Bis du stirbst - Psychothriller

von: Michael Robotham

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641063023 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Bis du stirbst - Psychothriller


 

Ein ganz schlechter Tag

Some days are diamonds. Some days are stones. John Denver hatte das gesungen, bevor sein Flugzeug in die Monterey Bay stürzte. Es war kein Diamonds-Tag für ihn gewesen.

Sami Macbeths Tag bestand bis jetzt nur aus Stolpersteinen. Als er aus der U-Bahn-Station Oxford Circus heraustritt, blinzelt er ins Sonnenlicht und muss so heftig husten, dass es sich anfühlt, als wolle sein Schließmuskel durch die Lunge hochkommen. Seine Kleider sind zerrissen und voller Blutflecken. Sein Gesicht ist schweißbedeckt. Seine Haut mit Staub überzogen.

Sami duckt sich unter dem Absperrband hindurch. Leute weichen ihm aus und starren ihn an wie ein Gespenst.

Sechseinhalb Pfund TATP – übelstes Teufelszeug – haben gerade ein klaffendes Loch in einen voll besetzten Waggon der Central Line gesprengt, das Dach abgeschält, als ob ein Riese eine Dose Pfirsiche geöffnet hätte.

Es war schrecklich da unten. Chaos. Im einen Augenblick noch stand Sami an den Türen, und im nächsten lag er auf dem Rücken, mit Armen und Beinen zappelnd wie ein umgedrehter Käfer. Papier flog durch die Luft, Glas regnete auf ihn herab, und der Zug erbebte und hielt an.

Einen Moment lang wurde es ruhig und vollkommen dunkel. Dann begann das Schreien.

Menschen waren verletzt. Starben. Gott weiß wie viele. Wer hatte im anderen Wagen neben Dessie gesessen? Ein Kerl in einem Jesus-T-Shirt, eingeschlafen, sein Kopf nickte wie bei einem Wackeldackel. Daneben ein Anzugmensch mit Aktentasche. Ein Mädchen hatte auch noch dagestanden, an der Tür, mit einer kurzen Jacke. Das weiße Kabel ihrer Ohrstöpsel hing unter ihren langen Haaren heraus.

Sami blickt die Oxford Street hinauf und hinunter. Der Verkehr steht still. Busse, Lieferwagen, PKWs und Taxis – nichts geht mehr. Jemand gibt ihm eine Flasche Wasser. Er kippt sie sich über den Kopf. Ruß rinnt in seinen Mund, und es knirscht zwischen seinen Zähnen.

Als er zwischen zwei Lastwagen hindurch über die Straße geht, vergisst er, die Füße zu heben, und stolpert über den Bordstein. Der Fahrer ruft ihm etwas zu. Sami antwortet nicht. Er biegt in die Argyll Street ein und geht über die Great Marlborough, weicht Fußgängern aus. Er geht schnell.

Die Leute sehen sich an. Schockiert. Ratlos. Sami hört Fetzen ihrer Gespräche. »… Terroristen …«, »… eine Bombe …«, »… U-Bahn …«

Sie haben Angst. Sami hat auch Angst. Dessie hat sich gerade direkt ins verdammte Himmelreich gebombt. Er wird keinen großen Sarg brauchen – eine Y-förmige Kiste, damit seine Beine und seine Eier noch reinpassen.

Der Rucksack schlägt gegen Samis Rücken. Den sollte er fallen lassen und wegrennen. Das Risiko eingehen. Aber was würde Murphy dann mit Nadia machen?

Welche Ansage ist am Bahnsteig immer zu hören? »Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Melden Sie jedes verdächtige Verhalten unverzüglich einem Mitarbeiter der Bahn«.

Sami sollte Murphy anrufen. Die ganze Sache erklären. Doch was sollte er ihm sagen? »Hey, Mr Murphy, auf dem Nachhauseweg ist uns was Komisches passiert. Wir haben aus Versehen einen Zug in die Luft gejagt, und Dessie hat den Kopf und noch ein bisschen mehr dabei verloren …«

Sami hat kein Handy. Dessie hatte das nicht gewollt. Jetzt bemerkt er jemanden, der eine SMS schickt. Der Kerl ist unrasiert, trägt tief sitzende Levis, die seine Arschritze sehen lassen.

Sami fragt, ob er das Handy kurz ausleihen dürfe. Der Kerl starrt ihn an. »Warst du da unten, Mann? Respekt.« Er gibt Sami das Handy. »Nimm. Ich komm sowieso nicht durch.«

Sami tippt eine Nummer. Nichts geschieht.

»Zu viele Gespräche. Alle wollen jetzt telefonieren«, sagt der Arschritzentyp. »Das Netz ist überlastet.«

Sami gibt ihm das Handy zurück und geht weiter, überquert an der nächsten Kreuzung die Straße. Er entdeckt ein schwarzes Taxi. Öffnet die Tür. Rutscht auf den Rücksitz. Lässt den Rucksack zwischen seinen Füßen auf den Boden fallen.

»Soll das ein Witz sein, mein Freund?«, fragt der Fahrer. Er zeigt auf die Straße vor ihnen. »Ich hab mich in vierzig verdammten Minuten keinen Zentimeter bewegt.«

Sami sieht sich im Rückspiegel. Sein Gesicht ist mit dunklem Ruß verschmiert, abgesehen von zwei weißen Linien, eine auf seiner Nasenspitze und die andere ein Rinnsal aus Schweiß, das über den Wangenknochen am Hals hinunterläuft. Wie Kriegsbemalung. Er kommt aus einer Schlacht.

Der Fahrer hört Radio.

»Was ist passiert?«, fragt Sami.

