Fallen Angels - Die Begierde - Fallen Angels 4

von: J. R. Ward

Heyne, 2013

ISBN: 9783641100216 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 3,99 EUR

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Fallen Angels - Die Begierde - Fallen Angels 4


 

Eins

Grabesstille.

Und das nicht im Sinne von betretenem Schweigen, sondern im Sinne von Kreuzen und frisch geschaufelter Erde, Leichen in Särgen, Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Matthias lag nackt auf einem Grab. Mitten auf einem Friedhof, der sich um ihn herum ausdehnte, so weit das Auge reichte.

Sein erster Gedanke galt den Tattoos, die er seinen Männern damals aufgezwungen hatte, die mit dem Sensenmann auf einem Feld von Marmor- und Granitgrabsteinen.

Eigentlich scheißabsurd – und wer weiß, vielleicht würde er tatsächlich jeden Moment von einer Sense zersäbelt.

Von einer Sense zersäbelt, fast ein Zungenbrecher.

Er blinzelte, um das bisschen Sicht, über das er verfügte, klarer zu bekommen, zog fröstelnd die Beine an und schlang die Arme um den Körper, darauf wartend, dass die Szenerie vor ihm sich wieder in seine eigene Realität verwandelte. Als nichts passierte, fragte er sich, wohin die Wand, in der er eine Ewigkeit eingeschlossen gewesen war, verschwunden war.

War er endlich aus dem ekligen, engen Folterloch freigekommen?

War er nicht mehr in der Hölle?

Mit einem Stöhnen versuchte er, sich aufzurichten, aber es war schwer genug, überhaupt nur den Kopf zu heben. Andererseits – am eigenen Leib zu erfahren, dass diese ganzen religiösen Spinner in vielen Dingen recht gehabt hatten, konnte einen Mann schon von den Füßen holen: Sünder nahmen wirklich den Fahrstuhl nach unten, und zwar nach ganz unten, und wenn man dort ankam, dann ließ das Leiden den ganzen Mist, über den man sich auf der Erde aufgeregt hatte, wie einen Kindergeburtstag erscheinen.

Es gab einen Teufel.

Und ihr Wohnzimmer war scheiße.

Wobei die Frömmlinge nicht zur Gänze im Bilde waren. Satan hatte nämlich weder Hörner noch einen Schwanz und auch keine Mistgabel oder Pferdefüße. Eine miese Schlampe war sie hingegen schon, und sie trug wirklich gerne Rot. Dunkelhaarigen stand die Farbe aber auch einfach gut – zumindest redete sie sich das ein.

Mit dem linken Auge, dem funktionstüchtigen, blinzelte er erneut, darauf gefasst, dass jeden Moment die dichte, heiße Schwärze zurückkehrte, und mit ihr die Schreie der Verdammten und sein eigener Schmerz, der ihm beißend in der Kehle aufstieg und durch die aufgesprungenen Lippen gellte …

Nein, nichts passierte. Er lag immer noch auf einem Grab. Auf dem Friedhof.

Splitterfasernackt.

Er sah sich um und entdeckte eine Reihe von hellen Marmorgrüften und Familiengräbern mit Engeln und geisterhaften Marienstatuen, obwohl das Gängigste diese kümmerlichen, flachen Steintafeln am Grabende waren. Kiefern und Ahornbäume warfen Schatten auf welkes Frühlingsgras und schmiedeeiserne Bänke. Laternen erstrahlten in pfirsichfarbenem Licht wie Kerzen auf einem Geburtstagskuchen, und die gewundenen Wege, die den Friedhof durchzogen, hätten an jedem anderen Ort romantisch ausgesehen.

Nicht so hier. Nicht in diesem Todeszusammenhang.

Aus heiterem Himmel zogen Momente seines Lebens an seinem geistigen Auge vorbei, was ihn dazu veranlasste, sich zu fragen, ob er nicht vielleicht gerade einen zweiten Versuch im Sterben unternahm. Beziehungsweise einen dritten, wenn man es genau nahm.

Rückblickend gab es kein Friede, Freude, Eierkuchen. Kein liebendes Frauchen oder hübsche Kinder, keinen weißen Gartenzaun. Nur Leichen, Dutzende, Hunderte, deren Tod er selbst auf dem Gewissen oder in Auftrag gegeben hatte.

Er hatte in seinem Leben viel Böses getan, wahrhaft Böses.

Als er sich jetzt mühsam vom Boden hochstemmte, war sein Körper wie ein Bausatz, dessen Einzelteile nicht ganz zusammenpassten, bei manchen Verbindungen war zu viel Spiel, andere waren zu eng. Aber das kam eben davon, wenn man sich selbst in seine einzelnen Bausteine zerlegte und nur die Ärzteschaft und die eigenen Heilkräfte zur Verfügung hatte, um alles wieder zusammenzusetzen.

Er richtete die Augen auf den Grabstein und runzelte die Stirn.

James Heron.

Gütiger Himmel, James Heron …

Ohne sich darum zu kümmern, dass seine Hand zitterte, fuhr er die tief eingravierten Buchstaben nach, seine Fingerspitzen versanken in dem polierten grauen Granit.

Ein Röcheln entrang sich seinem Brustkorb, als hätte der Schmerz, den er urplötzlich empfand, sämtlichen Sauerstoff aus seiner Lunge gepresst.

Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es einen ewigen Lohn gab, dass die eigenen Taten gezählt und abgewogen wurden, dass auf den letzten Schlag des Herzens prompt ein Richterspruch folgte. Das war allerdings nicht der Grund für seinen Schmerz. Sondern das Wissen, dass er, selbst wenn er geahnt hätte, was ihn erwartete, nicht fähig gewesen wäre, irgendetwas anders zu machen.

»Es tut mir leid.« Mit wem genau sprach er da eigentlich? »Es tut mir verdammt noch mal leid …«

Keine Antwort erklang.

Er sah in den Himmel. »Es tut mir leid!«

Immer noch keine Antwort, aber das war in Ordnung. Seine Reue und sein Bedauern verstopften ihm komplett den Kopf, deshalb war für weiteren Input eh kein Platz.

Als er aufstehen wollte, gaben seine Beine nach, und er musste sich an dem Grabstein abstützen. Mein Gott, er war wirklich ein Wrack, seine Oberschenkel von Narben übersät, der Bauch ebenfalls, eine Wade fast vollständig vom Knochen abgerissen. Die Ärzte hatten mit ihren Schrauben und Platten wahre Wunder gewirkt, aber im Vergleich zu seiner ursprünglichen Verfassung war er jetzt wie ein kaputtes Spielzeug, das mit Gewebeband und Pattex geflickt worden war.

Tja, Selbstmord sollte eben am besten auch klappen. Schuld daran, dass er noch zwei Jahre weitergelebt hatte, war Jim Heron. Schließlich hatte der Tod ihn doch noch aufgespürt und für sich beansprucht und damit eindeutig bewiesen, dass die Erde sich die Seelen nur auslieh. Im Jenseits warteten die wahren Besitzer.

Aus Gewohnheit sah Matthias sich nach seinem Gehstock um, konzentrierte sich dann aber auf das, was er mit größerer Wahrscheinlichkeit entdecken würde: Schatten, die ihn holen kamen, entweder diese öligen Kreaturen von da unten oder die menschliche Variante.

So oder so war er geliefert: Als ehemaliger Kopf der X-Ops hatte er mehr Feinde als ein Diktator aus der Dritten Welt, und alle besaßen sie einen Arsch voll Waffen oder Handlanger mit Waffen. Und eins stand jedenfalls mal fest: Als aus des Teufels Spielplatz Ausgemusterter war er sicherlich nicht ohne einen Preis aus dem Gefängnis entlassen worden.

Früher oder später würde sich jemand an seine Fersen heften, und obwohl er nichts besaß, wofür es sich zu leben lohnte, verlangte allein schon sein Stolz, dass er sich nicht kampflos ergab.

Oder zumindest ein einigermaßen würdiges Zielobjekt abgab.

Er machte sich humpelnd und mit der Anmut einer Vogelscheuche auf den Weg. Sein Körper erbebte unter einer Serie von Krämpfen, es tat höllisch weh. Um sich warm zu halten, versuchte er, die Arme um sich zu schlingen, doch das ging nicht lange gut. Er brauchte sie, um das Schlingern auszugleichen.

Schlurfend wie ein Zombie und total verwirrt in seinem vermurksten Kopf, ging er weiter, überquerte das stachlige Gras, lief an Gräbern vorbei, spürte die kalte, feuchte Luft auf der Haut. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er freigekommen war. Wohin er unterwegs war. Welcher Tag, Monat, welches Jahr es war.

Kleidung. Unterschlupf. Essen. Waffen.

Sobald er sich um das Nötigste gekümmert hatte, könnte er sich Sorgen um den Rest machen. Vorausgesetzt, er würde nicht vorher erwischt – ein verwundetes Raubtier mutierte schnell zur Beute. Das war das Gesetz der Wildnis.

Als er an einen kastenförmigen Steinbau mit schmiedeeiserner Einfassung gelangte, dachte er zuerst, es handelte sich um ein weiteres Grabmal. Doch der Name Pine Grove Cemetery unter dem Giebel und das glänzende Vorhängeschloss an der Tür deuteten darauf hin, dass es ein Gebäude für das Friedhofspersonal war.

Zum Glück stand eines der hinteren Fenster einen Spaltbreit offen.

Natürlich klemmte das blöde Ding und saß bombenfest.

Er hob einen Ast auf, steckte ihn in den Spalt und stemmte sich dagegen, bis das Holz sich bog und seine Arme sich verkrampften.

Das Fenster gab nach, und ein hohes Kreischen ertönte.

Matthias erstarrte zur Salzsäule.

Panik, ein ihm ursprünglich fremdes, aber auf die harte Tour erlerntes Gefühl, ließ seinen Kopf herumschnellen und die Schatten absuchen. Das Geräusch kannte er. Die Helfershelfer der Dämonin erzeugten es, wenn sie sich jemanden vorknöpften …

Nichts.

Nur Gräber und Laternen, die sich – egal was seine Adrenalin produzierende Nebenniere ihm auch einreden wollte – nicht in etwas anderes verwandelten.

Also widmete er sich fluchend wieder seinen Bemühungen, das Fenster aufzubekommen. Er benutzte den Ast als Hebel, bis der Spalt breit genug war, um sich hindurchzuquetschen. Seinen schlaffen Hintern hochzuwuchten war ein ziemlicher Akt, aber als erst einmal die Schultern drinnen waren, ließ er die Schwerkraft den Rest erledigen. Der Betonboden, auf den er stürzte, fühlte sich an, als wären Kühlschlangen darin eingebaut. Er schnappte nach Luft, und seine Eingeweide verknoteten sich vor Schmerzen. Er...