behinderten« den Begriff der »Individualität« des Kindes bezögen, sei nicht anthropologisch, sondern im Kontext der »Pathologie« des Kindes entwickelt. »Begabung«, »Anlagen«, »Talent«, »Gene«, aber auch »Schwachsinn« oder »jugendlicher...