»Eine Bombe«, sagt der Fahrer. »Da könnten noch mehr sein.«

»Mehr was?«

»Selbstmordattentäter.« Der Fahrer sieht ihn an. »Sie müssen da unten gewesen sein. Sie sehen aus wie der verdammte Al Jolson.«

»Wer ist das?«

»Sie haben noch nie vom verdammten Al Jolson gehört?«

»Nein.«

»Das war ein Weißer, der sein Gesicht schwarz bemalt und wie ein Nigger gesungen hat.«

»Warum?«

»Weiß der Geier.«

Der Fahrer hat seine Tür offen stehen. Er steckt sich eine Zigarette an, der Rauch wird sofort verweht.

»Haben Sie ein Telefon«?, fragt Sami.

»Ja.«

»Könnte ich das leihen«?

»Wird Ihnen nicht viel nützen. Die haben das Netz lahmgelegt, oder das ganze Teil ist zusammengebrochen. Die halbe Welt versucht gerade, zu Hause anzurufen.«

»Warum sollten sie das Netz lahmlegen?«

»Um zu verhindern, dass die noch mehr Bomben zünden. So machen das die Turbanträger doch – sie nehmen Handys. Eine Nummer wählen und bumms. Keine Ahnung, was das soll. Leben und leben lassen, sag ich immer. Wir sollten einen Deal mit den Terroristen machen – wir marschieren nicht mehr in ihre verdammten Länder ein, und sie hören auf, uns in die Luft zu jagen.«

»Vielleicht waren es gar keine Terroristen«, gibt Sami zu bedenken.

»Aber natürlich waren es die verdammten Terroristen«, antwortet der Fahrer.

»Sie bluten doch nicht etwa, oder? Ich will kein verdammtes Blut auf meinen Sitzen.«

»Ich glaube nicht.«

»Sie sind voll mit dem schwarzen Scheiß. Vielleicht sollten Sie doch besser aussteigen.«

»Kann ich nicht einfach nur hier sitzen?«

»Sieht mein Taxi vielleicht aus wie ein verdammtes Rucksackhotel?«

Sami steigt aus. Schwingt sich den Rucksack über eine Schulter. Lässt den Kopf hängen und geht weiter.

Als er aus der Rupert Street in die Shaftesbury Avenue einbiegt, rennt er fast einen großen, fetten Bullen um, der an der Ecke steht und den Verkehr regelt. Wirklich fett, weit über zwei Zentner. Seine Weste, die über und über mit Polizeispielzeugen behängt ist, lässt ihn noch fetter aussehen.

Sami entschuldigt sich. Der Bulle befiehlt ihm, langsamer zu gehen und zu gucken, wo er hintritt. Dann bemerkt er Samis Klamotten und den Rucksack.

»Was trägst du da mit dir herum, Junge?«

»Nichts.«

»Sieht für nichts aber ziemlich schwer aus.«

»Dreckige Wäsche.«

»Zeig mal.«

»Da ist ein Zahlenschloss dran.«

»Schließt du deine Schmutzwäsche immer ein?«

»Es laufen ’ne Menge Perverse rum«, sagt Sami. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«

Der Bulle greift schon nach dem Funkgerät an seinem Arm.

Er befiehlt Sami, den Rucksack abzusetzen und langsam rückwärtszugehen.

Samis Eingeweide lassen ihn im Stich. Seine Haare sind voller Glassplitter. Seine Kleider total verdreckt. Er kann das hier jetzt nicht brauchen. Nicht heute. Nicht nach allem, was er durchgemacht hat. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein zwinkert der Verschluss einer Kamera, und er sieht ein Dutzend Jahre Gefängnis vor sich. Der Verschluss zwinkert wieder, und dieses Mal sieht er seine Schwester Nadia auf dem Bild, wie sie auf einem Bett liegt, ihr Kleid klebt an ihrem Körper, eine Cracknutte für Tony Murphy.

Der schwarze Polizist packt Samis Arm. Der reagiert instinktiv. Rammt seinen Kopf in den Bauch des Bullen, hört, wie Luft pfeifend aus dessen Mund und Nase entweicht. Jetzt stürmt er los, rempelt Fußgänger an, springt über einen angeleinten Hund, bricht durch eine Warteschlange, überrennt einen Mann, der ein Tablett mit Sandwichs trägt.

Die U-Bahn ist geschlossen. Die Treppen wie leer gefegt. Bahnpolizei an den Stufen. Auf der anderen Straßenseite, zwischen Krankenwagen und Feuerwehrautos, stehen noch mehr Polizisten, sie halten die Menschenmenge zurück. Neugierige. Gaffer.

Sami prallt gegen einen Cafétisch, wobei er eine Weinflasche umkippt und eine Frau, die gerade beim Essen ist, umreißt. Ein Kellner beschimpft ihn. Er rennt weiter. Den Rucksack über einer Schulter. Der klatscht gegen seinen Rücken. Er sollte stehen bleiben und die Gurte fester ziehen, den Hüftgurt schließen, das Gewicht besser verteilen, aber er hat zu viel Angst, um stehen zu bleiben.

Lauf. Das sagen ihm alle seine Sinne. Lauf einfach. Weg von hier. Versuch, einen ruhigeren Ort zu finden. Den Rucksack zu verstecken. Einen Moment auszuruhen, um nachdenken zu können.

Er duckt sich in eine Gasse, lehnt sich mit dem Rücken an eine Wand. Der Rucksack hält ihn aufrecht. Er horcht. Sirenen. Stecken im Verkehr fest. Wer versucht, vor denen wegzurennen, verliert garantiert. Sie werden ihn einkreisen und auf Verstärkung warten.

Sami muss von der Bildfläche verschwinden. Abtauchen. Er hat jetzt Geld – den Vorrat aus...